Thüringer Allerlei: „ungeheuerliche Vorgänge“, „steile Hypothesen“ und ein abruptes Ende

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Bericht von der 49. Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU vom 17. Januar 2013. Als Zeugen waren anwesend: Oberstaatsanwalt , Kriminalhauptmeister und der Vizepräsident a.D. des Landesamt für Verfassungsschutz, (alle Thüringen).

In dieser Sitzung kam – wie in manchen zuvor – nichts sonderlich Neues ans Tageslicht, was zur Aufklärung des NSU-Komplexes beitragen könnte. Allerdings gab es doch zumindest ein paar Überraschungen, und es wurde vor allem noch einmal eines deutlich: Der Bericht der „Schäfer-Kommission“ zu den katastrophalen Arbeitsweisen der Thüringer Behörden im Zusammenhang mit dem NSU wurde bestätigt.

So musste denn auch Oberstaatsanwalt Gerd Michael Schultz, der als erster der drei Zeugen befragt wurde, einräumen, dass „offensichtlich […] die Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei nicht so gut geklappt“ habe. Ende der 1990er Jahre war Schultz bei der Staatsanwaltschaft Gera u.a. mit neonazistischen Straftaten befasst. Auch die Ermittlungen gegen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe (Puppentorso, Bombenkoffer vorm Theater, Durchsuchungen der Garagen sowie die anschließende Fahndung) fielen in seinen Zuständigkeitsbereich.

Er bekundete, nicht nur als Staatsanwalt sondern auch ein immenses „persönliches Interesse“ an einer rigorosen Strafverfolgung gehabt zu haben. Ein besonderes Anliegen sei es ihm gewesen, als zentrale Führungsperson der Kameradschaftsszene „kalt zu stellen“. Das CDU-Ausschussmitglied Clemens Binninger jedoch konfrontierte Schultz mit einem „erschütternde[n]Befund“. Demnach seien im Zeitraum 1993-1998 von 120 eingeleiteten Verfahren gegen Thüringer Neonazis aus dem Umfeld des THS 95 eingestellt worden. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe jedoch fehlen auf dieser Liste gänzlich. Schultz versuchte dieses laut Binninger „fatale Signal an Neonazis“ mit angeblich mangelnden Fakten und einer somit „schwierigen Beweisführung“ zu erklären. Die Ausschussmitglieder konnten das genauso wenig nachvollziehen wie die Einschätzung, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe damals als „nicht relevant“ eingestuft worden waren. Denn laut Ermittlungsunterlagen hatten gegen alle drei etliche Straftatbestände vorgelegen.

„Ungeheuerliche Vorgänge“ und „steile Hypothesen“

Die Arbeitsweisen der Behörden in Thüringen, wie sie Schultz anschließend beschrieb, kommentierte Christian Ströbele (Grüne) als „ungeheuerlich“. So seien laut Schultz „alle paar Wochen“ Mitarbeiter_innen verschiedener Behörden (meist vom Thüringer VS aber möglicherweise auch vom MAD) in sein Büro gekommen, um Akteneinsicht in laufende Verfahren zu nehmen. Nicht nur allein dieser Umstand, sondern vor allem die Tatsache, dass der Jurist Schultz nicht imstande war, die damalige juristische Grundlage dieser Praxis zu benennen, stieß bei den Ausschussmitgliedern auf Unverständnis. Schultz offenbarte so einige Erinnerungsschwächen. So war ihm „nicht mehr in Erinnerung“, wer wann warum und wie genau Akteneinsicht genommen habe. Auch nicht welcher Mitarbeiter des Thüringer VS ihn 1996 oder 1997 in einem Gespräch gefragt hatte, warum Schultz ausgerechnet so ein starkes Interesse an einer Verurteilung Tino Brandts habe. Und das obwohl genau dieses Gespräch Schultz den Eindruck vermittelt hatte, dass der VS-Mitarbeiter ihn offensichtlich davon abbringen wollte, weiter gegen Tino Brandt zu ermitteln, und er seitdem den Verdacht hegte, dass Tino Brandt V-Mann sein könnte.

Das Misstrauen gegenüber dem VS hatte sich nach dem Verschwinden des Trios offensichtlich verschärft. Denn nachdem sämtliche Ermittlungen des LKA inklusive Zielfahndung ins Leere gelaufen waren, hatte sich bei der Staatsanwaltschaft der Verdacht genährt, dass dem Trio geholfen worden sei. Eine Mitwisserschaft oder sogar konkrete Unterstützung seitens des VS konnte scheinbar nicht ausgeschlossen werden. Denn die Staatsanwaltschaft hatte in der Folge laut Schultz ein ca. 22 Fragen umfassendes Schreiben an den Verfassungsschutz gerichtet, in dem ausschließlich mögliche Kenntnisse des VS über den Verbleib des Trios abgefragt wurden. Dieses Schreiben sei dann von höchster Behördenebene (vermutlich vom damaligen VS-Chef selbst oder seinem Stellvertreter) in allen Punkten mit „Nein“ beantwortet worden. Verwunderlich sei für Schultz heute, dass er dieses Schreiben bei der erneuten Akteneinsicht nicht mehr hatte finden können. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses zeigten sich hingegen vollkommen überrascht, da ihnen dieses Papier bisher gänzlich unbekannt war.

Kritischer Polizeibeamter fühlte sich kalt gestellt

Als zweiter Zeuge wurde Kriminalhauptmeister Mario Melzer befragt, der von 1995 bis 1998 bei der „SoKo Rex“ des LKA Thüringen auch mit dem Trio befasst war. In diesem Zuge hatte er zweimal Beate Zschäpe verhört, die dabei sehr selbstsicher und „mit einer gewissen Bauernschläue“ aufgetreten sei. Melzer zeigte sich besonders mitteilungsbedürftig und kooperativ und konnte sich im Gegensatz zu Oberstaatsanwalt Schultz an etliche Details erinnern. In seinem mehr als zweistündigen Eingangsstatement ließ er sich sehr ausführlich zu seinen damaligen kriminalpolizeilichen Tätigkeiten aus. Darüberhinaus äußerte Melzer schwerwiegende Verdächtigungen gegenüber dem Thüringer VS. Er behauptete, dass es in den 1990er Jahren in seinem Arbeitsumfeld Personen gegeben habe, die zeitgleich für die Polizei und den VS tätig gewesen seien. Dieser Vorwurf der Gesetzeswidrigkeit bezüglich des geltenden Trennungsgebots sorgte für aufgebrachte bis empörte Nachfragen.

Außerdem betonte Melzer, dass es für ihn und seine Kolleg_innen schon 1996 offenkundig gewesen sei, dass Tino Brandt als Quelle des VS gedient habe. Zudem habe der Verdacht bestanden, dass auch eine Person des Trios V-Person sein könne. Nach eigener Einschätzung hatte sich Melzer nicht nur mit diesen steilen „Hypothesen“ unbeliebt gemacht, sondern auch weil er „die Durchsuchung [der Garagen am 26. Januar 1998; Anm.d.Verf.]und die Ermittlungen und Fahndungen sehr stark“ kritisiert habe. Vor dem Ausschuss beschrieb er ermittlungstechnische Unregelmäßigkeiten bei eben diesen Durchsuchungen und bezeichnete den Durchsuchungsbeschluss als „äußerst merkwürdig“. Er betonte sich sehr gut mit solchen Dokumenten auszukennen. „Sowas“ habe er aber „noch nie gesehen“ und benannte auffallend viele offensichtliche Formfehler. Melzer behauptete, dass er aufgrund seiner Kritik an den damaligen Ermittlungspraktiken und seines Ermittlungseifers „ausgebremst“ werden sollte und schließlich auch wurde: Ende 1998 habe er in ein anderes Dezernat wechseln müssen.

Der Schlussakt des Herrn Nocken

Zu später Stunde trat der Vizepräsident a.D. des Thüringer VS, Peter Jörg Nocken, in den Zeugenstand und holte in seinem Eingangsstatement zum Rundumschlag aus. Grundlage dessen war der „Schäfer-Bericht“, aus dem er einzelne Aspekte herausgriff und mit dem Grundtenor abkanzelte: alle Vorwürfe sind vollkommen falsch; der VS Thüringen muss für alles als Sündenbock herhalten; dabei hat dieser im Gegensatz zu allen anderen (Staatsanwaltschaft, Polizei, Zielfahndung, etc.) hervorragende Arbeit geleistet; weder die Schäfer-Kommission noch die Untersuchungsausschüsse können sich anmaßen dies überhaupt zu beurteilen.

Als Nocken mehrfach betonte, dass Quellenschutz beim VS oberste Priorität habe, intervenierte der Ausschussvorsitzende, Sebastian Edathy (SPD), mit der Frage nach der juristischen Grundlage. Diese blieb Nocken schuldig und betonte trotzig, dass das einfach so sei. Auch Nockens alter Chef, Helmut Roewer, bekam sein Fett weg. Was dieser „in letzter Zeit“ gesagt habe, sei laut Nocken allzu oft „blanker Unsinn“ gewesen.

Den Ausschussmitgliedern war anzumerken, dass sie von Nocken nichts Erhellendes zum Sachverhalt erwarteten. Als Nocken seinen Vortrag beendet hatte, sorgte Edathy für Überraschung bei den letzten Zuschauer_innen und Herrn Nocken und beendete die Sitzung mit der Bemerkung, dass sich der Ausschuss fraktionsübergreifend verständigt hätte und Nocken „zumindest für den heutigen Tag“ als Zeugen ausladen würde. Sie wollten sich allerdings vorbehalten, Nocken noch einmal zusammen mit Roewer vorzuladen. Ein Schauspiel, dass nun mit Spannung erwartet werden darf.