Im Zuge der im November 2011 aufgedeckten Mordserie, die nach derzeitigem Ermittlungsstand von einer neonazistischen Untergrundgruppe begangen wurde, stellen sich vielfältige Fragen nach Kontinuitäten der Milieus, die solche Taten möglich machten. Handelt es sich bei der Entstehung der selbsternannten Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ um eine von den Dynamiken des Neonazismus abgekoppelte Entwicklung? Offenbar nicht. Die Existenz einer solchen Untergrundgruppe kann nur aus der Beständigkeit neonazistischer Kernmilieus seit Beginn der 1990er Jahre in Ostdeutschland verstanden werden.
Als der westdeutsche Neonaziführer Michael Kühnen im Frühjahr 1990 über einen kleinen Grenzübergang in Thüringen in die im Untergang begriffene DDR einreiste, trug er ein Dokument bei sich, das unter dem großspurigen und historisch anspielungsreichen Titel „Arbeitsplan Ost“ den Aufbau neonazistischer Gruppen auf dem Gebiet der DDR vorsah.[1. Schmidt, Michael: Heute gehört uns die Straße… Der Inside-Report aus der Neonazi-szene. Erweiterte und aktualisierte Auflage, Düsseldorf u.a. 1994, 124f. Vgl. Bergmann, Werner/Erb, Rainer (Hg.): Neonazismus und rechte Subkultur, Berlin 1994.] Kühnen, euphorisiert vom Mauerfall, war der festen Überzeugung, die Wiederzulassung der NSDAP sei zum Greifen nahe. In den folgenden Monaten bis zur Wiedervereinigung gelang es ihm, Kontaktleute in vielen Großstädten der in Abwicklung befindlichen DDR zu rekrutieren. Kühnen konnte dabei auf Verbindungen von Neonazis zurückgreifen, die vor dem Mauerfall von der Bundesrepublik aus der DDR freigekauft worden waren. Diese entstammten der Fascho- und Skinheadszene der DDR, deren Entstehungsphase bis in die frühen 1980er Jahre zurückreicht.
Doch auf die in den Monaten nach der Wiedervereinigung anrollende Welle rassistischer Gewalttaten in den neuen Bundesländern nahmen Kühnens Gefolgsleute weniger Einfluss, als mitunter gern in den Neuen Ländern behauptet wird. Ebenso zweifelhaft ist die Deutung, nach der eine geheim strukturierte westdeutsche Neonaziszene als Drahtzieher für die rassistischen Progrome in den neuen Ländern agierte.
Eines solchen organisatorischen Rückgrates bedurfte es für die rassistischen Ausschreitungen gegen die kleine Anzahl von Migrant_innen in den neuen Ländern jedoch nicht. Der Anstieg rassistischer Gewaltakte entwickelte sich zum Selbstläufer, der die Planspiele organisierter Neonazis bei weitem übertraf: Ermöglicht wurde dieses durch eine zunehmend nationalistische Stimmung in breiten Bevölkerungsschichten, und nicht angewandte staatliche Sanktionsinstrumentarien. Binnen weniger Jahre formte sich in den neuen Ländern eine regional deutungsmächtige und durch die Ausübung von Gewalt sanktionsfähige neonazistische Bewegung, die auch nach dem relativen Rückgang rassistisch motivierter Gewalttaten weiterbestand.
Die politische Sozialisation der in diesem Milieu aufgewachsenen jungen Neonazis war von der Erzählung bestimmt, entgrenzte Gewalt gegenüber Migrant_innen und politischen Gegner_innen würde keine strafrechtlichen und gesellschaftlichen Sanktionen nach sich ziehen. Zudem war man davon überzeugt, das eigene Handeln stünde im Einklang mit dem Wollen einer Mehrheit der Bevölkerung. Dieser Eindruck verfestigte sich umso mehr, als der Rechtsstaat von seinem durchaus vorhandenen Instrumentarium zur Bekämpfung rechter Gewalt keinen Gebrauch machte.
Der Fall der „Zwickauer Zelle“ aktualisiert zudem die Diskussion um den sozialisieren- den Einfluss der DDR-Erziehung auf die Generation junger Neonazis, welcher die Täter und ihr Umfeld angehören. Wie bereits in den Debatten um die Ursachen des ostdeutschen Rechtsextremismus in den 1990er Jahren,[2. Vgl. Bugiel, Britta: Rechtsextremismus Jugendlicher in der DDR und in den neuen Bundesländern 1982–1998, Münster 2002.] wird auf die Militarisierung der Bildungsinstitutionen der DDR und den sie prägenden autoritären Geist verwiesen. In der Tat kam eine 1988/89 an der Ostberliner Humboldt-Universität angefertigte Studie der Kriminologin Loni Niederländer zu dem Ergebnis, dass die von ihr als „neofaschistisch“ klassifizierten Einstellungen politisch rechts motivierter Straftäter keinen Widerspruch zu deren Anpassungsbereitschaft gegenüber den Normen des realsozialistischen Alltags darstellten.[3. Niederländer, Loni: Das politische Wesen der Skinheadgruppierungen und ihre Sicher-heitsrelevanz, Forschungsbericht der Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, 28. Februar 1989.] Niederländer war bei der Auswertung von Verfahrensakten rechter Straftäter aufgefallen, dass die von Ausbildungsbetrieben und Schulen gestellten Sozialprognosen der Täter durchweg positiv ausfielen, da diese sich bislang als makellose „sozialistische Persönlichkeiten“ erwiesen hatten. Überdies zeigte der Bürgerrechtler und Filmemacher Konrad Weiß ein Jahr vor dem Mauerfall in einer Studie die DDR-spezifischen Rassismen auf, die sich insbesondere gegen Polen und vietnamesische Vertragsarbeiter wandten.[4. Weiß, Konrad: Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR, in: Kontext, Heft 5, Berlin (Ost) 1989.] In der Forschung besteht außerdem weitgehend Einigkeit darüber, dass die sich nach der Wiedervereinigung vollziehenden gesellschaftlichen Verwerfungen die weitere Radikalisierung dieser Generation junger Neonazis entscheidend prägte.
Aus der rassistischen Bewegungs- und Mobilisierungsphase neonazistischer Jugendkultur entstanden gegen Mitte der 1990er Jahre zahlenmäßig kleinere neonazistische Milieus, die sich weiterhin durch Gewaltbereitschaft und regionales Dominanzstreben auszeichneten. Das Spektrum ihrer Aktivitäten war breit gefächert, und zielte auf den Aufbau neonazistischer Strukturen im vorpolitischen Raum. Als Basis dienten dem Milieu Jugendclubs, wie jener in Magdeburg-Nord, in dem Rechtsrockbands wie „Elbsturm“ oder „Deutsche Patrioten“ probten; darüber hinaus Fanprojekte[5. Vgl. Blaschke, Ronny: Angriff von rechts Außen. Wie Neonazis den Fußball missbrau-chen, Göttingen 2011.] und Szeneevents wie Konzerte und Demonstrationen, die das Selbstbewusstsein der Bewegung stärkten. Die einsetzende Normalisierung der Präsenz eines rechten Lifestyles war dort erfolgreich, wo sich neonazistische Gruppen soziale Anerkennung erwarben, indem sie sich etwa für das „Gemeinwohl“ einsetzten.[6. Im Zuge der Hochwasserkatastrophe in Sachsen und Sachsen-Anhalt traten Neonazis vielfach als organisierte Helfer in Erscheinung und erfuhren dafür Anerkennung von Bürger_innen und kommunalpolitischen Vertreter_innen.]
Strategisch eingesetzte Gewaltanwendung als Instrument der Einschüchterung und Verdrängung politischer Gegner_innen ist in diesem Kontext kein Widerspruch, sondern logische Konsequenz der Schaffung von rechtsdominierten Zonen.
Die gegen Mitte der 1990er Jahre ergangenen Verbote neonazistischer Kleinstorganisationen tasteten das skizzierte Milieu nicht an. Im Zuge der Verbote radikalisierte sich ein Teil der organisierten Neonazis; neue Formen des politischen Kampfes wurden diskutiert. Ausgehend von der Briefbombenserie in Österreich der Jahre 1994/95 wurde von Teilen der Szene der Übergang zum bewaffneten Kampf erwogen.[7. In den Jahren 1993-1997 kam es in Österreich zu einer rassistisch motivierten Anschlagsserie mittels Brief- und Rohrbomben, bei denen u. a. vier Roma getötet und mehr als zwölf Menschen verletzt wurden, unter ihnen auch der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk.]
Die Voraussetzung für die Bereitschaft, gezielte Tötungen zu begehen ist also nicht nur eine Frage der individuellen Persönlichkeitsstruktur sondern auch eine nach dem Grad der Identifikation mit den propagierten politischen Denkmustern. So mag der Schritt von der Aktivität in Kameradschaftsstrukturen hin zur planmäßigen Gewalt im „Untergrund“ groß erscheinen: Die ideologische Selbstlegitimation der Akteure ist bereits vollbracht. Die Logik neonazistischen Denkens impliziert die Tat.
Die Kerne der zuvor verbotenen Organisationen wurden – unter anderem Namen und überregional koordiniert – fortgeführt. Die interne Debatte um den Aufbau von Neonazis-Strukturen, die sich zukünftig einem Verbot entziehen konnten, mündete in die Umsetzung des Konzepts Freie Nationalisten – als dem Aufbau von regional agierenden sogenannten Kameradschaften. Dies schloss ein Interaktionsverhältnis der regionalen Neonazistrukturen zu strategisch planenden neonazistischen Führungsgruppen ein.
Zudem ergaben sich durch das sukzessive Erstarken der NPD und die gestiegene Ausstrahlungskraft einer rechten Jugendkultur neue Anknüpfungspunkte für die neonazistische Bewegung. In Regionen Sachsens, Brandenburgs, Thüringens Sachsen-Anhalts, Mecklenburg-Vorpommerns und Berlins entstanden lokal verankerte neonazistische Kernmilieus, deren Fortbestand nicht an eine feste Organisationsstruktur gebunden war. Ausschlaggebend für die dynamische Entwicklung des Milieus wurde vielmehr seine Allgegenwärtigkeit im Alltag. Diese wurde und wird vor Ort nicht über Organisationen, sondern über Personen und ihr alltagskulturelles Umfeld realisiert. Mittlerweile sind Jugendliche aus zwei Generationen mit den niedrigschwelligen stets verfügbaren neonazistischen Politikangeboten in ihrem Lebensumfeld in Kontakt gekommen: Als Gegenentwurf zum auf dem Rückzug befindlichen demokratischen Wertesystem.
Dass der Charakter dieser neonazistischen Kernmilieus von den Behörden systematisch unterschätzt wurde, lässt sich am Beispiel des neonazistischen Netzwerkes Freies Netz zeigen. Aus den Ländern Sachsen und Thüringen heraus entwickelte sich das Freie Netz zur überregionalen, Kameradschaften koordinierenden Kampagnenagentur, deren Organisationsprinzip auf der strategischen politischen Planung von neonazistischen Schlüsselpersonen beruhte. Doch die Landesregierung in Sachsen vertrat die Auffassung, die genannte Struktur verbinde nicht mehr als ein gemeinsamer Internetauftritt.[8. Baumgärtner, Maik/Radke, Johannes: Internes Naziforum geleaked – „Wir sind ja Nationalsozialisten“, in: Zeit Online, blog Störungsmelder vom 06.11.2011, http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2011/11/06/internes-naziforum-geleaked-%E2%80%93-wir-sind-ja-nationalsozialisten_7401; zuletzt eingesehen am 05.12.2011.] Interne Dokumente belegen jedoch, dass es sich beim Freien Netz um einen organisatorischen Zusammenschluss handelt, der politische Kampagnen plante, Demonstrationen koordinierte und die gezielte Ausübung von Gewalttaten diskutierte.[9. Ebenda.]
Die Beschreibung der im November aufgedeckten Taten unter dem Begriff des „Rechtsterrorismus“ verstellt den Blick auf jene stabilen neonazistischen Kernmilieus, die seit mehr als einem Jahrzehnt im Dreieck zwischen neonazistischer Gruppengewalt, jugendkulturellen Ausdrucksformen und politischer Intervention erfolgreich agieren. Der Begriff des „Rechtsterrorismus“ ist zur Beschreibung des Phänomens „Nationalsozialistischer Untergrund“ ungeeignet: Er suggeriert, ihre Akteur_innen hätten abgekoppelt von der Dynamik des rechtsextremen Milieus Taten begangen, die dort auf Ablehnung gestoßen seien. Sukzessive wird jedoch klar, dass die Existenz einer wie
auch immer strukturierten ‚terroristischen‘ Gruppe ohne das soziale und politische Kapillarsystem des neonazistischen Milieus nicht möglich gewesen wäre. In Wahrheit setzte das Trio mit tatkräftiger Unterstützung seines Umfeldes nur konsequent um, was die neonazistische Szene als legitimes Mittel ansieht: die Vernichtung von als Feind markierten Gruppen und Personen, die politisch, lebensweltlich oder weltanschaulich im Widerspruch zur NS-Ideologie stehen.
David Begrich/Torsten Hahnel
Veröffentlicht im Februar 2012 im Sammelband „Hintergründe – Neonazismus und Demokratiefeindlichkeit in Sachsen-Anhalt“. Die Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. veröffentlicht ihre gesammelten Analysepapiere seit 2008 und liefert darin auch eine Einschätzung zum Phänomen „NSU„. Der Sammelband kann zu einer Schutzgebühr von 3 Euro bei Miteinander e.V. bestellt werden.
Literatur
- Antifaschistisches Autorenkollektiv: Drahtzieher im Braunen Netz. Der Wiederaufbau der NSDAP; Berlin u. a. 1992.
- Blaschke, Ronny: Angriff von rechts Außen. Wie Neonazis den Fußball missbrauchen, Göttingen 2011.
- Bugiel, Britta: Rechtsextremismus Jugendlicher in der DDR und in den neuen Bundesländern 1982– 1998, Münster 2002.
- Niederländer , Loni: Das politische Wesen der Skinheadgruppierungen und ihre Sicherheitsrelevanz, Sicherheitsrelevanz, Forschungsbericht der Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, 28. Februar 1989.
- Weiß, Konrad: Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR, in: Kontext, Heft 5, Berlin (Ost) 1989.