Deutsche Behörden wollen trotz aller Erkenntnisse an dem Glaubenssatz des neonazistischen Einzeltäters festhalten. Damit wird die Aufklärung der Taten behindert und die Aufdeckung der weiterhin aktiven Nazistrukturen unterbleibt.
Am 26. September 1980 tötete ein Sprengsatz am Haupteingang des Oktoberfestes in München 13 Menschen; 211 Erwachsene und Kinder wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Für das bayerische Landeskriminalamt und den Generalbundesanwalt galt der beim Attentat ebenfalls getötete Bombenleger Gundolf Köhler von Anfang an als Einzeltäter – trotz seiner Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann und trotz zahlreicher Indizien und Zeug_innenaussagen, die auf weitere Beteiligte an dem schwersten Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik hindeuten.
Zeitgleich zum 34. Jahrestag des Attentats hat nun der Nebenklägervertreter Werner Dietrich einen Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungen beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe gestellt – unter Verweis auf eine Zeugin, die am Tag nach dem Oktoberfestattentat im Schrank eines Neonazis Waffen und gedruckte Nachrufe auf Gundolf Köhler entdeckt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Köhlers Name noch nicht veröffentlicht worden. Die Zeugin wandte sich an die Polizei und wurde dort aber abgewiesen.
Das Netzwerk ist nicht unbekannt
Die Reaktionen aus dem Büro des Generalbundesanwaltes auf den Wiederaufnahmeantrag von Rechtsanwalt Dietrich klingen auf fatale Weise bekannt: Man wolle die neuen Spuren »sorgfältig prüfen und etwaigen Ermittlungsansätzen nachgehen«. Mit beinahe wortgleichen Verlautbarungen reagierten die Ermittlungsbehörden bis zum Prozessbeginn vor dem OLG München auf die zahlreichen Hinweise darauf, dass es sich beim Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) nicht um ein abgeschottetes Trio handelt, sondern um ein neonazistisches Netzwerk, in dem zwei Dutzend neonazistische Aktivistinnen und Aktivisten unterschiedliche Aufgaben übernahmen. Oder anders gesagt: Der Generalbundesanwalt tut alles, um den jahrzehntelang in Stein gemeißelten Glaubenssatz deutscher Sicherheitsbehörden nicht in Frage zu stellen: Wenn Neonazis bomben und morden, dann müssen sie immer Einzeltäter sein – völlig egal, wie viele Helferinnen und Helfer, Mitwisser und Mitwisserinnen, Unterstützerinnen und Unterstützer sie hatten – und haben.
Und so, wie seit 34 Jahren die überlebenden Opfer des Oktoberfestattentats und ihre Anwält_innen vergeblich versuchen, diese Mauer der Einzeltäter-Theorie in den Köpfen von Polizei und Justiz zum Einsturz zu bringen, so mühen sich die überlebenden Opfer der NSU-Bombenanschläge und die Angehörigen der Ermordeten seit dem 4. November 2011 darum, dass der Generalbundesanwalt (GBA) und das Bundeskriminalamt (BKA) die Realität zur Kenntnis nehmen – und vom »Trio-Konstrukt« mit den vier angeklagten Unterstützern am OLG München abrücken. Denn niemand kann angesichts der zahlreichen Aussagen von Helferinnen und Helfern von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bei Vernehmungen durch Polizei und Justiz ernsthaft behaupten, man kenne die UnterstützerInnen des untergetauchten Trios nicht. Im Gegenteil: Sie sind vom BKA ermittelt und vernommen worden und dementsprechend dem Generalbundesanwalt gut bekannt, so wie beispielsweise Mandy Struck, Andre Kapke, Thomas Starke, Thomas Rothe, Max-Florian Burkhardt, Matthias Dienelt, Susan Eminger und Hendrik Lasch.
Unwillig zu ermitteln
Doch seit der Fertigstellung der Anklageschrift gegen Zschäpe, Wohlleben, Eminger, Gerlach und Schultze am 5. November 2012 scheint es für Generalbundesanwaltschaft und BKA kaum mehr prioritär, das gesamte Netzwerk der UnterstützerInnen zu ermitteln. Nur so lässt es sich erklären, dass zentrales Beweismaterial wie die Festplatten, auf denen u.a. der Inhalt der vom Trio installierten Überwachungskameras an der Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße 11 verzeichnet ist, nicht präzise ausgewertet wurde. Denn dann hätten die Ermittler beispielsweise Matthias Dienelt damit konfrontieren müssen, dass er sie schlicht angelogen hatte, als er behauptete, kaum mehr Kontakt zum Trio gehabt zu haben, nachdem er jene Wohnung für Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt angemietet hatte. Schließlich zeigen die rekonstruierten Bilder eine herzliche Verabschiedung von Matthias Dienelt vor der Wohnungstür der Frühlingsstraße 11 im Dezember 2010.
Und sie hätten auch der Frage intensiver nachgehen müssen, was es mit der Rolle von Ralph H. im Netzwerk des NSU auf sich hatte, mit dessen Personalausweis im Februar 1999 eine Wohnung in der Cranachstraße 8 in Chemnitz angemietet worden war. Genau diese Wohnadresse und der Name von Ralph H. wurde dann bei der Bestellung von Ausrüstungsgegenständen im Februar und März 1999 beim Jagdausrüster Frankonia im Wert von insgesamt mehreren tausend Euro angegeben – darunter einem über 1.000 Euro teuren Nachtsichtgerät, einem Abwehr-CS-Spray und einem Multifunktionstool. Kaum überraschen dürfte angesichts von Ralph H.’s guten Verbindungen zur Chemnitzer B&H-Gruppe rings um Thomas Starke und Jan Werner, dass diese Gegenstände nicht bezahlt wurden – und dann im November 2011 im Brandschutt der Zwickauer Frühlingsstraße auftauchten. Wie schon so oft im Verfahren vor dem OLG München blieb es an den Nebenklagevertreter_innen hängen, einen entsprechenden Beweisantrag [vgl. 140. Verhandlungstag, 19. September 2014] zu stellen.
In das Bild wenig engagierter Ermittlungsbehörden reihen sich dann auch die Informationen rings um den Tod des neonazistischen V-Mannes Thomas Richter alias HJ Thommy alias Corelli ein. Zwar hatte die Staatsanwaltschaft Paderborn nach dessen Tod Anfang April 2014 im Schutzprogramm des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) im Rahmen eines Todesermittlungsverfahrens eine Funkzellenabfrage rings um das mutmaßliche Todesdatum veranlasst. Doch das BKA behauptet allen Ernstes auch mehr als ein halbes Jahr später, die dabei gewonnenen Nummern noch nicht ausgewertet und eine offensichtlich nicht beim BfV arbeitende Kontaktperson Corellis auch noch nicht vernommen zu haben.
Der Mythos vom »Trio«
Die Erzählung und der Mythos vom NSU als einem isolierten »Trio«, auf die sich GBA, BKA und die Geheimdienste seit dem 4. November 2011 geeinigt haben, ist so wirkmächtig, dass insbesondere die Rolle der GBA kaum mehr öffentlich problematisiert wird: Das beginnt mit der bemerkenswerten Entscheidung, gegen die bekannten UnterstützerInnen nicht nach §129a wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu ermitteln. Und setzt sich fort in dem demonstrativen Desinteresse an einer Strafverfolgung weiterer NSU-UnterstützerInnen, dabei haben all die bekannten Helferinnen und Helfer des mutmaßlichen NSU-Kerntrios schon längst ausgesagt, dass sie ein gemeinsames Ziel verfolgten: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe beim Unterlaufen der polizeilichen Fahndung und beim Leben als NS-UntergrundkämpferInnen zu unterstützen. Und im Gegensatz zum BKA und zur Bundesanwaltschaft haben die Aktivisten und Aktivistinnen der neonazistischen Elitenetzwerke von Blood&Honour und Hammerskins ihre eigenen Strategie- und Propagandapapiere, in denen zum bewaffneten Kampf, bewaffneten Terrorzellen und dem Kampf für ein »ausländerfreies Deutschland« aufgerufen wird, immer ernst genommen. Wie in den bekannten neonazistischen Konzepten und Handlungsanweisungen – dem »Totalen Widerstand« von Major von Dach, den Turner-Tagebüchern, dem B&H-Papier »The way forward«, dem B&H-»Field-Manual«, dem »White Resistance Manual«, dem Manifest »Eine Bewegung in Waffen« und weiteren Artikeln zum »führerlosen Widerstand« – vielfach durchbuchstabiert wurde, müssen die legalen und die illegalen NS-Strukturen als Einheit angesehen werden. Eine abgeschlossene illegale Untergrund-Zelle könnte in dieser Logik zwar im Ausnahmezustand des »Rassenkrieges« eine Zeitlang autonom agieren, doch ist sie Teil des bewaffneten Arms der neonazistischen Bewegung. Ihr Aufbau, ihre logistische Versorgung im Untergrund durch legale Neonazi-Strukturen und die politische Legitimierung ihrer Taten waren und sind Theorie und Praxis des gesamten militanten Neonazismus. Dass dabei nicht immer alle AktivistInnen und UnterstützerInnen zusammen sitzen und ausdiskutieren, wer welche Aufgabe übernimmt, liegt in der Natur der Sache. Im »White Resistance Manual« heißt es: »Share no secret which does not have to be shared. In military terminology this is referred to as the ›need to know‹ and is applied so that each individual is given only enough information to perform the mission required.« [1] Dass also nicht alle Teile des Netzwerkes über alles Bescheid wussten, ist zwingend geboten, wenn man eine terroristische Vereinigung bildet und über Jahre operieren lassen will.
Es gilt also die Blickrichtung gewissermaßen umzudrehen, die wir alle seit dem Auffliegen des NSU eingenommen hatten. Wir sollten nicht allein ausgehend von drei Personen im Untergrund auf ihre Unterstützungsstrukturen blicken – vor allem nicht dann, wenn sich unser Wissen nur auf Details aus Erkenntnissen der Behörden aus den Akten zum NSU stützt. Die terroraffinen Netzwerke der bundesdeutschen Neonazis haben sich weder alleine zu dem Zweck entwickelt, den NSU zu unterstützen, noch haben sie in der Zeit der Existenz des Untergrund-Trios sich alleine in Unterstützungshandlungen für diese Drei verausgabt. Die Agenda des nationalsozialistischen Untergrunds – wohlgemerkt nicht des Nationalsozialistischen Untergrunds – ist weitaus langfristiger, vielfältiger und gefestigter als die Behörden uns dies weismachen wollen.
Und schließlich gibt es noch einen weiteren Grund, der Einzeltätertheorie des Generalbundesanwalts entschiedener denn je entgegen zu treten: Weder im Fall des verheerenden Brandanschlags auf das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße, bei dem 1996 zehn Menschen starben, noch beim Bombenanschlag in Düsseldorf-Wehrhahn im Juli 2000, bei dem zehn russisch-jüdische Migrant_innen zum Teil schwer verletzt wurden, noch bei den Bombenanschlägen auf die Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht in Saarbrücken 1999 und das Grab von Heinz Galinski im Jahr 1998 und 2002 sind die TäterInnen ermittelt worden. Es wird Zeit darüber zu sprechen, wie viele neonazistische Terrorgruppen es in Deutschland gab – und gibt.
Auf dem rechten Auge hellwach
Mit jeder neu bekannten V-Person, die in den vergangenen Monaten wie Dominosteine umfielen, drängt sich die Notwendigkeit auf, die Geschichte der deutschen Nazi-Bewegung in den 1990er Jahren nochmal neu schreiben zu müssen. Nach allem was wir jetzt wissen, gab es vermutlich keine relevante Neonazi-Struktur, in der durch das V-Leute-System nicht die zentralen Kader vor Strafverfolgung gedeckt, nicht ihre Aktivitäten mitfinanziert und ihre Arbeit nicht in bestimmte Richtungen gelenkt worden wären.
Das ohnehin unpassende Bild, die Behörden seien auf dem »rechten Auge blind«, das sowohl von Medien aber auch von antifaschistischen Organisationen leider all zu gern verwendet wird, hat endgültig ausgedient. Die Behörden sind ja teilweise so weit gegangen, selber die zu beobachtenden Strukturen von V-Personen aufbauen zu lassen: mit Geld, Technik und Logistikhilfe, wie im Falle des bayerischen Nazi-Spitzels Kai Dalek, der im Zusammenspiel mit weiteren V-Personen als Mailboxbetreiber die Szene mit dem innovativen Thule-Netz versorgte und im Gegenzug die Behörden mit Dateien. Wir können uns sicher sein, dass noch weitere V-Leute auffliegen werden.
Während sich Parlamentarier_innen in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen dem »Versagen« der Behörden annehmen, wird am Münchener OLG vor allem die Beweisführung der Anklage gegen Zschäpe und vier Unterstützer durchexerziert. Die durch diese parlamentarischen und juristischen Untersuchungen angespülten Informationen müssen wir aber unabhängig davon einordnen. Unsere Aufgabe ist es nicht, die gerichtsfesten Beweise für die Unterstützungshandlung von XY an Mundlos-Böhnhardt-Zschäpe zu liefern. Dies ist mindestens die Aufgabe des GBA. Unsere Aufgabe ist es, der mantra-artig vorgebrachten Einzeltäterthese entgegenzutreten und unser Wissen in eine Analyse der Neonazi-Szene umzusetzen: Einer Neonazi-Szene, die zu hunderten wenn nicht gar tausenden einen militanten »Widerstand« propagiert und zu Dutzenden oder gar hunderten diesen ihren Konzepten entsprechend voran brachten und weiterhin umsetzen. Diese Analyse kann sich nicht an der Frage nach strafrechtlicher Relevanz der bewiesenen Unterstützungshandlung orientieren, sondern muss aus einem Verständnis der Wirkungsweise neonazistischer Ideologie entstehen – einer antifaschistischen und linken Perspektive, die die Behörden in ihrer eigenen Logik gar nicht haben können und wollen.
Wir müssen eine Revision der Nazi-Bewegung der 1990er Jahre wagen, auch wenn dies heißen könnte, dass das hübsche Credo »Die Antifa weiß alles« dabei angekratzt würde. Für solch eine Aufklärung dieses Konglomerats von Nazi-Bewegung und Behördeninteressen gibt es bisher keinen Ort, diesen muss die antifaschistische und antirassistische Bewegung selber schaffen.
Hilde Sanft, Eike Sanders, Ulli Jentsch
Erschienen im monitor – Rundbrief des apabiz, Ausgabe Nr. 66, Oktober 2014
Fußnoten:
[1] »Teile kein Geheimnis, das nicht geteilt werden muss. In militärischer Sprache bedeutet dies ›wissen müssen‹ und wird so angewandt, dass jede Person nur jene Informationen erhält, die zur Durchführung ihrer Aufgabe notwendig ist.« [Übersetzung apabiz] Das White Resistance Manual wurde Ende der 1990er Jahre anonym im Internet veröffentlicht und vor allem von Combat 18 verbreitet. Es enthält neben theoretischen Überlegungen zum bewaffneten Kampf vor allem Tipps zum Schutz vor Strafverfolgung und Anleitungen zum Schusswaffengebrauch, Bombenbau und für gezielte Mordanschläge.