Rassismus tötet – Hundert Tage Aufregung über den NSU

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Mehr als einhundert Tage sind vergangen, seitdem im November vergangenen Jahres die Existenz einer nationalsozialistischen Terrorzelle bekannt geworden ist. Die Medien versuchen seitdem, die Taten des »Zwickauer Trios« zu klären. Auf Bundes- und Landesebene sollen parlamentarische Ausschüsse behördliche Versäumnisse untersuchen. Aber der Rassismus, der für die Taten und für die Arbeitsweise der Behörden gleichermaßen inspirierend war, gerät nur mühsam in den Blick.

aus: monitor – Rundbrief des apabiz Nr. 54

Dabei hätten wir alle eigentlich nur aufmerksamer hinschauen müssen, um der Wahrheit näher zu kommen. Eine Gelegenheit hätte es beispielsweise im Frühjahr 2006 gegeben, vor inzwischen weit über fünf Jahren. Es war der 6. Mai als rund zweitausend Menschen, fast ausschließlich türkisch-deutsche Familien und Angehörige der Opfer, im nordhessischen Kassel auf die Straße gingen. Sie waren aufgeschreckt durch eine mysteriöse Mordserie, die in der Presse ebenso plakativ wie verachtend als »Döner-Morde« bezeichnet wurde. Unter dem Banner »Kein 10. Opfer!« gaben die Teilnehmenden kund, dass sie diese Serie tatsächlich als das empfanden, als was die Täter des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) sie planten: als gezielte Exekutionen von Deutschen migrantischer Herkunft.

»’Bitte helft der Polizei, damit nicht noch mehr Menschen sterben‘, bat der Angehörige eines der türkischen Opfer auf der Kasseler Demonstration seine Landsleute.« schrieb die taz Monate später.[2. Vgl. Suzan Gülfirat: Irgendjemand muss ihn kennen. In: taz v. 11. September 2006, S.6; dies.: »Bitte helft der Polizei!« in Der Tagesspiegel v. 8. Mai 2006.] Wobei im Artikel unklar bleibt, ob mit »Landsleuten« die anwesenden »rund zweitausend Türken und ihre Familien« gemeint waren oder die Kasseler Bevölkerung. Die Demo war ein verzweifelter Versuch, auf die Mordserie hinzuweisen und den Angehörigen der Opfer eine Stimme zu geben. Genauso wie ein Schweigemarsch, der einen Monat später in Dortmund stattfand.[2. Vgl. Pascal Beucker: Eine Mordserie im Hintergrund. In: taz nrw v. 10. Juni 2006.] Und schon damals war in den Aussagen spürbar, wovon viele türkische Deutsche auch jetzt sprechen: das bedrohliche Gefühl, in diesem Land nicht beschützt zu werden. In dem Versuch, darauf öffentlich hinzuweisen, blieben sie fast völlig unter sich.

Schockstarre oder Gleichgültigkeit?

Der schreckliche Mangel an Solidarität und die unwillige Beschäftigung mit den Perspektiven der Opfer und Angehörigen ist auch jetzt noch überdeutlich. Nach Wochen der – tatsächlichen oder vermeintlichen – Schockstarre sinkt die Geduld mit den bisherigen Maßnahmen der Politik. Dies haben Vertreter der türkischen Gemeinde und des Zentralrats der Juden Deutschlands zuletzt mit klaren Worten belegt. Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, attestierte »mangelnde Sensibilität« und der Bundesregierung eine »Pannenstrategie« angesichts der Enthüllungen: »Es geht nur um die Aufklärung der Pannen der Sicherheitsbehörden. Es stört mich, dass nicht ernsthaft darüber diskutiert wird, wie in diesem Land ein verbrechenförderndes Klima gegen Minderheiten entstehen konnte. Mir fehlt ein Zeichen der Politik, das die Bevölkerung einbezieht.«[3. Vgl. Kenan Kolat kritisiert Christian Wulff wegen zentraler Trauerfeier. In Der Tagesspiegel v. 21. Januar 2012.]

Das Ausmaß und die Brutalität der Taten des NSU, deren Details Stück für Stück ans Licht kommen, schockieren selbst diejenigen, die der Naziszene so etwas immer zugetraut hatten. Und jene, die seit mehr als zehn Jahren behauptet hatten, es gäbe nicht einmal Anzeichen für rechtsterroristische Entwicklungen, sind scheinbar eines Anderen belehrt worden. Sowohl das Bundeskriminalamt (BKA) unter Jörg Ziercke als auch Verfassungsschutz-Chef Fromm gaben immerhin das komplette Versagen ihrer Behörden zu Protokoll. Je mehr allerdings der parlamentarische Betrieb seine Routine in Untersuchungs-Ausschüssen und Kommissionen, Integrationsgipfel oder Spitzengesprächen wieder gewinnt, um so ferner rückt die Chance auf tatsächliche Konsequenzen.

So sind die bisher umgesetzten Maßnahmen ausschließlich auf die Effektivierung und Kompetenzerweiterung der schuldhaften Behörden ausgerichtet. Nach dem Vorbild der Anti-Terrorzentrale gegen Islamismus wird derzeit ein gleichermaßen zentralisiertes Pendant für den Kampf gegen den Rechtsextremismus installiert; Gesetzesverschärfungen, NPD-Verbot oder auch mal eben die erweiterte Vorratsdatenspeicherung werden ins Gespräch geworfen. Es ist das bekannte Lied: die ordnungspolitischen Vorschläge aus den Reihen der Unionsparteien dominieren schnell das Feld, nachhaltige Vorschläge finden wenig Gehör. WDR-Journalistin Isabel Schayani kommentierte entsprechend polemisch die von Friedrich als »Meilenstein« bezeichnete zentrale Neonazi-Datei als »Streusalz für die Augen«: »Dieser Sicherheitsapparat, eben noch versagt, bekommt das, was er sich immer gewünscht hat: noch mehr Vorratsdatenspeicherung. Irgendwelche Rücktritte? Nö! Nennenswerte personelle Konsequenzen? Nö! Wurden Landesämter für Verfassungsschutz geschlossen oder reformiert? Nö!« Und sie schlussfolgert: »Wenn die Sicherheitsbehörden ihr rechtsextremes Problem nicht richtig lösen, dann produziert das System wieder den selben Fehler.«[4. ARD-Tagesthemen vom 18. Januar 2012] Und es sei die weitere Frage erlaubt: »Irgendwelche Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen? Nö!«

Ein anderer Schritt nach vorne sollte aus Sicht der Bundesregierung ein Krisengipfel sein, zu dem Familienministerin Schröder und Innenminister Friedrich einluden. Ausgerechnet Kristina Schröder schlug mit dem Vorschlag auf, ein »Bundesweites Informations- und Kompetenzzentrum« (BIK) einzurichten. Die Medien überboten sich in zynischen Kommentaren, dass ausgerechnet Schröder, die Initiativen gegen Rechts mit der Extremismusklausel drangsaliert, nun Kompetenz sammeln möchte. Inzwischen wurde klar, dass die vorgesehenen zwei Millionen aus dem bereits bestehenden Haushalt kommen und das Bundesministerium vor allem Ideen der »präventiv-pädagogischen Arbeit« bündeln will. Hört sich doch sehr nach einer weiteren Webseite an.

Staatliche Untersuchung oder außerparlamentarische Aufklärung?

Anfang Januar diesen Jahres trafen sich in Berlin mehr als 30 Vertreterinnen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Initiativen, während zeitgleich der Bundestag darüber beriet, ob es eine parlamentarische Untersuchung geben solle. Schon damals gab es Berichte, dass die in die Ausschüsse der Bundesländer entsandten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesbehörden zu vielen Fragen keine Aussagebewilligung ihrer Behörden haben. Dieser behördliche Maulkorb gegenüber den Parlamentarier_innen ist ein beliebtes Mittel, die Geheimnisse und die Fehler der Behörden zu vertuschen. Und ein Quell der juristischen Spiegelfechtereien. Fachleute befürchten daher wohl zurecht, dass auch der zwischenzeitlich beschlossene Untersuchungsauftrag des Bundestages in solcherart juristischem Gezerre untergehen könnte.

Das bundesweite Treffen, an dem sich auch das apabiz beteiligt, forderte auch deshalb in einer abschließenden Presseerklärung eine wirksame Aufklärung und formulierte das deutliche Misstrauen, dies den staatlichen Institutionen zu überlassen. So hieß es unter anderem:

  • Die Ungewissheit über die weitere Einrichtung und Gestaltung von Untersuchungsausschüssen bestärkt das ohnehin bestehende Misstrauen, ob dies überhaupt jemals zu einer vollständigen Aufklärung der NaziMorde und der Rolle der Behörden dabei führen kann.
  •  Nicht hinnehmbar ist es, dass Behörden Informationen filtern und bewerten: ihnen darf nicht weiter die Deutungshoheit überlassen werden.
  • Weitere außerparlamentarische Aufklärung muss gestärkt und der dort vorhandene Sachverstand der Initiativen genutzt werden. Dazu stehen diese mit all ihrem Fachwissen gegenüber den Betroffenen, der Politik und der Öffentlichkeit bereit. Die bisher völlig unzureichende gesellschaftliche Debatte über Rechtsextremismus und Rassismus muss befördert werden.

Auf diesem Treffen wurde auch über die Möglichkeiten gesprochen, solch eine außerparlamentarische Beobachtung und die eigene Aufklärung voran zu bringen. Der Wunsch, so etwas durchzuführen, übersteigt aber bei weitem die finanziellen und personellen Ressourcen der beteiligten Projekte. Zwar leisten schon jetzt viele Projekte, was sie können, um die eigene Sicht auf den Nazi-Terror zu verdeutlichen. Die Medien fordern in den letzten Monaten erfreulich oft das Wissen der Initiativen und Archive ab, doch das stößt auch an Grenzen. Wenn, wie in den letzten Wochen, häufig die Berichterstattung auf den gezielt durchgereichten Informationen aus Ermittlerkreisen beruht, kann eine unabhängige Recherche kaum noch in vernünftiger Weise stattfinden

Fazit

Was wäre passiert, wenn den Opfern, den Hinterbliebenen und den Bedrohten in den Jahren zwischen 2001 und 2006 bedingungslos vertraut worden wäre? Wenn ihre Bedenken nicht abgetan worden wären und die Medien ein rassistisches Mordmotiv konsequent als naheliegend verfolgt hätten ebenso wie die ermittelnden Behörden? Was wenn antirassistische Initiativen sich solidarisch an die Seite der Betroffenen gestellt hätten? Vielleicht wäre dann die Mordserie nicht anders verlaufen als sie es tatsächlich tat. Aber die Gesellschaft wäre heute eine andere und der Graben zwischen den eingewanderten und den herkünftigen Deutschen etwas weniger tief. Und das Misstrauen, das inzwischen wie mit Händen greifbar scheint, wäre vielleicht nicht so beängstigend groß.

Das apabiz wird in den kommenden Monaten genauso selbstverständlich wie bisher außerparlamentarische Aufklärungsarbeit leisten. Ernüchternd ist zu sehen, wie wenig praktische und symbolische Solidarität aus allen Bereichen der Gesellschaft den auch heute noch Bedrohten zu Teil wird.

Ulli Jentsch