Protokoll 8. Verhandlungstag – 11. Juni 2013

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Wer erwartet hatte, dass der Münchner NSU-Prozess nichts Neues zu Tage fördern werde, der sah sich am achten Verhandlungstag eines Besseren belehrt: Die Bundesanwaltschaft musste einräumen, dass es eine aktualisierte Liste mit Personen aus dem Umfeld des NSU gibt, die sogenannte 129er-Liste umfasse derzeit etwa 500 Personen. Die Bedeutung der Liste spielt die BAW jedoch herunter. Bei der Fortsetzung seiner Aussage kündigte der Angeklagte Carsten S. an, „reinen Tisch“ machen zu wollen. Er berichtete von Anspielungen von Mundlos und Böhnhardt, die auf einen weiteren, bisher nicht bekannten Anschlag des NSU hindeuten. Wie sich nach dem Verhandlungstag heraus gestellt hat, passen diese Andeutungen auf einen Bombenanschlag in Nürnberg 1999, den Polizei und Generalbundesanwalt bisher nicht dem NSU zugerechnet hatten. Bei der anschließenden Pressekonferenz konnten die Vertreter des Generalbundesanwalts nicht einmal sagen, ob es sich bei diesem Anschlag um einen so genannten „Prüffall“ gehandelt habe, also um einen ungeklärten Anschlag, der nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 überprüft wurde.

 [Türkçe]                    [English]

Im Saal ist heute wieder Steffen R., ein thüringischer Neonazi, der Solidaritätsarbeit für macht, und schon am letzten Verhandlungstag im Saal war. Er versucht heute wie zuvor Sichtkontakt mit Wohlleben aufzunehmen. Gegen 9.45 Uhr betreten die Angeklagten den Raum und um 9.50 Uhr das Gericht. Götzl stellt bei der Überprüfung der Präsenz fest, dass die Gutachter Prof. Leygraf und Prof. Saß anwesend sind. Zum ersten Mal in diesem Verfahren sind keine Nebenkläger_innen persönlich anwesend.

 

Am letzten Donnerstag hatte Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, Vertreter der Nebenklägerin Gamze Kubaşık, den Antrag gestellt, dass Personen, die auf der 129er-Liste stehen, der Zutritt zum Saal verwehrt wird, weil sie als Zeug_innen in Betracht kommen. Der Antrag wird heute abgelehnt. Ein Ausschluss widerspräche dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Scharmer nimmt dazu Stellung und sagt, er könne seinen Antrag auch noch einmal näher begründen, würde jedoch von Generalbundesanwalt zunächst einmal gerne wissen, ob die Version, die zur Verfügung gestellt wurde, überhaupt aktuell ist. Oberstaatsanwältin beim BGH Greger sagt dazu, es gebe eine aktualisierte Version, diese ändere aber nichts an der Einschätzung der BAW. Es handle sich lediglich um eine Liste von Personen, die „abgeklärt“ worden seien. Die für das Verfahren relevanten Personen seien in den Akten genannt. Soweit aus der Sicht der BAW Zeug_innen relevant seien, seien sie bereits benannt oder würden gegebenenfalls noch benannt. Auch andere Verfahrensbeteiligte könnten Zeug_innen benennen.

Auf eine Nachfrage von Scharmer sagt Greger, dass die aktualisierte Liste 400 Personen umfasse. Nebenklage-Vertreterin Lunnebach fragt noch einmal nach, ob alle Personen auf dieser Liste nicht als Zeug_innen in Betracht kommen. Greger weist das zurück, es kämen schon Personen auf der Liste als Zeug_innen in Betracht, und ihre Antwort enthält schon wieder eine neue Zahl: „Wir können doch nicht 500 Personen, die auf der Liste stehen, alle ausschließen.“ Scharmer erläutert, dass es nicht sein könne, dass die BAW einen Informationsvorsprung gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten hat: „Warum kriegen wir eine Liste mit 129 Personen, auch wenn es eine aktuellere Liste gibt?“ Bundesanwalt Diemer antwortet: „Weil eben diese Liste vom Senat angefordert wurde.“ Scharmer weist darauf hin, dass es der Nebenklage selbstverständlich nicht um die Zahl 129, sondern um Personen aus dem Umfeld des NSU gegangen sei. Diverse Nebenklage-Vertreter_innen und auch die Anwält_innen Sturm und Stahl, Verteidiger_innen von Zschäpe, äußern sich zur Sache.

Nach einer von Diemer geforderten Unterbrechung legt Greger ihre Version dessen dar, wie die Listen zustande gekommen sind. Ausgangspunkt sei eine Anfrage des Untersuchungsausschusses des Bundestags vom Sommer 2012 gewesen. Dabei sei es um relevante Personen gegangen, die das BKA im Ermittlungsverfahren abgeklärt habe. Strafprozessual sei das Kriterium der Relevanz problematisch. Daher sei folgendes Vorgehen gewählt worden: Bereits im Dezember 2011 seien seitens des GBA 38, später 41 Personen bei den Nachrichtendiensten namentlich abgefragt worden, die ihm zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen interessant erschienen seien. Bis zur Anfrage des Untersuchungsausschusses im Sommer 2012 seien das aufgrund der fortgeschrittenen Ermittlungen schon 129 Personen gewesen. Mit der Aufführung in der Liste sei eine Bedeutung für dieses Verfahren nicht automatisch verbunden. So seien etwa Personen der rechten Szene abgeklärt worden, die in der Nähe der Tatorte wohnhaft gewesen seien. Soweit sich Bezüge zum hiesigen Verfahren ergeben hätten, seien diese in die Akten zum Verfahren eingeflossen. In der Zwischenzeit seien aufgrund der geänderten Anforderungen des Untersuchungsausschusses etwa Kontaktpersonen aus der Zeit vor dem Abtauchen, so aus der „Garagen-Liste“ [bei der Durchsuchung einer vom „Trio“ genutzten Garage wurde 1998 eine Mundlos zugeordnete Liste mit Kontaktdaten von Neonazis gefunden], oder Personen mit Ermittlungen im Bereich ‚PMK Rechts‘ [PMK = Politisch motivierte Kriminalität] hinzugekommen. Die Listen hätten eine rein administrative Funktion zur Unterrichtung des Untersuchungsausschusses zu verschiedenen Zeitpunkten. Sie erfüllten keinen Zweck in diesem Strafverfahren und daher sei die BAW auch der Beiziehung der Liste entgegen getreten.

Scharmer fragt dann nach, ob es Akten zu den Nachermittlungen in dieser Sache gebe und ob die Nebenklage diese einsehen könne. Diemer antwortet: „Jetzt machen wir das Fass halt wieder auf. Diese Listen haben null Bedeutung. Sie können die Listen haben. Ob wir entsprechenden Beweisanträgen entgegentreten, das sehen wir dann mal.“ Es geht im Folgenden darum, wie die Nebenklage Einsicht in die Akten zu den Abklärungen der einzelnen Personen nehmen kann. Diemer antwortet, Akteneinsicht sei auf Antrag beim GBA möglich. Auf den Zeitpunkt einer möglichen Übergabe der 500er-Liste angesprochen, spricht Diemer von der nächsten Woche. Ein Nebenklage-Vertreter weist darauf hin, dass dann gegebenenfalls schon ein Teil der Beweisaufnahme abgeschlossen sein könnte und insofern das Verfahren eigentlich auszusetzen sei. Greger erwidert, dass sie den Vorwurf, die BAW habe Akten nicht vorgelegt, als Ungeheuerlichkeit empfinde.

Im Folgenden geht es darum, ob der Angeklagte Holger G., der in der letzten Sitzung eine Erklärung verlesen hatte, doch noch auf Fragen antworten werde. Die Verteidigung von G. verneint dies, auch auf Fragen zur Person werde er nicht antworten. Richter Manfred Götzl weist noch einmal darauf hin, dass die Erklärung von G. einige Fragen offen lassen. Nebenklage-Verteter RA Bliwier fragt, ob G. denn auf Fragen antworten werde, die sich auf mögliche Kontakte G.s zu Nachrichtendiensten bzw. auf „anderweitige Verpflichtungserklärungen“ beziehen. Auch dies wird verneint. Bliwier kündigt daraufhin an, eine Erklärung verlesen zu wollen. Auch RA Stahl, Anwalt von Zschäpe, kündigt eine Erklärung zur Aussage von G. an, die er jedoch noch nicht fertig habe, weil er davon ausgegangen sei, dass G. noch Fragen zur Person beantworten werde.

 

Es folgt die Erklärung von Bliwier im Namen der Familie Yozgat: G. habe sich zwar selbst belastet und Tatvorwürfe eingeräumt. Im Übrigen habe er sich, was sein Recht sei, zu bestimmten Dingen nicht weiter eingelassen: „Das ist in hohem Maße bedauerlich. Man wird das aber entsprechend zu würdigen haben.“ G. verweigere die vollständige Aufklärung des Sachverhaltes. Auch die Familie erkenne an, dass er sich entschuldigt hat, aber das sei zu wenig. Es sei deshalb zu wenig, weil es der Familie Yozgat nicht primär darum gehe, welche Strafen den Angeklagten auferlegt werden, sondern um die Aufklärung der Taten. Deswegen sei sein Bedauern halbherzig. Wenn es so gewesen sei, wie er darstellt, dann müsse er eine Befragung nicht fürchten und die Chance nutzen, das Unrecht an dem er Anteil hatte, wieder gut zu machen. Der Vertreter der Nebenklägerin Semiya Simşek, Tochter des am 11. September 2000 ermordeten Enver Simşek, erklärt in ihrem Namen, G. sei leider „auf halber Strecke stehen geblieben“ und appelliert an, alle Fragen aller Beteiligten zu beantworten.

Es folgt eine kurze Auseinandersetzung zwischen Götzl und Stahl um dessen ausstehende Erklärung und darum, ob das Verfahren zu deren Fertigstellung zu unterbrechen sei. Dann soll es mit der Vernehmung von Carsten S. weitergehen, die am vergangenen Mittwoch unterbrochen worden war. RA Heer, Anwalt von Zschäpe, fordert jedoch zunächst, dass der Sachverständige Prof. Leygraf vorher über den Verlauf der bisherigen Vernehmung zu informieren sei, damit er die kommende Vernehmung richtig werten könne. Nach einer weiteren Unterbrechung folgt um 11.35 Uhr der Beschluss, dass die Verfügung Götzls, den Gutachter erst später zu informieren, bestätigt wird.

Dann folgt die Aussage von Carsten S. S. kündigt an, zunächst noch weitere eigene Angaben machen zu wollen, bevor er Fragen beantwortet.

Er sei an einem Punkt angekommen, an dem er reinen Tisch machen wolle. Er habe es bisher jedem Recht machen wollen, habe sich Sorgen um seine Mutter gemacht und darum, wie Freunde über ihn denken. Daher habe er Sachen zurückgehalten habe. Er werde die Fragen so beantworten, wie seine Erinnerungen seien. S. berichtet im Folgenden auch tatsächlich von eigenen Handlungen, die ihm bei der letzten Vernehmung nicht über die Lippen kamen und berichtet recht detailliert aus seiner Zeit in der Neonazi-Szene.

Zunächst versucht er darzulegen, wo seine Faszination für die Szene herkommt. Er habe sich schon bei den Jungen Pionieren über Urkunden, Zertifikate und Abzeichen gefreut: „Da war ich immer scharf drauf gewesen.“ Bei der Behandlung des NS im Unterricht hätten ihm HJ und SS imponiert. Auch beim Briefmarkensammeln, das er eine kurze Zeit betrieben habe, sei die NS-Zeit das Zielgebiet gewesen. Wenn er Rechte und Hooligans gegrüßt habe, etwa den Cousin einer Bekannten, dann sei er weniger Gefahr gelaufen, dass ihm etwas passiert. Nach seiner Rückkehr aus Hannover-Springe, wo er eine Ausbildung begonnen hatte, habe er viel mit einem Freund, in den er wohl auch „verschossen“ gewesen sei, in der Stadt herumrandaliert. Mit einem anderen Kumpel habe er sich der rechten Szene angenähert. Sie hätten beide zum Naziaufmarsch in München gewollt [siehe Protokoll vom 5. Verhandlungstag]. Er selbst sei im Bus mitgefahren, der Freund habe jedoch gekniffen. Für Waffen habe er sich auch schon früh interessiert. S.: „Das Dunkle hat mich fasziniert.“

 

Waffen seien auch in der Szene Thema gewesen. Er selbst habe einen Teleskopschlagstock, ein Tierabwehrspray und eine Schreckschusspistole besessen. Er erzählt davon, dass er wegen eines schwarz-weiß-roten Aufnähers nach einem McDonald’s-Besuch von Autonomen angegriffen worden sei. Da habe er die Schreckschuss-Pistole gezogen. Dieser Vorfall habe sich etwa zwei Wochen nach dem Besuch einer JN-Veranstaltung in Furth im Wald mit abgespielt, wo er wohl auch den Aufnäher gekauft habe. Die Waffe habe er aber nur einmal wirklich benutzt, an Silvester 2000/2001 zum Jahreswechsel. Er habe sie im November 2011 in den Rhein geworfen, weil er nicht wollte, dass bei ihm als Sozialpädagogen eine Schreckschusspistole gefunden wird.

 

In der Szene habe es immer wieder Momente gegeben, wo man mit Gewalt zu tun gehabt habe. Etwa bei einem NPD-Stand in der Jenaer Innenstadt, wo sie sich auf einen Angriff von Autonomen eingestellt hätten. Als diese dann gekommen seien, habe André K. die Gruppe durch Brüllen darauf aufmerksam gemacht. Auch er, Carsten S., sei vorbereitet gewesen mit einem Mundschutz und bewaffnet mit zwei Steinen, habe sich jedoch „fast eingepinkelt“. Weil die Polizei gekommen sei, sei aber weiter nichts passiert. Auch von Prügeleien berichtet er, meist auf Kirmesveranstaltungen. So hätten sie in Stadtroda einen Streit mit Anderen provoziert, auch weil einer das Basecap mit der Aufschrift „88“ [88 = Szene-Code für „Heil Hitler“] haben wollte, das einer aus der anderen Gruppe trug.

 

Schließlich berichtet er auch noch einmal von dem Übergriff in Winzerla auf zwei Personen, bei dem er selber zugetreten habe [siehe Protokoll vom 6. Verhandlungstag]. Der Übergriff habe am selben Tag stattgefunden wie die Schlägerei in Stadtroda. Dabei nennt er Namen von weiteren Beteiligten (Sven K., Wohlleben, „Schmaler“, ) und räumt ein, dem einen Opfer von hinten in den Rücken getreten zu haben. Einer der Angegriffen sei stehen geblieben, der andere sei weg gerannt. Den ersten habe einer aus der Gruppe namens „Schmaler“ (den richtigen Namen könne er nicht mehr erinnern) in die Hütte geführt, dort hätten sie ihn geschlagen und getreten und schließlich die Hütte umgestürzt. Danach seien sie geflüchtet. Dem zweiten Angegriffenen sei Ralf Wohlleben hinterher gelaufen. Im Nachgang habe er Folgendes erfahren: Wohlleben habe gesagt, dass er dieser Person „auf dem Gesicht rumgesprungen“ sei. Er kann sich auch auf die spätere Nachfrage von Richter Götzl nicht sicher erinnern, ob Wohlleben ihm das selbst erzählt habe oder er es in einem Gespräch mit anderen Aussteigern erfahren habe. Er gehe jedoch davon aus, dass Wohlleben ihm selbst davon erzählt habe, weil er sich an das Wort „ich“ erinnern könne.

Es folgt eine wirklich überraschende Aussage. S. sagt noch einmal zum Themenkomplex der Waffenübergabe in Chemnitz aus. Ihm sei zum einen wieder eingefallen, dass Böhnhardt und Mundlos bei der Bestellung der Waffe gesagt hätten, sie wollten eine Halbautomatik, keinen Trommelrevolver. Sie hätten auch gesagt, dass sie genügend Munition bräuchten. Er kann die Zahl nicht genau eingrenzen, geht aber von über 50 Schuss aus, die Böhnhardt und Mundlos verlangt hätten. Er habe vom Waffenverkäufer Andreas S. jedoch weniger bekommen. Normalerweise habe er sich immer für alle Entscheidungen das Okay von Wohlleben geholt, nicht jedoch in diesem Fall. Er wisse aber, dass er von Wohlleben das Geld für die Waffe (500 bis 1000 oder 600 bis 800 Mark) bekommen habe. Im Café in Chemnitz hätten die beiden Uwes ihm zu verstehen gegeben, dass sie in ihren Rucksäcken weitere Waffen hätten, wohl „Maschinenpistolen“ oder auch „Uzis“, aber das könne er auch fantasiert haben. Er habe das komisch gefunden, weil er den Uwes ja eine Waffe gebracht habe und daher sei er nicht davon ausgegangen, das sie schon bewaffnet sind. Böhnhardt habe das Handy von S. genommen und einen Fingerabdruck auf dem Display hinterlassen. Dann habe er ihn gefragt: „Was denkst du, was der wert ist?“ Damit habe er wohl darauf angespielt, das die Drei gesucht werden. Unter Tränen berichtet S. dann davon, dass die beiden Uwes ihm erzählt hätten, sie hätten in Nürnberg „in einem Laden eine Taschenlampe abgestellt“. Er habe nicht gewusst, was die beiden damit meinten, aber sie hätten das „so spektakulär erzählt“. Und dann sei Zschäpe gekommen und die Uwes hätten ihm gesagt: „Pssst.“ – wohl damit Zschäpe das nicht mitbekomme – wobei unklar bleibt, ob es um den Inhalt des Gespräches geht oder um die Tatsache, dass die Uwes S. davon erzählen. Als er später im Bett gelegen habe, sei ihm der Gedanke gekommen, „dass die da Sprengstoff eingebaut haben oder sowas.“ Er habe sich das nicht vorstellen können und sich gesagt, das sei eine Ausnahme gewesen. Erst 2011 sei ihm da etwas klar geworden. Aber die Uwes hätten damals nicht gesagt, dass das „bei Türken“ oder „ein iranisches Lebensmittelgeschäft“ gewesen sei, sie hätten nur gesagt: „Taschenlampe in Geschäft“. „Das hab ich für mich behalten, hab ich niemandem gesagt. Das hab ich schnell wieder weggetan.“

Bei der späteren Befragung durch Richter Götzl wird er sagen, dass er die Waffenbeschaffung zuerst für eine „Sinnlos-Aktion“ wie den Einbruch in Zschäpes Wohnung oder den Motorrad-Diebstahl gehalten habe. Erst als Andreas S. ihm sagte, dass er eine Waffe da habe, habe er richtig realisiert, dass es um eine scharfe Waffe geht.

S. berichtet von einem Telefonat, das Wohlleben und er mit den Untergetauchten geführt hätten. Wohlleben habe aufgelegt, gelacht und gesagt: „die haben jemanden angeschossen.“ S. habe in Erinnerung, dass er gedacht habe: „hoffentlich nicht mit der Waffe”. Als er das Geld bekommen habe von den Dreien, seien da Banderolen drum herum gewesen und er habe nur gedacht: „In kleinen Scheinen, da müssen die aus einem Banküberfall gewesen sein und ich dachte, die müssen einen Wachmann angeschossen haben, so in die Sparte hab ich das rein gepackt.“

S. erzählt, er habe sich zu Hause die Waffe angeguckt und den Schalldämpfer aufgeschraubt und es cool gefunden habe, eine echte Waffe da zu haben. Er habe sie nicht durchgeladen, und den Schalldämpfer wieder abgeschraubt. Er habe die Überlegung gehabt, den Schalldämpfer weg zu tun, habe Angst gehabt, dass die Uwes wegen des Gewindes an der Waffe sagen, dass da etwas fehle, was er bekommen hat, und dass er sie hintergehe. Dann habe er auch Wohlleben in dessen Arbeitszimmer die Waffe gezeigt. Dieser habe den Schalldämpfer aufgeschraubt, und die Waffe auf S. gerichtet und gelacht. Er habe einen Schreck bekommen und gedacht „damit zielt man nicht auf Menschen“.

Nach dem Bekenntnis, er wolle sich „seinen Geistern stellen“, erzählt er kurz von einer Veranstaltung in Jena mit Helmut Roewer, dem damaligen Verfassungsschutzpräsidenten in Thüringen, Jörg Fischer und Anetta Kahane, die er als Nazi besucht habe. Dann berichtet er von antifaschistischen Veranstaltungen, die er als Ausgestiegener in Düsseldorf besucht habe. Darunter sei ebenfalls eine Veranstaltung mit Jörg Fischer gewesen. Er habe auf Raten von Jörg Fischer, dem er nach der Veranstaltung erzählt habe, dass auch er rechts gewesen und schwul sei, mit Personen im AStA und Düsseldorfer Antifaschist_innen geredet. Diese hätten von ihm eingefordert, als Ausstiegskriterium sein gesamtes Wissen preiszugeben. Er habe sich aus Angst um seine in Jena lebenden Eltern und Verwandten dagegen entschieden, sich öffentlich gegen Rechts zu positionieren. Auf einer anderen Veranstaltung, evtl. aber auch derselben, habe ein Referent über Rechtsterrorismus gesprochen und habe auch die Drei erwähnt, und dass deren Tat verjährt sei und dabei auch die Fahndungsaufrufe erwähnt. Carsten S. behauptet dann, der Referent habe erwähnt dass Steffen Hupka [Neonazi-Kader] das Haus abgebrannt sei und da habe der ganze Raum gelacht. Das sei dasselbe Lachen gewesen wie im Bus der Nazis nach München, als es geheißen habe, da sei „ein Linker von der Ampel gefallen“.

 

Es folgt die Mittagspause. Um 14.25 Uhr geht es weiter.

 

Carsten S. setzt seine Aussage mit einer Vielzahl von Geschichten aus der Nazi-Szene in Jena fort:

Zusammen mit Wohlleben, und André K. habe er ein Transparent gegen ein ‚Rock gegen Rechts‘ in der Jungen Gemeinde in Jean aufgehängt.

 

Die Rechtsrock-Band „Vergeltung“ habe im Jugendzentrum Winzer-Club in Winzerla immer freitags geprobt; in seiner Erinnerung auch bis ins Jahr 2000. Hier widerspreche er dem Sozialarbeiter des Zentrums, der im Fernsehen behauptet habe, dass dies nur bis 1996/97 der Fall gewesen sei.

 

In Lobeda-West habe es „Ärger mit Russen“ gegeben. Einmal sollte ein Jugendclub von Spätaussiedlern gestürmt werden: „Ich saß mit Christian K. im Baum und die kamen nicht.“

 

Er sei mit Christian K. auf dem Schießplatz Höhe Göschwitz gewesen und habe dort mit seinem neu gekauften Tarnanzug „gespielt, zwischen Spiel und Wehrsport“.

 

Den Tarnanzug habe er auch bei den „nationalen Herbstwanderungen“ angehabt. Meist seien sie zu ihrem Grundstück in Kahla gewandert. Auf dem Weg war in irgendeinem Dorf ein Heldengedenkstein. Sie hätten eine Schweigeminute gemacht und ein Mann in Zivil sei gekommen. Dieser habe die Ausweise verlangt und gesagt, sein Name sei „Löffler vom LKA“. „Wir gingen weiter und Christian K. sagte, kommen sie doch mit in den Wald, wenn sie unsere Ausweise wollen. Und im Wald kamen dutzende Polizeiwagen.“ Sie seien auseinandergestoben, einige hätten sie verloren, die später erzählt hätten, sie seien gar nicht richtig verfolgt worden. „Für uns war das ein Kick.“ Er berichtet auch von Privatparties, Randale und wie der Neonazi einer Frau eine Pistole an den Kopf gehalten habe. Diese habe sich ein Messer an die Schläfe gehalten: „So nach dem Motto, wenn sie sich was antut, dann schießt er.“ In Gorndorf, einem Stadtteil von Saalfeld, der von Rechten dominiert gewesen sei, habe ein Konzert gegen Rechts stattfinden sollen. S: „Wir standen wie ein Schutzwall davor.“ Es sei aber niemand von den Linken gekommen, da hätten sie auch Autoreifen abgestochen. Sie seien auch in eine Diskussionsrunde in

 

Saalfeld-Rudolstadt gegangen und hätten dort ein Transparent entrollt. Er habe NPD-Schilder aufgehängt, Transparente gesprüht und ein Banner mit der Aufschrift „Rudolf Hess – Das war Mord“ habe er an der Autobahn aufgehängt. Er behauptet, er habe sich bei Schlägereien vor allem verteidigen wollen und begründet den Übergriff in Winzerla mit einem „Rechts-Links-Konflikt“ in den Stadtteilen. Er sei damals auch kein Rassist gewesen.

 

Carsten S. erzählt von rechter Musik und Liedtexten, er sei selten bis gar nicht auf Konzerten war, habe aber einmal an einem Konzert in Schorba teil genommen. Er habe in den Akten gelesen, dass es dort zu einem Gespräch wischen einem Geraer und einem Chemnitzer über die Untergetauchten gekommen sei. Das sei aber nicht er gewesen, das sei ein Zufall. S. übergibt dem Gericht eine dreißigseitige Excel-Tabelle, auf der er Ereignisse mit seiner Beteiligung und Abläufe aufgeschrieben habe.

 

Götzl befragt S. noch einmal zur Äußerung, die Uwes hätten in Nürnberg „eine Taschenlampe“ hingestellt. S. sagt, aus ihrer Bombenwerkstatt habe er geschlossen, dass es sich um etwas mit Sprengstoff gehandelt habe. Zschäpe sei wegen der Anwaltsvollmachten gekommen und habe das Gespräch nicht mitbekommen sollen. Er habe das bisher in keiner Vernehmung erzählt, erst jetzt sei er zu dem Entschluss gekommen, „hier aufzuräumen“ und erstmals davon zu erzählen. Er habe die Geschichte 2011 wohl mit den Anschlägen in Köln in Verbindung gebracht. Er könne auch nicht mehr sagen, welcher der beiden Uwes ihm von der Taschenlampe erzählt habe, aber es sei wohl von „wir“ die Rede gewesen. Götzl fragt mehrfach, wie er die Verbindung zu Nürnberg oder zum Anschlag in der Kölner Probsteigasse schließt, er weist darauf hin, dass beide Ereignisse mit der Waffenübergabe im Frühjahr 2000 zeitlich nicht zusammen passen. S. antwortet: „Es gab vermutlich früher einen versuchten Anschlag, den ich aber nicht gesagt habe, den ich weggeschoben habe.“ Mit Wohlleben habe er nicht über das Gespräch gesprochen. Er habe sich dem nicht stellen wollen, aber irgendwann sei es ihm gekommen: „An der Taschenlampe ist ja ein Knopf dran, und da kam das.“

 

Es folgt eine kurze Diskussion darum, ob S. noch genügend konzentriert ist, um die Vernehmung fortzusetzen. Nach einer Unterbrechung zur Klärung organisatorischer Fragen beendet Götzl die Sitzung um 16.35 Uhr.

 

Rechtsanwalt Scharmer erklärt dazu:

„Die Bundesanwaltschaft versorgt die Verfahrensbeteiligten offensichtlich nur scheibchenweise mit Informationen. Sie sortiert dabei selbst, was sie für relevant hält und ignoriert klare Anforderungen der Verfahrensbeteiligten. Bemerkenswert ist, dass nach Bereitstellung der so genannten Liste mit 129 Personen aus dem Umfeld des NSU von der BAW selbst kein Hinweis erfolgte, dass diese Liste längst überholt ist. Die Erklärung, es sei explizit „nur“ die „129iger-Liste“ angefordert gewesen, ist vorgeschoben. Tatsächlich ging es um den Inhalt, nicht um Zahlen. Das war jedem im Saal klar. Es stellt sich die Frage, ob und ggf. welche Aktenbestandteile die Bundesanwaltschaft bislang zurück hält oder in Spurenakten gewissermaßen vergraben hat. Unserer Mandantin geht es um maximale Aufklärung. Ein solches Verhalten der Anklagebehörde schafft ggf. unnötiges Misstrauen.“

 

Nebenklage-Vertreter RA Peer Stolle resümiert den Verhandlungstag: „Die Karten im NSU-Verfahren werden neu gemischt: Carsten S. gibt Hinweise auf einen möglicherweise weiteren vom NSU begangenen Anschlag. Der Bericht von S. über das Gespräch mit Mundlos und Böhnhardt in Chemnitz unmittelbar vor der Übergabe der Ceska gibt deutliche Hinweise, dass auch die weiteren Unterstützer in der Neonazi-Szene mehr gewusst haben könnten über die bereit begangenen oder zukünftigen Taten des NSU.“

 

 

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