November 2013: Zwischenresümee des Projektes NSU-watch

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Unser Netzwerk entschloss sich 2012, die Unabhängige Beobachtungsstelle „NSU-watch“ zum 1. April 2013 zu gründen und unserer gemeinsamen Arbeit am Thema einen formellen Rahmen zu geben, mit dem wir den Anforderungen des Prozesses begegnen könnten. Uns war die Notwendigkeit, aber auch die Verantwortung, die dieses Projekt haben würde, durchaus bewusst. Das Ganze kam uns manchmal doch eine Nummer zu groß vor und wir waren darauf vorbereitet, an Punkten zu scheitern, unseren Ansprüchen und den Ansprüchen von Außen nicht zu genügen. Nun, nach einem halben Jahr intensiver Prozessbegleitung, haben wir beim letzten Netzwerktreffen unsere Arbeit bilanziert. Dieses Zwischenresümee fällt trotz einiger Abstriche überaus positiv aus. Es wird einige Neuerungen geben (sie sind im Text kursiv geschrieben). Die größte ist die Einstellung der Übersetzung der Protokolle auf Englisch – aus finanziellen, aber auch aus pragmatischen inhaltlichen Gründen.

Wer ist NSU-Watch?
NSU-Watch wird von einem Bündnis getragen, das aus rund einem Dutzend antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet besteht, die seit über einem Jahrzehnt zum Themenkomplex arbeiten. Aufgrund der Intensität der Prozessbeobachtung und der langen Dauer des Prozesses wurden mit den eingegangenen Spendengeldern zwei halbe Stellen (Beobachtung München und Koordination Berlin) geschaffen und Übersetzer_innen bezahlt, die die Protokolle auf Türkisch und Englisch übersetzen. Darüber hinaus gibt es noch einen Minijob in München für die Koordination vor Ort. Alle weiteren an NSU-watch beteiligten Personen arbeiten ehrenamtlich. Der Personenkreis umfasst rund zwei Dutzend Menschen.

1. Prozessbeobachtung
Der Kern der Arbeit von NSU-watch ist die Beobachtung des Strafprozesses gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger G., André E. und Carsten Sch. am OLG in München. Auch ohne eigene Platzreservierungskarte ist es uns dank der Unterstützung befreundeter Journalist_innen gelungen, an jedem einzelnen Tag den Prozess in voller Länge verfolgen zu können. Ein fester Mitarbeiter (und oft auch ein oder mehrere Engagierte aus dem Netzwerk) sitzt auf der Pressetribüne und schreibt mit. Aus dieser Mitschrift, die meist 30-40 Seiten umfasst, erstellt er ein lesbares Protokoll, das von der zweiten halben Stelle, der Koordination in Berlin, nachbearbeitet und auf dem Blog veröffentlicht wird. Die Mitarbeiterin in Berlin koordiniert auch die Übersetzung der Protokolle und Texte durch einen Pool mehrerer Übersetzer_innen.
Die Protokolle haben in erster Linie dokumentarischen Wert und sollen es anderen Menschen ermöglichen, zum Thema zu arbeiten. Ihr Wert ist die Detailliertheit und die Beschränkung auf Fakten, die sie von der derzeit noch guten Berichterstattung in den Medien unterscheidet und sie einzigartig und unverzichtbar machen. Während in der Presse unter Umständen auch Fehlinterpretationen des Prozessgeschehens kolportiert werden, ist NSU-watch bisher sehr erfolgreich mit seinem Konzept. Dass immer mal Details auch hier fehlen können, die sich später als relevant herausstellen, ist leider nicht zu vermeiden.

Ca. alle drei Wochen werden Zusammenfassungen des Prozessgeschehens, nach Themen gegliedert, veröffentlicht. Hier geben wir uns auch Raum für Bewertungen.

2. Kontextualisierung unseres Wissens über Neonazis
NSU-watch als Projekt von antifaschistischen und antirassistischen (Recherche-)Gruppen hat Zugang zu umfangreichem Wissen über die neonazistische Szene und die im NSU involvierten Strukturen. Dabei nimmt die Vernetzung von kompetenten antifaschistischen Projekten und Einzelpersonen auch mit Anwält_innen der Nebenklage und die Erarbeitung gemeinsamer Einschätzungen und Expertisen einen großen Stellenwert in unserer Arbeit ein.

Schon am Tag des Prozessauftaktes konnte NSU-watch mit dieser Kompetenz die Öffentlichkeit für neonazistische ProzessbesucherInnen sensibilisieren. Dass Nazis zum Prozess kommen und um wen es sich handelt, wird weiterhin in der Öffentlichkeit thematisiert, was dem Projekt zu verdanken ist, da wir kontinuierlich darüber informieren. Auch die Presse nimmt uns hier als kompetente Ansprechpartner_innen wahr.

Negativ bilanzieren wir, dass die Prozessbeobachtung in unseren eigenen Strukturen sehr viel Raum einnimmt und auch wir nur selten dazu kommen, gemeinsam politische Einschätzungen zu diskutieren geschweige denn zu veröffentlichen.

Neben den Protokollen der Verhandlungstage ist die Vermittlung von Wissen über Neonazis und den NSU zentrale Aufgabe unserer Arbeit. Hintergrundartikel zum NSU, Rechercheergebnisse und Zweitveröffentlichungen von ausgewählten Artikeln werden im Durchschnitt ein- bis zweiwöchentlich auf dem Blog veröffentlicht.

3. Resonanz des Projektes
Außenwirkung allgemein:
NSU-watch hat relativ viel Resonanz erhalten. In Presseberichten, aber auch in Gesprächen mit Jounalist_innen, Vertreter_innen der Nebenklage und interessierten Menschen aus unserem Umfeld wurde deutlich, dass unsere Arbeit vielen bekannt ist und wertgeschätzt wird. Das Projekt bekommt auch von uns unbekannten Personen positive Zuschriften per Email, aber auch vereinzelt Hassmails.

Ein besonderes Highlight der Anerkennung unserer Arbeit war die Verleihung des Medienprojektpreises 2013 durch die Otto-Brenner-Stiftung im November diesen Jahres. Die Auszeichnung, zu der ihr ->hier mehr erfahren könnt, war dotiert mit 2000,- Euro, die vollständig in die Finanzierung des Projektes fliessen.

Zugriffszahlen auf den Blog:
Immer wenn Prozesstag ist, gehen die Zugriffszahlen nach oben.
Deutsche Zugriffszahlen auf die Seite liegen derzeit bei 450-700 Zugriffen täglich.
Die deutschen Protokolle werden 350-1.000 Mal gelesen, türkische und englische nur 10-60 Mal.

Die meisten Zugriffe sind direkte Zugriffe. Auf Google ist, wenn man „NSU“ eingibt, (abgesehen von den Motorenwerken und der amerikanischen Universität) NSU-watch an zweiter Stelle hinter den redaktionellen News platziert.

Mit den Zugriffszahlen auf die deutschen Protokolle und Artikel sind wir zufrieden, auch wenn wir hier noch Steigerungspotenzial, vor allem für weitere Hintergrundberichte etc. sehen. Die Zugriffszahlen auf die türkisch- und englischsprachigen Texte bleiben hinter unseren Erwartungen zurück. Dennoch ist für uns der politische Wert vor allem der türkischsprachigen Übersetzungen hoch. Wir denken, wir haben hier das Potenzial der türkischsprachigen Leser_innenschaft bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

→ Unsere türkischsprachigen Mitarbeiter_innen und Freund_innen werden in nächster Zeit gezielt türkischsprachige Presse und Netzwerke ansprechen, um NSU-watch bekannter zu machen. Nicht nur, um die Zugriffszahlen zu erhöhen, sondern auch in der Hoffnung, dass sich ein Austausch in türkischsprachige Communities und zu Publikationen (Zeitungen und Blogs) intensiviert.

Für die englischsprachigen Übersetzungen der Protokolle ergibt sich das Problem, dass es kaum Hintergrundberichte und Prozessberichterstattung auf Englisch gibt. Dadurch erschließen sich die detaillierten Protokolle für nur englischsprachige Leser_innen nicht, da sie kaum Zugriff auf Hintergrundinformationen haben.

→ Wir haben auch aus finanziellen Gründen beschlossen, die Übersetzungen der Protokolle auf Englisch einzustellen. Zusammenfassungen und ausgewählte Hintergrundartikel werden wir weiterhin auf ehrenamtlicher und Honorarbasis übersetzen lassen.

twitter:
NSU-watch betreibt den Twitter-Account (@nsuwatch), der inzwischen weit über 3.400 Follower hat, was beachtlich ist. Dort werden einerseits automatisiert neu erschienene Presseartikel zum NSU und Blogbeiträge der NSU-Nebenklage veröffentlicht, andererseits berichten wir dort aus dem Prozess, und weisen auf Nachrichten aus dem Themen-Komplex hin. Diese Tweets (wie z.B. dass wir unter Umständen die ersten oder einzigen waren, die auf Twitter an den Todestag eines NSU-Mordopfers gedachten) werden teilweise bis zu 65 Mal retweetet. An Prozesstagen abonnieren ca. 10 neue Follower pro Tag den Account, darunter bemerkenswert viele, die auch auf türkisch und/oder englisch twittern.
Der Twitter-Account kann als der wichtigste Account zum Thema gewertet werden.

Facebook:
Die facebook-Seite von NSU-watch (https://fb.com/nsuwatch) wird inzwischen wieder automatisiert gefüllt.

Interviewanfragen:
NSU-watch hat seit kurz vor Beginn des Prozesses Dutzende von Interviews gegeben. Manchmal geht es um O-Tönen für Artikel zum Thema, oft sind es aber auch Berichte über unsere eigene Arbeit. Gerade in Radios geben wir regelmäßig Einschätzungen zum Prozessgeschehen und werden hier als kompetente Gesprächspartner_innen und Expert_innen angefragt, auch Fernsehinterviews hat es vereinzelt gegeben.

Veranstaltungsanfragen:
NSU-watch und seine Vertreter_innen sind spätestens seit Bestehen der Unabhängigen Beobachtungsstelle gefragte Referent_innen für Bildungs- und Diskussionsveranstaltungen. Diese Arbeit läuft nicht im Rahmen der Stellen, ist aber ein Indikator für die Resonanz und das Standing, die das Projekt und seine Mitarbeiter_innen aufgrund der geleisteten Arbeit in der Öffentlichkeit haben. Nach unserer Einschätzung hat NSU-watch den Kreis der Anfragenden vor allem in ein bürgerliches parteiennahes Spektrum und in ein professionelles journalistisches Spektrum erweitert. Dennoch finden weiterhin die meisten Veranstaltungen bei antifaschistischen Projekten und Initiativen statt.

4. Finanzielle Situation
NSU-watch ist politisch und finanziell unabhängig und finanziert sich ausschließlich über Spenden von Einzelpersonen oder Organisationen und Stiftungen, die keinerlei Einfluss auf unsere Arbeit nehmen können.

Einnahmen:
Um das Projekt NSU-watch zu finanzieren, haben wir uns ab Ende 2012 gezielt an diverse Stiftungen, befreundete Institutionen sowie durch einen Spendenaufruf im Internet an private Einzelspender_innen gewandt. Insgesamt sind dadurch bis Ende November 2013 rund 38.000 Euro zusammen gekommen. Von den privaten Einzelspender_innen kam der größte Anteil mit etwa drei Viertel der Spenden. Das restliche Viertel wurde zur Hälfte von Stiftungen eingeworben, die andere Hälfte brachten die an NSU-watch beteiligten Projekte selber ein.

Ausgaben:
Dieses Geld wird bis zum März 2014 aufgebraucht sein. Bei den Ausgaben fallen vor allem zwei halbe Stellen für die Prozessbeobachter_innen in München und Berlin ins Gewicht. Ein weiterer Kostenfaktor sind die Honorare für die Übersetzungen ins Türkische und Englisch, die schon jetzt mehrere Tausend Euro betragen. Neben den eigentlichen Personalkosten haben wir Kosten für die nötige Infrastruktur (Technik wie Laptop und Handys), für die Reisen nach München und Mietkosten für den Kollegen, der während der Prozesswochen vor Ort ist und protokolliert.

Jeder einzelne Prozesstag bis zur Sommerpause – das waren insgesamt 32 Tage – hat uns im Durchschnitt rund 750 Euro gekostet. In dieser Summe sind nicht die Kosten allein an diesem einen Tag enthalten, sondern die gesamte Bereitstellung der Infrastruktur und Personalkosten umgerechnet auf einen Tag.

5. Ausblick
Die Arbeit von NSU-watch, wie sie jetzt strukturiert und organisiert ist, ist aus unserer Sicht und auch aufgrund der positiven Resonanz von Außen sinnvoll und wir wollen sie in dem Umfang auch 2014 weiterführen. Abgesehen von der Einstellung der Übersetzung der Protokolle auf Englisch sehen wir keine Einsparungsmöglichkeiten. Um die eigenen Einschätzungen und Hintergrundrecherchen der beteiligten Projekte gewährleisten zu können, ist die Sicherung der Grundlagenarbeit von Prozessbeobachtung und Koordination der Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit durch die halbe Stelle in Berlin zwingend notwendig, da schon jetzt ein Großteil der zusätzlichen Arbeit rein ehrenamtlich geleistet wird. Kontakte mit türkischsprachigen Medien und Resonanz in den Communities werden in den kommenden Monaten durch unser Netzwerk hoffentlich ausgebaut werden können.

Um die Unabhängigkeit von NSU-watch zu sichern, werden wir auch weiterhin auf die Akquise von Spenden durch Privatpersonen und nicht-staatliche Stiftungen setzen.

Zur Gründung von „NSU-Watch: Aufklärung und Einmischen“ ist eine Pressemitteilung auf deutsch hier und hier auf türkisch erschienen.