von Dirk Laabs
mit freundlicher Genehmigung des Autors
zuerst erschienen am 24. Mai 2013 auf dem Blog debattiersalon
Viele der 72 Sitzungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages dauerten bis in die Nacht. Nachdem die Kameras vor der Eingangstür abgebaut waren und die Zeitungsreporter ihre Geschichten für den nächsten Tag längst abgesetzt hatten, blieben nur hartgesottene Beobachter auf der Zuschauer-Galerie sitzen, um auch noch den letzten Zeugen zu hören. Darunter meist ein Korrespondent des Neuen Deutschlands, ein MDR-Radioreporter, ein Anwalt der Witwe eines NSU-Mordopfers und Hajo Funke, Politologe aus Berlin. Funkes Fazit nach über einem Jahr Zeugenanhörungen bringt den zentralen Verdienst des Berliner Ausschusses auf den Punkt: „Wir wissen jetzt, wo wir suchen müssen.“ Die Frage ist jetzt allerdings: Wird weiter gesucht? Also: Wird es einen Ausschuss in der nächsten Legislaturperiode geben?
Manche Ausschussmitglieder feiern sich schon jetzt öffentlich als erfolgreiche Aufklärer – so Eva Högl von der SPD, die in der Tagesschau lächelnd sagte, sie sei „stolz“ auf ihre Arbeit und anfügt: „In beinahe eineinhalb Jahren hat er [der Ausschuss]ein außergewöhnliches Beispiel dafür gegeben, wie ein demokratischer Rechtsstaat auf ein schockierendes Ereignis wie dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle reagieren muss.“
Die Exekutive hat den Ausschuss routiniert vorgeführt
Tatsächlich konnten viele Komplexe von den Abgeordneten nur angerissen werden und wurden keinesfalls wirklich aufgeklärt. Der Ausschuss musste – das war schon noch wenigen Wochen klar –, an der Aktenmenge und Komplexität des Themas NSU scheitern. Nicht zuletzt, weil die Exekutive routiniert auf Zeit spielte, den Ausschuss phasenweise vorführte und das Versprechen von Kanzlerin Angela Merkel die rückhaltlose Aufklärung sicher zu stellen, ad absurdum führte, in dem Akten zurückgehalten wurden, diverse Zeugen plötzlich erkrankten oder sich an nichts mehr erinnern konnten. Auch mangelte es einigen Abgeordneten an der Vorkenntnis, wie ein Geheimdienst operiert und strukturiert ist.
Als Ergebnis ihrer Arbeit präsentierten manche Ausschussmitglieder, wie etwa Hartfrid Wolff von der FDP, lediglich Binsen: die Sicherheitsarchitektur Deutschlands habe „total versagt“. Für dieses Urteil hätte man keinen Ausschuss gebraucht. Der Umstand, dass der NSU unerkannt morden konnte und nie gestoppt worden ist, ist ja bereits der Beleg dafür, dass Polizei und Geheimdienste in diesem Punkt versagt haben. Die Frage ist nur: Warum haben sie versagt? Und wie genau?
Polizei und Geheimdienste hätten nicht effektiv genug kooperiert, so etwa Eva Högls Analyse, zudem sei der Rechtsextremismus von den Behörden „flächendeckend“ verharmlost worden. Das Problem: Diese Einschätzung ist zwar populär, deckt sich aber nicht mit der Beweisaufnahme des Ausschusses.
Es ist ein Fehler des Ausschusses gewesen, sich so spät intensiv mit dem BfV zu befassen
Erst am vorletzten Sitzungstag wurde deutlich: Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte eine eigene Abteilung, die rechtsradikalen Terrorismus bekämpfen sollte – ihr Kürzel: II2f. Diese Abteilung war von 1998 bis 2011 auch für die Jagd auf Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zuständig. Was genau diese Abteilung machte, was sie über das Trio wusste, all das konnte der Ausschuss bislang nicht klären. Noch darf er zwar Akten beiziehen, aber es ist unwahrscheinlich, dass hier bis zum September, wenn der Abschlussbericht vorgelegt wird, noch der große Durchbruch bevorsteht.
Es ist ein großer Fehler des Ausschusses gewesen, sich so spät intensiv mit dem BfV und dessen Struktur zu befassen. Bis kurz vor Schluss hatte der Ausschuss nicht einmal klären können, wie genau das BfV die militante rechte Szene bekämpft hat, mit welcher Abteilungen und mit welchen Personen – es lag schlicht kein Organigramm vor. Während vor allem das Thüringer Landesamt durchleuchtet wurde und zig ehemalige Verfassungsschützer aus Erfurt gehört wurden, blieb die Rolle des BfV nebulös. Das Bundesinnenministerium durfte selber entscheiden, welche Zeugen vom BfV geschickt werden. Erst am letzten Tag musste dann zwar die zuständige Leiterin der Abteilung „Rechtsradikaler Terrorismus“ aussagen – die konnte sich aber ohne Folgen dumm stellen und – siehe oben – am letzten Sitzungstag locker auf Zeit spielen.
Die Analyse stimmte, das Personal war bekannt, die V-Männer waren in Stellung – genutzt hat es nichts
Fakt ist: Zur Jahrtausendwende warnte das BfV explizit vor kleinen rechtsradikalen Zellen, die Terrorakte begehen könnten. Man war im BfV nicht auf dem „rechten Augen blind“, im Gegenteil: Man kannte die Szene so gut, dass man genau wusste, welche Figuren als V-Männer gewonnen werden mussten. Die Analyse stimmte, das Personal war bekannt, die V-Männer waren in Stellung – genutzt hat es nichts. Nur warum nicht?
An den beiden letzten Sitzungstagen des Ausschusses wurden so die eigentlichen Schlüsselfragen klar: Warum haben das BfV und andere Verfassungsschutzämter so viele Quellen an Schlüsselstellen der militanten Szene platziert, die Mitglieder des NSU praktisch umstellt und konnten die Morde trotzdem nicht verhindern? Warum verschwinden Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos genau in dem Moment vom Radar der Dienste, als die Mordserie losgeht? Immerhin lebten die drei jahrelang knapp 300 Meter von einer langjährigen BfV-Quelle entfernt in Zwickau – nachdem sie schon mit dem Morden begonnen haben sollen.
Die Frage drängt sich auf, ob das BfV die Quellen nicht nachhaltig genug nach dem Trio gefragt hat, weil man im Amt Angst hatte, dass es zu verdächtig wirken könnte, wenn die Quellen zu viele Fragen in Szene stellen. Man wollte die Quellen nicht verlieren, weil man die militanten Neonazis so fest im Griff zu haben glaubte.
Genau an diesem Punkt wurde von vielen Abgeordneten im Ausschuss oft nicht nachgefasst, weil sie eben davon ausgingen, alle Verfassungsschützer seien auf dem rechten Auge blind. Auch deshalb haben sie manchen Zeugen der Ämter zu leichtgläubig die präsentierte bornierte Dummheit abgekauft – oder sie kampflos hingenommen.
Die Zeugin N.
Viel Energie und Zeit verwendet der Ausschuss darauf, die Aktenvernichtung im BfV zu untersuchen – nur um auch hier vorgeführt zu werden. Ein Referatsleiter des BfV hatte am 11.11.2011 – eine Woche nach dem Auffliegen des NSU – Akten vernichten lassen, darunter Erkenntnisse von Thüringer V-Personen.
Das Bundesinnenministerium beauftragte einen Mann mit der Untersuchung des Falles, der ausgerechnet selbst jahrelang hochrangiges Mitglied des BfV war. Sein Bericht besagt im Wesentlichen, die Vernichtung der Akten sei ein unerklärliches Versehen gewesen, es sei jedoch „ausgeschlossen“, dass der Referatsleiter etwas vertuschen wollte, vielmehr sei es um überzogene Löschfristen gegangen. Das reichte. Der Fall verschwand wieder aus dem öffentlich Bewusstsein.
Am vorletzten Sitzungstag des Ausschusses fasste der Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) jedoch die Aussage einer Archivarin des BfV zusammen, die die Akten persönlich vernichtet hat, inzwischen krank geschrieben ist deshalb nicht in den Ausschuss kommen konnte. Sie musste deshalb von Edathy und einem CDU-Kollegen Zuhause angehört werden. Die Zeugin durfte einen Beistand hinzuziehen, sie entschied sich angeblich freiwillig für ihre Abteilungsleiterin aus dem BfV.
Die Zeugin berichtete trotzdem, so Edathy, dass sie mehr oder weniger überredet (man hatte den Eindruck: genötigt) worden ist, die Akten zu vernichten. Sie wiederholte mehrmals, dass eine solche Vernichtung so gut wie nie vorkäme und ihr zu keinem Zeitpunkt der Grund für die Beseitigung der Akten genannt wurde.
Der Medienzirkus ist schon weiter zum NSU-Prozess nach München gezogen
Als Ergebnis blieb genau das: Die Vernichtung war ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, Grund unbekannt. Löschfristen spielten keine Rolle. Der Bericht des Innenministeriums, dass die Vernichtung nur eine Versehen war und eine Vertuschung „ausgeschlossen“ werden könne, war also nichts weiter als Augenwischerei.
Über die verstörende Aussage der Verfassungsschützerin berichteten die Medien dann kaum mehr. Einige Beobachter fragten sich, ob ein solcher Vorgang – die Vernichtung von möglichen Beweismitteln – nicht ein Fall für die Staatsanwaltschaft wäre. Doch der Medienzirkus war schon weiter zum NSU-Prozess nach München gezogen – öffentlicher Druck wurde nicht mehr aufgebaut.
Der Ausschuss-Vorsitzende Sebastian Edathy antwortet in einem Interview auf die Frage nach dem tatsächlichen Hintergrund der Schredderei: „Meine Bewertung nach sehr umfangreicher Recherche ist die, dass man diese Frage nicht mit letzter Gewissheit beantworten kann. Es spricht etliches dafür, dass die Veranlassung der Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 ausgesprochener Dummheit entsprungen ist. Gänzlich ausschließen, dass bewusst Unterlagen vernichtet werden sollten, kann man zwar nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings höher, dass es sich um ein verantwortungsloses Bescheuertsein gehandelt hat. Was allerdings die Frage aufwirft, wie doof man sein kann, um dennoch im Bundesamt für Verfassungsschutz Referatsleiter werden zu können.“
Auch diese Analyse ist vollkommen unbefriedigend. Da werden eine Woche nach dem Auffliegen der NSU gezielt Akten von V-Männern zum Teil aus dem Umfeld des NSU vernichtet, die bis heute nicht komplett rekonstruiert werden können – und der Verfassungsschützer, der die Vernichtung angeordnet und gegen den Widerstand der Archivarin durchgesetzt hat, kommt mit der Ausrede davon, er habe aus Dummheit gehandelt.
Wurde eine Anwerbung einer der drei als Quelle vorbereitet oder erwogen?
Viel weitere Fragen sind noch offen, hier nur einige Beispiele:
- Ist im Apparat wirklich keine Meldung – spezifisch oder unspezifisch – nach dem ersten Mord der Serie aufgeschlagen, dass es eine rechte Terrorzelle irgendwo in Sachsen oder andernorts in Deutschland gibt?
- Warum wurde das Trio Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos in Thüringen kurz vor ihrem Untertauchen von Verfassungsschutz und Polizei gleichzeitig observiert? Wurde eine Anwerbung einer der drei als Quelle vorbereitet oder erwogen?
- Wissen die Parlamentarier den ganzen Hintergrund von allen relevanten V-Männern – wie lange und für wen sie gespitzelt haben? Sind alle Quellenberichte an den Ausschuss geschickt worden?
Sicher kann der Ausschuss vor allem beim letzten Punkt nicht sein. Das Versprechen des BfV-Präsidenten Hans-Georg Maaßen, dass ein Beauftragter des Ausschusses alle V-Mann-Akten des BfV einsehen darf, wurde nie erfüllt. Transparenz wurde vor allem vom BfV nur so lange vorgespielt, bis die Medien das Interesse verloren hatten.
Auch der Verdacht etwa, dass die militante Szene mit Hilfe der rechten V-Männer mit aufgebaut wurde, ist ebenfalls keinesfalls widerlegt. Im Gegenteil: Noch immer deuten Indizien darauf hin, dass ein V-Mann von einem Rechtsradikalen gebeten worden ist, dem Trio im Untergrund Waffen zu besorgen. Was aus der Bitte geworden ist, bleibt, wie so vieles, unklar.
Ob und wann genau einige der V-Männer gelogen und die Dienste desinformiert haben, ist ebenfalls noch lange nicht genau genug herausgearbeitet worden. Die pauschale Behauptung, wie mancherorts zu Hören, alle V-Leute hätte alle Dienste die ganze Zeit an der Nase herumgeführt und belogen, ist noch lange nicht belegt.
Das strategische Ziel ist klar: Bei 13.000 gewaltbereiten Nazis in Deutschland will man keinen Umbau des BfV
Der Ausschuss wurde von einigen Journalisten als „Sternstunde“ des Parlaments beschrieben – das ist also, leider, übertrieben. Die überparteiliche Zusammenarbeit hat fast immer funktioniert, das stimmt, die LINKE und die CDU haben kooperiert, das ist auf den ersten Blick überraschend, aber angesichts der Dimension des Verbrechens eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Und, ja, viele Abgeordnete haben informiert und bissig nachgefragt. Nur eben hat die Zeit nicht gereicht.
Die Ausschüsse in Sachsen und Thüringen erheben weiter Beweise, vor allem die Abgeordneten in Erfurt arbeiten sich sehr akribisch und chronologisch durch die Ereignisse. Für den überregionalen Medien ist das schon lange zu kleinteilig, obwohl dieser Ausschuss oft Antworten näher kommt, als der in Berlin.
Ob es einen weiteren NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages gibt, ist offen. Notwendig wäre er. Auch wenn die Medien das Interesse dann längst verloren haben werden und der zweite Ausschuss keine politische Karriere mehr beschleunigen wird.
Eine wirkliche Reform des BfV ist unwahrscheinlich – dafür hätte der Ausschuss viel tiefer in die Strukturen des Amtes eindringen und sie wirklich verstehen müssen. Das strategische Ziel der Exekutive ist klar: Bei 13.000 gewaltbereiten Nazis in Deutschland will man keinen Umbau des BfV, der die Enttarnung von Quellen nach sich ziehen und damit die aktuelle Arbeit gefährden könnte. Das BfV wird im Schatten weiter operieren können, eben weil das Amt noch immer nicht vom Parlament effektiv kontrolliert wird – und offenbar auch nicht effektiv kontrolliert werden soll.
Und wie lautet der Slogan des BfV, geprägt vom aktuellen Amtschef Maaßen? „Wir sind ein Dienstleister für Demokratie.“ Vielleicht glaubt der BfV-Präsident das sogar wirklich. Demokratische Mittel setzt das Amt jedoch bei dieser Dienstleistung nur sehr selten ein – die Täuschung des Parlaments gehört dabei schon eher zum Geschäft.
Dirk Laabs ist Journalist, Autor und Filmemacher aus Hamburg. Seine investigativen Arbeiten zum islamistischen und internationalen Terrorismus sind mehrmals mit Preisen ausgezeichnet worden. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Der deutsche Goldrausch – die wahre Geschichte der Treuhand“. Den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages hat er regelmäßig beobachtet.