Nicht aufregend und gar nicht geheim

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Das angeblich von der hessischen Polizei aufgedeckte „Knast-Netzwerk der Neonazis“ gerät zum Medienhype. Dabei sollte gerade das Mitteilungsbedürfnis des hessischen Ministerpräsidenten misstrauisch machen.

Mit Erfolgen „im Kampf gegen Rechts“ waren die hessischen Behörden bislang wenig verwöhnt. Umso lauter präsentieren sie seit letzter Woche eine brandheiße Entdeckung: Ein geheimes Knast-Netzwerk von Neonazis mit eigenem Emblem, das bundesweit aktiv sei und Verbindungen zur Rockerszene unterhalte. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier persönlich eilte an die bereit gestellten Mikrophone, um die spektakulär anmutenden Ermittlungsergebnisse zu verkünden. Doch die Existenz dieser Gruppe ist weder neu noch besonders aufregend. Dessen „Macher“, der Kasseler Neonazi , ist eine sattsam bekannte Figur der militanten Neonaziszene.

Ein notorischer Gruppengründer: Bernd Tödter

Die , die sich in der Ausgabe vom Oktober 2012 in der Rockerzeitschrift vorstellte, ist eine der vielen Gruppen- und Vereins-Gründungen des Bernd Tödter der vergangenen Jahre. „AD“ steht darin für „Aryan Defense“.

Der 38-Jährige Tödter ist das, was man gemeinhin eine „tickende Zeitbombe“ nennt. Eine Spur der Gewalt zieht sich seit 20 Jahren durch seine Vita. 1993 tötete er in Bad Segeberg aus neonazistischer Gesinnung heraus einen Obdachlosen, saß dafür eine mehrjährige Jugendstrafe ab. Aktuell sitzt er in der Justizvollzugsanstalt im hessischen Butzbach wegen verschiedenen Straftaten in Haft.

Tödter stammt aus Bad Segeberg in Schleswig-Holstein, agierte dort in den 1990er Jahren in den Neonazi-Gruppen Kameradschaft Nordmark und (FnA). 2001 zog er nach Kassel, wo er nach dem Vorbild eines seinerzeit in Lübeck existierenden Bündnis Rechts ein Bündnis Rechts für Hessen entwarf. Er fungierte – zumindest auf dem Papier – als Leiter der hessischen „Landesgeschäftsstelle“. Auch das Label des FnA nahm er nach Kassel mit, darunter sammeln sich bis heute vor allem in Sozialen Netzwerken Neonazis aus ganz Deutschland. Ab spätestens 2002 exponierte sich Tödter über die Neonazigruppe , die die Neonazis Michel F. und Stanley R. aufgebaut hatten. Tödter drängte in die Führungsrolle, brachte „seine“ Leute dort unter, Michel F. und Stanley R. zogen sich zurück.

Mit einigen Kameraden, die zum Teil aus seiner „alten“ Bad Segeberger Struktur kamen und ebenfalls in Kassel gelandet waren, gründete er 2003 einen Fanclub des Hamburger Sportvereins, die HSV Pit Bull’s, die seit 2006 auch als eingetragener Dartsport-Verein im Ligabetrieb spielen. Seine damalige Kasseler Lebensgefährtin und sein bis 2005 im sächsischen Zwickau wohnender Bruder traten gar als Vorsitzende eines Dartsportbund Deutschland auf.

Neonazis aus dem Kreis der HSV Pit Bull’s waren es auch, die 2004 im nordhessischen Wethen über Wochen hinweg eine kurdische Familie terrorisierten, bis diese schließlich das Dorf verließ. 2010 war Tödter wieder in den Schlagzeilen. Nachdem ihn seine, ebenfalls dem Sturm 18 Cassel zugehörige, Freundin verlassen hatte und vor ihm versteckte, versuchte er in einer Art öffentlicher Fahndung über Soziale Netzwerke deren Aufenthaltsort zu erfahren. Tatsächlich rückte er auch mit Kasseler Kameraden in Orten ein, wo er sie vermutete und löste den ein oder anderen Polizeieinsatz aus. Das Rollkommando um Tödter soll teilweise besoffen und pöbelnd in der jeweiligen Stadt angekommen sein.

Sturm 18-Führer für kurze Zeit:

Als Bernd Tödter 2010 in Untersuchungshaft landete, schwang sich der altbekannte Neonazi Dirk Wilbertz zum Anführer des Sturm 18 auf und verlegte dafür seinen Wohnort aus dem Bonner Raum nach Kassel. Wilbertz entstammt der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), die 1995 verboten wurde. Am 25. August 1992 – während das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen seinen Höhepunkt erlebte – schickte er der Bonner Antifa einen Brief aus der „fast ausländerfreien Stadt Rostock“. Darin schrieb er, viel zu lernen, „z.Bsp. was man mit Kanacken und Zecken so alles machen kann.“ In den Folgejahren suchte Wilbertz die Nähe zum militanten Untergrund und zu -Strukturen. Combat 18 war Mitte der 1990er Jahre als „bewaffneter Arm“ des 2000 in Deutschland verbotenen Netzwerkes Blood & Honour entstanden, bis heute dient es als ein Label des Untergrundkampfes. In einem Brief, den Wilbertz 1997 aus der Haft an den ebenfalls inhaftierten neonazistischen Polizistenmörder Kay Diesner schrieb, offenbarte er Gewaltphantasien, die ihm prompt das nächste Ermittlungsverfahren einbrachten.

2011 in Kassel angekommen, knüpfte Wilbertz dort an, wo Tödter aufgehört hatte. Er verletzte im Juli 2011 einen Obdachlosen durch Fußtritte ins Gesicht schwer und wurde dafür – sowie für Einbrüche in Kindergärten und in eine Grundschule – im Sommer 2012 in erster Instanz zu vier Jahren Haft verurteilt. Seine Straftaten erklärte er unter anderem mit dem Satz: „Ich habe eine Borderline-Störung mit Kontrollverlusten.“

Ein eigenartiger „Untergrund“

Tödter ließ keine Gelegenheit aus, seine Militanz und die Militanz seines Sturm 18 Cassel zur Schau zu stellen. Er posierte mit Sturmgewehr in Sozialen Netzwerken und präsentierte seinen Sturm 18 als eine führende Struktur eines internationalen Untergrund-Netzwerkes. Sturm 18-Ableger gründeten sich in Leipzig und im Raum Lübeck, doch nie wurde offensichtlich, dass dahinter mehr steckte als die militante Pose einzelner Bekannter des Bernd Tödter. 2011 gab er bekannt, das Sturm 18-Netzwerk habe sich mit der russischen Neonaziorganisation NSO (Nationalsozialistische Gesellschaft), der Arischen Bruderschaft des NPD-Funktionärs Thorsten Heise sowie der Gruppe Combat 18 zusammengeschlossen.

Der politische und soziale Kreis um Tödter entspricht sicher nicht der Vorstellung eines neonazistischen „Untergrundes“. Er ist vielmehr eine Mischszene: Neonazis aus Strukturen der 1990er Jahre, vereinzelt junge Aktivistinnen und Aktivisten aus Kameradschaftsstrukturen und aus der Skinheadszene, rechte Fußball-, Eishockey- und Dartsportfans, stadtbekannte Kneipenschläger, verurteilte Sexualstraftäter, eine amtsbekannte Tierquälerin. Sie alle sind durch zwei Sachen verbunden: Die Lust am exzessiven Alkoholgenuss und an der Gewalt. Diese Gewalt wird manchmal gruppenintern ausgetragen, richtet sich jedoch vor allem gegen Andersdenkende, Obdachlose, als „fremd“ Empfundene und immer wieder auch gegen Frauen. Selbst die Zuwendungen, die der Sturm 18 Cassel für seine angebliche Unterstützung für Kameraden im Knast erhielt, wurden offensichtlich in Flüssignahrung umgesetzt.

Angebliche Kontakte zum

Bernd Tödter wird seit Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) 2011 mit eben jener Terrorstruktur in Zusammenhang gestellt. Schließlich geschah die letzte Tat der Ceska-Mordserie im April 2006 in Kassel. Tödter selbst soll sich bei Kameradinnen und Kameraden und auch bei der Polizei damit wichtig gemacht haben, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2006 in Kassel getroffen zu haben und zu wissen, welche örtlichen Neonazis den NSU bei dem Kasseler Mord unterstützten. Der Polizei soll er angeboten haben, sein Wissen offen zu legen, wenn sie im Gegenzug für seine Knastentlassung sorge. Das tat sie freilich nicht. Seine Andeutungen zum NSU nehmen weder die Behörden noch die meisten Medien ernst, sein Planspiel der Knast-Organisation AD Jail Crew hingegen schon.

Das „geheime Knast-Netzwerk“

Wohlbemerkt: Eine Organisierung von inhaftierten Neonazis, die zudem den Schulterschluss mit der Rockerszene vorgibt, ist allemal Recherchen und mediale Berichterstattung wert. Doch es erklärt sich nicht, warum selbst kritische Medien diese offensichtlich lancierte Geschichte des geheimnisvollen und hochgefährlichen Knast-Netzwerkes ungeprüft übernehmen. Für substanzielle Verbindungen militanter Neonazis in die Rockerszene finden sich seit Jahren viele Beispiele und Unterstützungs-Netzwerke für inhaftierte Neonazis gibt es seit Jahrzehnten. Die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. () zählte bis zu ihrem Verbot 2011 mit 600 Mitgliedern zu den einflussreichsten neonazistischen Organisationen in Deutschland. Sie unterhielt ein Netzwerk von Gefangenen-Betreuerinnen und Betreuern, von denen gleich mehrere heute dem engen Kreis um das untergetauchte NSU-Trio zugerechnet werden können.

Was hat das nun entdeckte Netzwerk der AD Jail Crew getan? Man darf annehmen, dass der bekannt mitteilungsfreudige Bernd Tödter im Namen seiner „Organisation“ Kontakte zu ebenfalls inhaftierten Neonazis und Rockern aufgenommen und von einigen Antwort und Zustimmung erhalten hat. Darunter mag auch der mutmaßliche NSU-Helfer Ralf Wohlleben gewesen sein.

Was ist neu daran, dass sich Neonazigruppen eigene Embleme entwerfen und eine Satzung formulieren, die wie die AD Jail Crew (Medien berichteten dies am 12. April in Berufung auf die Behörden) das Tragen einer eigenen Uniform vorsah?

Und vor allem: Was ist an einem Netzwerk geheim, wenn es sich per Anzeige über die Zeitung Bikers News (Auflage 100.000) bekannt macht und darin der bekannte Neonazi Bernd Tödter vollnamentlich als Kontakt benennt?

Das haben die Ermittlerinnen und Ermittler aus Hessen noch nicht erzählt.

Ernst nehmen oder doch nicht?

Tatsächlich steckt die Geschichte des Bernd Tödter und seiner Gruppen voller Unklarheiten und scheinbaren Widersprüche. Tödter ist ein Narziss, ein Wichtigmacher und Anführer einer – wie die Frankfurter Rundschau im Jahr 2011 schrieb – Clique „rechtsextremer Säufer“ mit enormer Gewaltbereitschaft. Und doch führen die Spuren des Bernd Tödter seit vielen Jahren in den Kreis des Combat 18 und ins sächsische Zwickau, wo bis 2005 sein Bruder wohnte und seit 2001 das untergetauchte NSU-Trio lebte. Bernd Tödter war über viele Jahre eine zentrale Figur der militanten Szene im Raum Kassel, zwar umstritten, aber dennoch einflussreich.

Man nimmt ihn ernst, muss ihn auch ernst nehmen. Doch es gibt keine Fakten, die belegen, dass die AD Jail Crew mehr war als ein früh gescheitertes Planspiel eines profilierungssüchtigen Neonazis. Es gibt allerdings auch keinerlei Gewissheit, dass Bernd Tödter mit seinem angedeuteten Wissen über Kasseler NSU-Verbindungen der Polizei tatsächlich nur eine „wilde Geschichte“ (Süddeutsche Zeitung) auftischte.

Schweigen zum NSU

Zur Aufklärung der Verbrechen des NSU und seiner Unterstützerinnen und Unterstützer, die es sehr wahrscheinlich auch im Kasseler Raum gab, könnten die hessischen Behörden sicher mehr beitragen. Schließlich saß „ihr“ Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas T. zur Zeit des Kasseler NSU-Mordes am 6. April 2006 in dem Internet-Cafe, dessen Besitzer Halit Yozgat das letzte Opfer der Mordserie wurde. Es war der damalige Innenminister Bouffier, der entschied, dass T. sein Wissen über den Mord nicht der Kasseler Polizei zur Verfügung stellen dürfe. Und es war der heutige Ministerpräsident Bouffier, dessen Auftritt vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im September 2012 in Berlin von kaum erträglicher Überheblichkeit und Uneinsichtigkeit geprägt war. Doch auf das Thema NSU angesprochen weicht der Ministerpräsident den Mikrophonen aus.