„Das ist die nicht akzeptable Geschichte“ – Interview mit Mitat Özdemir und Dr. Ayla Güler-Saied

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zuerst erschienen in LOTTA – antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen #52

Am 9. Juni 2004 explodierte auf der Köln-Mülheimer Keupstraße eine Nagelbombe, die 22 Menschen zum Teil schwer verletzte. Der NSU hat sich Jahre später zu der Tat bekannt. Mitat Özdemir ist Vorsitzender der „Interessensgemeinschaft Keupstraße“. Dr. Ayla Güler-Saied ist Migrationsforscherin. Beide arbeiten in einer Initiative mit, die im Frühjahr mehrere gut besuchte Veranstaltungen auf der Keupstraße organisierte.  

 

Die Keupstraße ist eine belebte Geschäftstraße Köln-Mülheim. Eine Nagelbombe verletzt im Juni 2004 22 Menschen teilweise schwer. Mehrere Läden werden verwüstet. (Foto: apabiz)

Die Keupstraße ist eine belebte Geschäftsstraße Köln-Mülheim.
Eine Nagelbombe verletzt im Juni 2004 22 Menschen teilweise schwer. Mehrere Läden werden verwüstet.
(Foto: apabiz, 2012)

Im Mai begann in München mit dem NSU-Prozess die strafrechtliche Aufarbeitung des Rechtsterrorismus. Wie ist aktuell die Stimmung auf der Keupstraße?

Mitat Özdemir: Es gibt eine tiefe Erleichterung, das ist klar. Aber auf dieser Erleichterung ist eine trübe Enttäuschung. Dann gibt es noch Unsicherheit und Angst. Diese Faktoren sind da. Manchmal steigt die Angst höher, manchmal die Enttäuschung. Zum Beispiel Enttäuschung über die Nicht-Zulassung der türkischen Journalisten beim Prozess. Oder als es in den letzten Tagen hieß, der Anschlag in der Keupstraße solle aus der Verhandlung abgetrennt werden. Einige haben sogar gesagt: „Vielleicht wird das besser behandelt, wenn es abgetrennt ist.“ Andere sagten: „Dann wird das Gesamte unter den Tisch gekehrt.“ Und dann sind da noch die Journalisten mit ihren Befragungen, was die Leute irritiert. Das ist es, was die Keupstraße momentan durchlebt. Dieses Durcheinander.

Es gibt viele, die sich zurückziehen. Sie sagen: „Es ist genug, wir wollen damit nichts zu tun haben. Das übersteigt unsere Verhältnisse, man macht irgendetwas über unsere Köpfe hinweg. Da kann man eh nichts machen.“ Es ist also Ergebenheit. Sie sagen: „Ich ergebe mich.“ Es gibt kein Vertrauen mehr. Misstrauen und Angst sind entstanden und es gibt keine Ansätze, wie man dieses Vertrauen zurück gewinnen kann. Das ist die Stimmung, die momentan in der Keupstraße herrscht.

Was hat euch dazu bewogen, die Veranstaltungsreihe „Von Mauerfall bis Nagelbombe“ durchzuführen?  

Ayla Güler-Saied: Unsere Idee war, Filme an unterschiedlichen Orten in der Keupstraße zu zeigen. Wir wollten die Straße als normalen Ort zeigen, wo man hingehen kann. Es sollte nicht vom Podium hinunter gesprochen werden, sondern gemeinsam mit den Leuten in den normalen Lokalitäten, in denen sie sich aufhalten. Wir haben Menschen eingeladen, die die Pogrome in den 1990ern erlebt haben und sogenannte Experten. Wobei ich eigentlich keinen Unterschied mache, weil die Leute, die betroffen sind, auch Experten sind. Danach sprachen Menschen aus der Keupstraße. Dann zum Titel: Damit wollten wir die Kontinuität nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung aufzeigen, ohne so naiv zu sagen, erst mit dem Mauerfall hat der Rassismus anfangen. Das entspricht ja nicht den Tatsachen. Nach dem Mauerfall ist der Rassismus aber verstärkt aufgetreten – in Ost wie West. Der NSU ist der Höhepunkt, würde ich sagen. Wir wollten diese Normalität aufzeigen und die Probleme der thematisieren. Dabei sollten die Leute selbst zu Wort kommen. Nicht über die Leute reden, sondern mit den Leuten.

Mitat Özdemir: Für manche war es das erste Mal, dass sie in ein so hinterhofartiges Café gingen und sahen, wie die Leute friedlich da sitzen, Karten spielen oder fernsehen. Bevor das Programm anfing, tranken sie einen Tee oder schauten erst einmal zu. Das war schon eine wirklich bewegende Sache. Erst waren sie schüchtern „Wo soll ich mich hinsetzen?“ und später wurden sie locker, weil die anderen auch so locker da saßen und sie ganz natürlich angenommen wurden. Auch für die Lokalbesitzer war es neu. Stell` dir ein Caféhaus vor, wo nur türkische Leute hingehen. Plötzlich sind verschiedene Menschen da. Die interessieren sich für das Lokal und die Menschen. Wenn unser Film zu Ende war, standen alle mitten in dem Lokal und diskutierten. Es ging also um eine andere Art von Begegnung. Das war auch eines unserer Ziele.

Seid ihr mit den fünf Veranstaltungen  zufrieden?  

Ayla Güler-Saied: Ich finde, dass sie ein großer Erfolg waren, weil es immer rappelvoll war und Diskussionen entstanden. Wir sieben aus dem Team kannten uns vorher nicht. Wir kommen auch alle aus unterschiedlichen Richtungen. Ich kannte auch nicht alle Leute aus der Keupstraße, und trotzdem hat alles funktioniert. Die Referenten aus der Keupstraße haben neue Erkenntnisse gebracht. Es war unser Ziel, dass das Schweigen gebrochen wird.

Viele der Betroffenen haben zum ersten Mal vor einer größeren Gruppe über ihre Erlebnisse nach dem Anschlag gesprochen?  

Mitat Özdemir: Ja, von zehn Leuten, die wir eingeladen haben, waren acht, die noch nie zu einer Gruppe gesprochen haben. Die musste ich überreden. Manche haben gesagt: „Wenn du bei mir stehst, dann rede ich. Sonst nicht.“ Mut machen, Unterstützung und die Hilfe von unserem Team trugen dazu bei, dass sie angefangen haben zu reden. Die ersten fünf Minuten waren für sie schwer, aber nachher wollten sie gar nicht mehr aufhören. Wir haben keine Vorgaben gemacht, nur die Situation vorbereitet, dass sie leichter einsteigen können und das Gefühl haben, alles sagen zu können, was sie denken, was sie erlebt haben und wie das Ganze aus ihrer Sicht war.

Ayla Güler-Saied: Viele Leute haben wir erst in den letzten fünf Minuten überredet. Weil die gesagt haben: „Wir wollen da nicht mehr drüber reden, das ist zu belastend für uns. Wir mussten eh immer bei der Polizei aussagen und keiner hat uns ernst genommen.“ Oder: „Die Leute kennen die Geschichten doch schon, warum sollen wir das erneut erzählen?“ Wir haben gesagt: „Ne, wir kennen die Geschichten nicht, obwohl wir hier in Mülheim wohnen und uns mit dem Anschlag auseinandergesetzt haben. Kommt und lasst uns zusammen darüber reden.“ Ich habe die Beiträge übersetzt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Leute immer noch traumatisiert und sehr stark enttäuscht sind. Einmal davon, dass es Nazis waren. Weil das zeigt, wie verletzlich diese Straße ist, da sie als „Türkenstraße“ gilt.

Ihre Enttäuschung stammt nicht nur von diesem Anschlag, sondern auch von dem Bild, was seit Jahren von der Keupstraße aufrecht erhalten wird. Dass sie als Fremdkörper wahrgenommen werden. Dass sie als Parallelgesellschaft dargestellt werden. Dass sie nicht als gleichberechtigte Bürger angenommen werden. Das war eine Kritik am Alltagsrassismus. Ich denke, die NSU-Taten kann man nicht unabhängig vom Alltagsrassismus sehen. Unsere Referenten haben gesagt: „Was muss ich denn noch machen, um hier akzeptiert und anerkannt zu werden. Ich lebe und arbeite hier seit Jahren. Ich habe hier meine Kinder und Enkelkinder gekriegt. Was wollt ihr noch von mir?“

Hier stellt sich die Frage, wie man die Leute entschädigen kann, nicht nur für die Anschlagsfolgen, sondern auch dafür, wie mit ihnen umgegangen wurde. Dass sie kriminalisiert wurden. Diese Kriminalisierung kam nicht aus heiterem Himmel, sondern sie basierte auf den vorherrschenden Bildern, die es von diesen Menschen gab. Ich sage jetzt nur „kriminelles Milieu“, „Zuhälterei“, „Drogengeschäft“. Das sind Begriffe, die in den 1990er Jahren in der Diskussion über die Keupstraße dominierten, und zur Stigmatisierung der Straße beitrugen. Warum wurde nicht stattdessen oder gleichzeitig das ganz normale und funktionierende Alltags- und Geschäftsleben fokussiert?!

Sind diese Vorstellungen der Grund dafür, warum der rassistische Hintergrund von Seiten der Behörden nicht erkannt werden konnte?

Ayla Güler-Saied: Auch bei den anderen Morden war es ähnlich, wenn man sich zum Beispiel die Geschichte der Familie Şimşek anguckt. Der Vater war Blumenhändler und ist zum Einkauf nach Holland gefahren. Die Polizei hat dort auch eine Geschichte konstruiert, dass er aus Holland Drogen einführt. Es ist also nicht nur die Keupstraße. Hier ist es vielleicht verstärkt, weil sie als „türkische Straße“ gilt, obwohl die Menschen, die hier leben größtenteils schon seit Generationen in Deutschland sind und auch nicht alle „Türken“ sind. Niemand sprich von Köln-Lindenthal als deutschem Wohnbezirk. Das ist einfach Lindenthal und fertig. Warum muss bei der Keupstraße extra betont werden, dass das hier eine „türkische Straße“ ist?

Es ist schon sehr verwunderlich, dass die Behörden so früh einen rechten Hintergrund des Anschlags ausgeschlossen haben. Gerade in so einer Straße. Die Opfer haben selber gesagt: „Wir leben hier. Wir haben hier Familie und Freunde. Jeder, der hier ein- und ausgeht, hat hier Familie und Freunde. Niemand wirft eine Bombe, die vielleicht seinen Bruder oder seine Schwester umbringt.“ 2006 gab es diese Schweigemärsche in Kassel und Dortmund. Dort forderten die Teilnehmenden: „Kein 10. Opfer!“. Sie haben den Zusammenhang erkannt. Warum wurde das von den Behörden nicht ernst genommen? Jetzt wird offen über all das geredet. Die sogenannten Pannen der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden werfen dabei nach wie vor viele Fragen auf, und angesichts der Vielzahl an Pannen fällt es schwer, daran zu glauben, dass alles Zufall war, beispielsweise das Schreddern von Akten.

Mitat Özdemir: Für mich ist das ein Rätsel. Ich habe ein paar Fragen, die ich mir immer wieder stelle. Warum die Keupstraße? Und warum mit einem Fahrrad? Warum eine Nagelbombe? Warum gerade vor diesem Friseur? Es gibt andere Friseure, andere Restaurants, die Straße geht noch weiter. Wenn man naiv ist, denkt man an einen Zufall. Ich glaube, es ist hochintelligent gewesen. Zu diesem Friseur kamen ein paar Jungs zum Haareschneiden, die Boxsport und Karate machen. Wenn man sich die Leute anguckt, dann kann man sagen, die sind ja alles Zuhälter. Die kommen mit dem Mercedes und sind alle wie ein Schrank gebaut. Das müssen Zuhälter sein.

Es geht mir nicht aus dem Kopf, warum dieser Laden? Wo sie dieses Fahrrad hingestellt haben, ist gegenüber ein Kindergarten. Wollten die alle Kinder töten? Wenn das eine Zuhältergeschichte oder eine Mafiageschichte gewesen wäre: Wieso mit Nägeln? Wenn ich ein Zuhälter bin, gehe ich rein und rechne mit jemandem ab. Aber nicht die Straße. Nicht die Leute, die unschuldig vorbeigehen.

Warum schließt man Rechtsradikale nach ein paar Stunden aus? Woher bekommt der Innenminister so schnell diese Sicherheit? Welche Informationen hat er? Auf der Keupstraße haben sich die Leute gefragt, wer kann der Täter sein und alle meinten: Das sind Rechtsradikale. Man sollte die Leute auch anhören. Hinterher hat man versucht zu behaupten, alle würden zusammenhalten. Aber gegen wen, gegen die Mafia? Was soll denn das? War das eine Ermittlungstaktik, ist das bewusst oder unbewusst geschehen? Unwissen kann ich mir nicht vorstellen.

Bei einer unserer Filmvorführungen hat ein Geschäftsmann gesprochen. Ich bin dankbar, dass er bei uns geredet hat. Er erzählte, wie ihn ein Ermittlungsbeamter fragte: „Jetzt sagen sie mal, wer könnte der Täter sein?“ Er sagte: „Das sind Rechtsradikale“. Aber das wollte der Beamte nicht hören. Es sollten ihm Namen aus dem Bekanntenkreis genannt werden. Der Innenminister hat sich damals festgelegt. „Fremdenfeindlicher Hintergrund? Ausgeschlossen!“ Was bleibt, wenn diese Wege abgeschlossen sind, dann muss die Polizei woanders weitermachen. Und macht bei den Türken weiter. Einseitig. Das ist die nicht akzeptable Geschichte.

 Vielen Dank für das Gespräch!

 

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