Über die Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex, den Gerichtsprozess in München und Erwartungen an den NRW-Untersuchungsausschuss sprachen wir mit dem Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer. Er vertritt vor dem Oberlandesgericht München die Nebenklägerin Gamze Kubasik, Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik.
Erschienen in LOTTA – antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen Nr. 56
Im Zusammenhang mit dem NSU sind etliche Neonazis als sogenannte V-Leute, also bezahlte Spitzel der Geheimdienste, aufgeflogen. Welche Rolle spielten V-Leute für die Entwicklung der militanten Neonazi-Szene?
Bislang gehen wir insgesamt von mindestens 42 V-Männern und V-Frauen im Umfeld des NSU aus, was eine eklatant hohe Zahl ist. Darunter sind sicherlich einige, die unwichtiger waren und mehr am Rande in Erscheinung getreten sind. Andere aber besetzten gravierende Schlüsselrollen. Zum Beispiel Tino Brandt, der sagt, dass er vom Verfassungsschutz um die 200.000 DM für seine Informationen bekam. Dieses Geld will er nahezu vollständig in den Aufbau von Neonazi-Strukturen gesteckt haben. Dies hat natürlich die Neonazi-Szene, die Anfang der 1990er Jahre noch weitestgehend unstrukturiert war, in die Lage versetzt, sich aufzubauen, sich zu vernetzen und zu wachsen. Und das nicht zuletzt durch Geld vom Verfassungsschutz und auch mit dem Wissen der verschiedenen V-Leute, dass nicht gegen sie vorgegangen wird, wenn sie bestimmte Dinge sagen oder tun, weil sie dann auffliegen könnten. Es galt klar der Grundsatz: Quellenschutz vor Strafverfolgung.
Eine V-Person der Polizei hat im November 2011 ausgesagt, er habe 2006, wenige Tage vor dem Mord in Dortmund, den Neonazi und ehemaligen V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutz Toni Stadler in Begleitung von Uwe Mundlos gesehen. Was ist davon zu halten? Wie viel wusste der Verfassungsschutz?
Also die Frage ist berechtigt und die stelle ich mir auch. Wir haben natürlich das Problem, dass der Verfassungsschutz sich Leute sucht, die bereit sind, ihre eigenen Leute zu verraten, diese V-Leute also in der Regel auch schwierige Charaktere sind. Nicht alles, was sie heute erzählen, muss dem entsprechen, was sie damals wussten. Daher sind solche Aussagen unheimlich schwer einzuordnen. Wir brauchen im Grunde genommen für alle Informationen immer eine Gegenbestätigung. An vielen Stellen haben wir die auch, da gibt es objektive Fakten. Der geschilderte Fall von Stadler ist bislang allerdings weder bestätigt noch widerlegt.
Festhalten kann man aber, dass der Verfassungsschutz, zumindest in Thüringen, ziemlich früh wusste, dass das NSU-Kerntrio in Sachsen, in Chemnitz, untergetaucht war. Jedenfalls mussten sie davon ausgehen, und sie hätten, wäre wirklich mit Nachdruck ermittelt worden, die drei auch finden können.
Allenthalben ist von mangelhafter Kooperation der Geheimdienste untereinander die Rede und von einer föderalistischen Struktur, die einen Austausch von Informationen erschwert habe. Kann das als Erklärung für das „Behördenversagen“ herhalten?
Nein. Aber es ist natürlich praktisch, wenn man jetzt rückblickend eine fehlende Vernetzung der Sicherheitsbehörden behauptet und daraus schlussfolgert, man brauche nun unbedingt noch mehr Informationsaustausch und Überwachungsmöglichkeiten. Doch die Erklärung bleibt falsch. Die Verfassungsschutzämter hatten in den Neonazi-Strukturen sehr viele V-Leute und wussten eigentlich ganz gut Bescheid. Sie haben diese Informationen auch regelmäßig an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergegeben. Dort waren sie vernetzt. Ich glaube, sie hatten das Gefühl, die Neonazis durch ihre V-Leute gut kontrollieren zu können. Und möglicherweise hatten einzelne in der Neonazi-Szene ebenfalls das Gefühl, sie könnten durch die selektive Weitergabe von Informationen den Verfassungsschutz und die Sicherheitsbehörden kontrollieren. Darin lag das Problem.
Hat der Münchener Prozess neue Erkenntnisse zum V-Leute-System geliefert?
Es gab natürlich schon vorher Erkenntnisse aus den Untersuchungsausschüssen. Insbesondere der Bundestagsuntersuchungsausschuss hatte allerdings relativ wenig Zeit und nur ein begrenztes Maß an Beweismitteln zur Verfügung. Da sind wir schon weiter, aber noch lange nicht am Ende. Wir haben in München die Möglichkeit, nicht nur die V-Leute, sondern auch das komplette Neonazi-Umfeld als Zeugen zu vernehmen. Diese Zeugen sind zwar regelmäßig nicht besonders aussagefreudig. Trotzdem können wir so ihre Strukturen besser verstehen und aufklären. Das ist auch eines der größten Anliegen meiner Mandantin, weil sie sagt: Ich glaube nicht, dass es nur diese drei untergetauchten Jenaer Neonazis waren, sondern es muss eine größere Struktur gegeben haben, die auch vor Ort Hilfe zu den Morden geleistet hat. Und sie will wissen, wer noch für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist.
Kann der Prozess in München denn überhaupt zur Aufklärung des Behördenhandelns und staatlicher Verstrickungen beitragen?
Man kann es zumindest versuchen. Allerdings ist es nicht immer einfach, das Behördenhandeln in dem Prozess zu thematisieren. Denn es sitzt ja nicht der Verfassungsschutz auf der Anklagebank, sondern fünf Angeklagte, denen relativ konkrete Taten vorgeworfen werden. Vom Umfang dieser Anklage ist natürlich auch das Prozessgeschehen rechtlich begrenzt. Nun ist die Anklage aber sehr umfangreich und umfasst viele Punkte, in denen es um ideologische Inhalte und Strukturen der Neonazi-Szene geht – und daher ist die Rolle der Geheimdienste immer wieder ein Thema. Am Ende wird aber kein Urteil gesprochen werden, das die Tätigkeit von deutschen Behörden unter strafrechtlichen Gesichtspunkten würdigt.
Spielt die Vernichtung oder Zurückhaltung von Akten im Prozess eine Rolle?
Das Problem fängt schon damit an, dass wir lange nicht alle noch vorhandenen Akten bekommen. Daher können wir auch nicht sagen, welche vernichtet wurden und welche nicht. Das Verfahren in München führt als Anklagebehörde die Bundesanwaltschaft. Sie hat ein sehr eigenes Verständnis davon, was sie den Verfahrensbeteiligten an Informationen zugänglich macht und was nicht. Eigentlich ist es so, dass in Strafprozessen alle Verfahrensbeteiligten alles wissen müssen, was in den Akten steht, um damit dann gegebenenfalls im Prozess argumentieren zu können. Die Bundesanwaltschaft hat das Verfahren aber künstlich aufgespalten und hortet große Mengen Akten in Verfahren gegen Unbekannt oder andere Personen. Dort werden dann Aussagen und Vermerke weggeheftet, die wir nicht sehen können und wohl auch nicht sehen sollen, und die wir wahrscheinlich auch nie zu Gesicht bekommen werden. Insofern besteht nicht nur ein Problem von Aktenvernichtung, Schreddern und Vertuschung durch die Geheimdienste, sondern auch das Vorgehen der Bundesanwaltschaft ist äußerst problematisch.
Das ist auf der Ebene des Prozesses. Welche Strategien verfolgen die Geheimdienste in Hinblick auf die Bemühungen um Aufklärung?
Wir haben eine völlig absurde Situation. Die verantwortlichen Mitarbeiter der Geheimdienste haben massiv versucht, die Arbeit der Untersuchungsausschüsse, insbesondere des Bundestags-UA, zu blockieren. Akten wurden geschreddert, Informationen zurückgehalten oder zu spät übersandt, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, die vor den Untersuchungsausschüssen aussagen sollten, haben gemauert. Aber dennoch gehe ich im Moment davon aus, dass die Geheimdienste, insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, faktisch gestärkt aus dem Skandal heraus gehen, weil der Ruf nach mehr Kompetenzen und nach mehr Mitteln gehört wird. Das ist schon schräg, da genau diese Behörden mitverantwortlich sind für die Jahre andauernde Mordserie – und sie die Täterinnen und Täter nicht aufgehalten haben.
Welche Konsequenzen müssten Ihres Erachtens gezogen werden?
Meines Erachtens gehören die Verfassungsschutzbehörden, wie sie heute bestehen, abgeschafft. Das V-Leute-System hat nicht nur versagt, weil es nicht zum Auffinden des Trios geführt hat. Es hatte auch zur Folge, dass sich die Neonazi-Szene besser vernetzen, strukturieren und aufbauen konnte. Das kann natürlich nicht das Ziel sein. V-Leute bringen zumindest in dieser Form nichts. Wir brauchen auch keine bessere Ausstattung oder gar mehr Kompetenzen von Verfassungsschutzbehörden.
Wie ist die Sicht Ihrer Mandatin Gamze Kubasik auf den bisherigen Verlauf des Münchener Prozesses?
Frau Kubasik nimmt nicht an jedem Prozesstag teil, da es nicht jeden Tag um den Fall in Dortmund, den Mord an ihrem Vater geht. Aber sie ist immer vor Ort, wenn es aus ihrer Sicht besonders wichtige Verhandlungstage sind. Sie nimmt wahr, dass das Gericht bemüht ist, aufzuklären. Diesen Eindruck teile ich im übrigen, weil bislang auch vielen unserer Anträge nachgegangen wird. Sie sieht aber auch, dass die Bundesanwaltschaft versucht, einer umfassenden Aufklärung entgegen zu wirken. Und darüber ist sie sehr erstaunt, weil ihr immerhin auch von der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten persönlich in die Hand versprochen wurde, dass eine vollständige Aufklärung erfolgt. Was ad absurdum geführt wird, wenn uns gleichzeitig wesentliche Akten und Zeugenaussagen vorenthalten werden.
Welche Erwartungen setzen Frau Kubasik und Sie in den im Herbst startenden Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags, bei dem auch die Ermittlungen in Dortmund eine Rolle spielen werden?
Im Kiosk von Mehmet Kubasik, der am 4. April 2006 erschossen wurde, war gut sichtbar eine Videokamera installiert, die aber nicht funktionierte, was die Täter offenbar wussten. Die Straße, in der der Kiosk war, wurde dort eigentlich nur von ortskundigen Dortmundern genutzt, der Kiosk im übrigen auch. Deswegen geht Frau Kubasik davon aus, dass es bislang noch unbekannte weitere Mittäter gab, die auch den Ort vor der Tat ausgekundschaftet haben. Dortmund hat eine sehr große und aktive Neonazi-Szene, doch bislang sind keinerlei Ermittlungen nach lokalen Helfern angestellt worden. Sie erhofft sich von dem Untersuchungsausschuss in NRW, dass dies nun nachgeholt wird. Die Ermittlungsbehörden haben auch an diesem Punkt bislang versagt.
Eine andere Frage betrifft das Wissen, welches der NRW-Verfassungsschutz und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz über die Anschläge in Köln und den Mord in Dortmund hatten. Es ist ja so, dass nach dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße durchaus auch vom Verfassungsschutz thematisiert wurde, dass es sich bei Tätern um Neonazis handeln könnte, die nach dem Vorbild von Combat 18 agierten. Überprüft worden sind aber nur Neonazis aus dem Raum Köln, die Erfahrung mit Sprengstoff hatten. Hätte man diese Überprüfung ausgedehnt, wäre relativ sicher auch das NSU-Kerntrio – was ja immerhin nach dem Fund von selbstgebauten Bomben auf der Flucht war – mit ins Netz gegangen und der Mord 2006 hätte so möglicherweise verhindert werden können.
Der Untersuchungsausschuss sollte sich natürlich auch um den Anschlag in der Probsteigasse kümmern. Dort liegen ja relativ klare Anhaltspunkte dafür vor, dass es zumindest einen weiteren Täter gab. Das sind alles Punkte, die aufgeklärt werden müssen. Da kann ein Untersuchungsausschuss andere Ansätze bieten als der Gerichtsprozess.
Das Interview führte Johannes Hartwig