Anlässlich von 200 Verhandlungstagen und fast zwei Jahren im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze vor dem OLG München zieht NSU Watch eine kurze Zwischenbilanz zum Prozess:
1. Unter den 446 gehörten Zeugen und Zeuginnen (Stand: 199.Verhandlungstag, 22.04.2015) fanden sich rund 50 in den 1990er und 2000er Jahren sowie in Teilen bis heute aktive Neonazis aus dem Netzwerk und Unterstützer/innenumfeld des NSU. Bis heute zeigen sich nur wenige der gehörten Zeug/innen tatsächlich willens, an der Aufklärung der Morde des NSU mitzuwirken. Viel mehr ist zu beobachten, dass Zeugen und Zeuginnen vor Gericht lügen, verharmlosen, vorgeben sich nicht zu erinnern – ohne dass dies Konsequenzen hat. Anders als in anderen Verfahren üblich, wurde bislang gegen keine/n einzige Zeug/in mit Ordnungsmitteln vorgegangen, selbst wenn es sich um offensichtliche Falschaussagen handelte. Diese Situation stärkt das Selbstbewusstsein der Neonazi-Szene insgesamt, und ermutigt weitere Zeug/innen immer offener und dreister zu lügen und sich – wie im Fall des Thüringer Neonazi Thomas Gerlach – im Nachhinein in den Sozialen Medien damit zu brüsten.
Die Aussagen und das Aussageverhalten der Zeuginnen und Zeugen aus der Neonazi-Szene zeigt deutlich, dass es sich beim NSU um ein Netzwerk militanter Neonazis handelt, die bis heute zusammen halten, wenn es darum geht, ihre Kamerad/innen zu schützen und die Taten des NSU zu verklären. Die weiterhin von der Anklagebehörde vertretene These vom NSU als isolierter Zelle mit nur einem kleinen Umfeld an Unterstützer/innen ist so nicht haltbar.
2. Der Prozess vor dem OLG München hat wesentlich dazu beigetragen, dass mit Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen in insgesamt drei Bundesländern parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum Thema eingesetzt wurden. In den Untersuchungsausschüssen wie auch im Verfahren in München zeigt sich jedoch: auch die Sicherheitsbehörden zeigen wenig Interesse an einer ernsthaften Aufklärung des NSU-Komplexes. So stellen die Verfassungsschutzbehörden nach wie vor den sogenannten Quellenschutz über eine ernsthafte Aufklärung des NSU-Komplexes in seiner Gänze. Es verschwinden Akten, anderenorts tauchen längst verloren geglaubte Akten wieder auf. Es werden Aussagegenehmigungen zögerlich und – wie im Fall des Brandenburger V-Manns Carsten „Piatto“ Szczepanski, der verkleidet im Gerichtssaal erschien – nur nach öffentlichem Druck erteilt.
In Befragungen und umfangreich recherchierten Beweisanträgen weisen Anwält/innen der Nebenklage immer wieder auf Widersprüche und Ungereimtheiten hin – auch in Bezug auf die Arbeit der Geheimdienste, wie kürzlich am Beispiel der Ungereimtheiten in Bezug auf die Anwesenheit eines Mitarbeiters des Hessischen LfV am Tatort des Mordes an Halit Yozgat. Diese und andere Beweisanträge zeigen auf, dass eine umfassende Aufklärung der Mord- und Anschlagsserie des NSU den Willen zur Aufklärung aller braucht.
3. Wir sagen: ohne den Blick auf den Rassismus der Gesellschaft und ihrer Institutionen ist der NSU-Komplex nicht aufzuklären. Die Aussagen der Betroffenen des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße im Gerichtssaal machten zuletzt deutlich, wie sehr das Zusammenwirken der neonazistischen Anschläge mit der rassistischen Ermittlungspraxis von Behörden und Justiz und der Ignoranz weiter Teile der Gesellschaft zusammen spielten. Der Prozess erwies sich hier – anders als etwa die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse – als Ort, an dem Betroffene und Angehörige der Mordopfer in ihrer Rolle als Nebenkläger_innen aktiv an der Aufklärung der Morde mitwirken können. Sie erfahren hier das Gehör, dass ihnen jahrelang verwehrt geblieben ist.
Die Auseinandersetzung mit dem NSU und den ihnen zur Last gelegten Morden und Anschlägen beschränkt sich nicht auf den juristischen Prozess gegen die Angeklagten vor dem OLG München. Die Betroffenen erhoffen sich im Verfahren Gewissheit darüber, wer ihre Angehörigen umgebracht hat. Die vollständige Aufklärung der Hintergründe der neonazistischen Mord- und Anschlagserie ist somit auch eine Voraussetzung für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie es zu einer solchen Serie kommen konnte.