Ein Gastbeitrag von René Heilig, zuerst erschienen im Neuen Deutschland vom 25.2.2013.
Der Skandal nach dem Skandal: Aufklärung der NSU-Morde wird behindert
»Die Lüge ist wie ein Schneeball«, sagte der Reformator Martin Luther. »Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.« Der Versuch der Aufklärung in Sachen NSU zeigt, wie wahr das ist. Es besteht Lawinengefahr!
Am 4. November 2011 flog etwas auf, das weiter für Entsetzen und Wut sorgt: der Nationalsozialistische Untergrund (NSU). Doch auch 15 Monate später mag sich kein Vertrauen in jene Behörden einstellen, die die Neonazi-Terroristen über ein Jahrzehnt morden und rauben ließen und die heute den Skandal »aufklären«.
Thomas Richter – wer ist das? So fragten Verfassungsschützer noch vor wenigen Monaten. Der Neonazi, der in Sachsen-Anhalt, Sachsen und darüber hinaus sein Unwesen trieb, dessen Daten auf der 1998 gefundenen sogenannten Garagenliste des späteren Jenaer NSU-Trios standen, schien den Behörden nahezu unbekannt.
»Corelli« abgetaucht
Als Journalisten – auch das »nd« – Richter mit dem Decknamen »Corelli« in Verbindung brachten und behaupteten, dass »Corelli« dicht an der untergetauchten NSU-Bande dran gewesen sein müsste, konnten die Geheimdienstler damit angeblich nichts anfangen. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages verlangte Akten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das der neue Chef Hans-Peter Maaßen angeblich demokratisch öffnen will, sträubte sich bis zur vergangenen Woche.
Der Grund ist klar – noch bis zum Ende des Jahres 2012 hat »Corelli« für das Amt gearbeitet. Erst im November hat man ihn abgeschaltet, ins Zeugenschutzprogramm gesteckt und vermutlich nach England verfrachtet.
In seiner 18-jährigen »aktiven Zeit« als V-Mann (und militanter Neonazi) hat der Verfassungsschutz ihm rund 180 000 Euro gezahlt. Das ist bislang die höchste bekannte Summe, die ein Neonazi-Spitzel eingestrichen hat. Man hat sogar Richters Reisekosten samt Spesen gezahlt, als der zu einem Treffen des rassistischen Ku-Klux-Klan in die USA flog.
Der Corelli-Skandal war kein Ausrutscher. So kann es nicht verwundern, dass der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, sagte, niemand glaube mehr »dass es sich nur um zufällige Pannen handelt«. Die Hintergründe dieser schrecklichen Morde, so Kolat, würden »vertuscht«.
Wer einen weiteren aktuellen Beleg dafür sucht, kann sich an dem Jenaer Neonazi André Kapke abarbeiten. Der gehörte von Anfang an zur harten Thüringer Szene, aus der die zwei mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos (beide tot) sowie deren jetzt angeklagte Vertraute Beate Zschäpe hervorgegangen sind. Auch Kapke steht – gleich hinter Zschäpe – auf der von Mundlos verfassten Garagenliste. Wer sich ein wenig mit Kapkes Vita befasst hat, wundert sich, dass der Mann nicht wie die anderen NSU-Unterstützer André Eminger, Ralf Wohlleben, Holger Gerlach und Carsten Schultze angeklagt ist.
Nazifreund ganz nah
Nun gibt es auch noch den aktuellen Verdacht, dass Kapke sich am 4. November 2011 (als Böhnhardt und Mundlos sich nach einem Sparkassenüberfall in Eisenach erschossen haben sollen) in unmittelbarer Nähe war. Sicher ist, dass sich sein Handy an jenem Tag zwischen 13.54 Uhr und 14.06 Uhr in eine Mobilfunkzelle nahe des Wohnmobils eingeloggt hatte. Denkbar, dass er die in Zwickau wartende Zschäpe über das für den NSU negative Ende des Überfalls informierte. Kapkes Anwalt sagt, die Funkzelle liege nah an der A 4, auf der sein Mandat an diesem Tag gefahren ist. Und die Bundesanwaltschaft? Sie glaubt auch an einen »unverfänglichen Grund für den Aufenthalt des Beschuldigten in dieser Funkzelle«.
In der Tat, es gibt Zufälle. Bei den Ermittlungen wider den NSU allerdings extrem viele. Sie und seltsam divergierende Erinnerungen von Zeugen, die in diversen Untersuchungsausschüssen geladen sind, machen es schwer, den Lügenschneeball zu schmelzen.
Der Neonazi-V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes Carsten Szczepanski (»Piato«) hatte seinen V-Mann-Führer (das war der aktuelle sächsische Verfassungsschutzpräsident Gordian Meyer-Plath) informiert, dass man für das untergetauchte Neonazi-Trio Waffen beschafft habe und dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe noch einen »weiteren Überfall« planen, um dann nach Südafrika zu verschwinden. Das erzählten die Brandenburger Geheimdienstler zwar ihren sächsischen und thüringischen Kollegen, doch war das Potsdamer Innenministerium »grundsätzlich nicht bereit, die Quellenmeldung als solches für die Polizei ›freizugeben‹«.
Weiter heißt es in einem in Dresden »VS-vertraulich« gefertigten Schreiben vom 17. September 1998, dass das Landesamt Thüringen das dortige Landeskriminalamt über den Sachverhalt informiert habe. Man setze dabei »hohe Sensibilität« voraus.
Genau so wollen sich die an dem Potsdamer Gespräch beteiligten Thüringer Verfassungsschutzleute Vizepräsident Peter Jörg Nocken und Karl Schrader verhalten haben. Noch am Abend hätten sie den damaligen Chef des Landeskriminalamtes Egon Luthardt unterrichtet, behaupteten beide am vergangenen Donnerstag vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss. Luthardt jedoch hatte am 31. Januar ausgesagt, dass er an dem Tage gar nicht im Amt gewesen sei. Sven Wunderlich, Luthardts Chef der Zielfahndung, beschwört, nie erfahren zu haben, dass die von ihm gesuchten Neonazis bewaffnet gewesen seien. Wer lügt?
Wunderlich hatte auch ausgesagt, dass ihm die ominöse Garagenliste mit den Kontaktadressen des Trios nie vorgelegen habe. Dabei wäre sie für die Suche von unschätzbarem Wert gewesen. Auch er könne sich nicht erinnern, die Liste jemals gesehen zu haben, bestätigt Kriminalhauptkommissar Jürgen Dressler, damals zuständig für die verpatzte Durchsuchung der Garagen-Bombenbastler-Werkstatt. Kollege Michael Brümmendorf vom Bundeskriminalamt habe die Liste ausgewertet und für bedeutungslos befunden. Stimmt nicht, sagt Brümmendorf. Er habe Dressler diese Liste mehrmals dringend ans Herz gelegt.
Gegenüberstellung geplant
Wer lügt? Das wird sich möglicherweise am Freitag herausstellen. Dann nämlich sind Dressler und Brümmendorf zur Gegenüberstellung vor den Ausschuss beordert. Nicht klären lassen wird sich dabei jedoch, wie man so rasch und so treffsicher auf die Garage Nr. 5 – eine von rund 50 in dem Jenaer Komplex »Kläranlage« – gekommen ist.
Ex-Vizepräsident Nocken sagt, man habe bei einer für das LKA durchgeführten Observation Böhnhardts »einfach Glück gehabt«. Wieder so ein »Zufall«, an dem zu zweifeln ist. Alles spricht dafür, dass der Verfassungsschutz andere Informationen hatte, denn seine Observanten waren offenbar nie auf dem Garagengelände.