Zusammenfassung der Prozesstage vom 9. Juli bis 18. Juli 2013 #3

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Die zwei Verhandlungswochen vom 9. Juli bis zum 18. Juli behandelten eine Vielzahl von Komplexen, von denen keiner zu einem Abschluss gekommen ist. An manchen Tagen wurden drei unterschiedliche Themen behandelt und bis zu sieben Zeug_innen gehört. Der schwelende Konflikt zwischen den Interessen der BAW und denen der Nebenklage trat immer deutlicher zu Tage. Eine Zusammenfassung.

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Prozessuale Neuigkeiten

Zum Auftakt der Verhandlung am 10. Juli wurden Termine für die Fortsetzung der Hauptverhandlung bis Ende 2014 mitgeteilt.
Am 17. Juli brachte der Nebenklagevertreter RA Kienzle einen Antrag ein, der forderte zur Systematik der Ladungsverfügung vom 28. Februar 2013 zurückzukehren. Nach dieser wären zuerst die Beamten, die die Angeklagten vernommen haben, befragt und dann die Mordtaten in ihrer chronologischen Reihenfolge verhandelt worden. Weil derzeit viele verschiedene Tatkomplexe nebeneinander behandelt und nicht abgeschlossen würden, könne die innere Entwicklung der Taten nicht mehr nachvollzogen werden. Dem Verfahren drohe die Übersichtlichkeit und Vorbereitbarkeit (und letztendlich auch zu Teilen die Beweismittelkraft) abhanden zu kommen. Der Vorsitzende Richter reagierte ungehalten, es gab bisher aber keine formale Ablehnung des Antrags.

Frühlingsstraße

Die schon vorher begonnenen Zeug_innenvernehmungen und Befragungen von Sachverständigen zum Tatkomplex Frühlingsstraße wurden fortgesetzt. Potenziell durch die Brandstiftung und die Explosion gefährdete Bauarbeiter schilderten ihren Tagesablauf und ein Brandermittler beschrieb an mehreren Tagen anhand einer Unmenge von Fotos die Brandherde, Fundstellen von Waffen usw. Die Raumaufteilung des letzten Zuhauses des NSU-Kerns wurde sichtbar. Zu diesem Komplex und den sichergestellten Asservaten werden aber noch weitere Zeug_innen und Sachverständige gehört werden.

Die Vernehmungen des Holger G.

Mehrere als Zeugen geladene Beamte berichteten von den Vernehmungen des Angeklagten Holger G. G. hatte sich in der Hauptverhandlung nur zu seiner Person frei eingelassen und ansonsten eine Erklärung verlesen. In den polizeilichen Vernehmungen habe G. nur widerwillig ausgepackt und nur peu a peu eigene Handlungen zugegeben. So habe G. zunächst angegeben, dass er mit keinen Kontakt aufgenommen habe wegen einer möglichen Flucht der drei ins Ausland, weil Heise für ihn „eine Nummer zu groß“ gewesen sei. Er habe später aber doch den direkten Kontakt zu Heise zugegeben. Außerdem sind in G.s Aussagen einige Widersprüche enthalten, die nicht allein der schwerfälligen Erinnerung des Angeklagten geschuldet sein können, sondern darauf hindeuten, dass G. weiterhin versucht, seine eigene Beteiligung kleinzureden und womöglich bisher unbekannte Handlungen und Hinweise zu verschweigen . So äußerte ein vernehmender BKA-Beamter erhebliche Zweifel daran, dass G. wirklich, wie behauptet, nur zweimal in der Wohnung von , und in war.
G.s behaupteter „Ausstieg“ aus der rechten Szene erscheint vor diesem Aussageverhalten und seiner damaligen Eingebundenheit in die extreme Rechte unglaubwürdig. Er habe, so G.s Aussage, seinen 30. Geburtstag (2004) zusammen mit Wohlleben und vielen anderen NeonazistInnen im „Braunen Haus“ in Jena gefeierte, zahlreiche Beteiligungen an neonazistischen Aufmärschen sind zumindest bis Ende 2005 dokumentiert. Holger G. habe mit dem Trio und Wohlleben an Richtungsdiskussionen um den Einsatz von Gewalt teilgenommen, auch seine Überlegungen, die übergebene Waffe loszuwerden, zeigen, dass sich G. möglicher Konsequenzen bewusst war.

Laut BKA sollen die Aussagen G.s die erheblich weitergebracht haben. G. belastete Zschäpe schwer, der er eine gleichberechtigte Rolle im NSU-Trio zugeschrieben habe. Das Bild, das er von Mundlos und Böhnhardt zeichnete, entspricht bei weitem nicht dem eines verschwiegenen Mörder-Duos, da sie auch ihm gegenüber mit einer Pumpgun und verschiedenen Straftaten geprahlt hätten. Dass Zschäpe, aber auch andere UnterstützerInnen des NSU, etwa Wohlleben, von den Morden, Anschlägen und Banküberfällen nichts gewusst hätten, erscheint vor solchen Aussagen zunehmend unwahrscheinlich.

Strategien der Verteidigungen

Die Verteidigung von André E. beantragte überraschend, dass sie und ihr Mandant vom Prozess freigestellt würden, solange Tatvorwürfe verhandelt würden, deren André E. nicht angeklagt sei. Wie zu erwarten war, lehnte Götzl den Antrag ab. Ansonsten blieb die Verteidigung E.s wie bisher schweigsam.

Die Verteidigungen von Zschäpe und von nahmen aktiv an den Befragungen der Zeug_innen und Sachverständigen teil. Ihre Befragungen des BKA-Beamten Sch., der Holger G.mehrmals vernahm, zielten dabei vor allem darauf ab, ob alle Prozedere rechtmäßig verlaufen seien. Sie werden versuchen, die für ihre MandantInnen belastenden Aussagen von Holger G. nicht zur Verwertung zuzulassen.

Morde

Zwei der neun rassistischen Morde wurden in diesen zwei Wochen behandelt – der Mord an Enver Şimşek am 9.9.2000 und der Mord an Habil Kılıç am 29. August 2001.

Polizeibeamte, die im Mordfall Enver Şimşek den Tatort untersuchten, und Zeugen, die den Toten zuerst fanden, beschrieben in bestürzender Detailliertheit den Tatort. Andere Zeugen hatten Männer in Fahrradkleidung am Fahrzeug des Blumenhändlers gesehen und damit wertvolle Hinweise gegeben, die nie ernsthaft verfolgt wurden.
Auch im Mordfall Kılıç hatte es Hinweise auf zwei junge, männliche Fahrradfahrer im Kurierfahrerlook gegeben. Sie sollen zunächst zum Tatort hin und kurz darauf von dort weggefahren seien. Die Ermordung des Herrn Kılıç wurde als „professionell“ geschildert, da zunächst ein Kopfschuss auf das stehenden Opfer abgegeben wurde und gleich darauf ein weiterer Kopfschuss auf den zu Boden Gestürzten.

Erste Angehörige der Opfer sagen aus

Mit der Witwe von Habil Kılıç, die sich zum Tatzeitpunkt in der Türkei befunden hatte, und seiner Schwiegermutter sagten die ersten Angehörigen eines Mordopfers als Zeug_innen im Prozess aus. Die Schilderungen der Witwe und der Schwiegermutter des ermordeten Herrn Kılıç ließen die Auswirkungen des Mordes auf die gesamte Familie erahnen. Dabei ging es nicht nur um die Unterstellungen und Beschuldigungen von Seiten der ermittelnden Beamten, sondern auch darum, dass der Enkelin zum Beispiel von Seiten der Schule ein Schulwechsel nahegelegt worden war – mit der Behauptung, es bestünde die Gefahr von Anschlägen auf die Schule.
Das Vernehmungsverhalten des Vorsitzenden Richters war eher unsensibel und zog ihre traumatisierenden und auch von Frau Kılıç selbst geschilderten Erfahrungen mit deutschen Behörden nicht in Betracht. So bat Götzl die Zeugin gleich zu Beginn um die Angabe ihres Wohnortes und war zuerst nicht bereit, auf die Ängste der Angehörigen der Ermordeten Rücksicht zu nehmen. Auch ob das Zeigen von Tatortbildern des entkleideten Ermordeten vor dessen Angehörigen und der Öffentlichkeit prozessual notwendig ist, ist fraglich.
Die ermittelnden Behörden

Zum Mordfall Habil Kılıç berichtete der bekannte Münchener Mordermittler Kriminaloberrat a.D. Josef Wilfling beinahe frei von Selbstkritik wie akribisch zum Mordfall ermittelt worden sei – fast ausschließlich in Richtung Organisierte Kriminalität. Ihm wurden Aussagen vorgehalten, man fahnde nach „Mulatten“ oder jemanden mit „Mongolenbart“, er wiederholte dann auch seine Rechtfertigung: “Jetzt soll man mal bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt.“Dass er die gesehenen Fahrradfahrer, die nach heutigem Wissen Mundlos und Böhnhardt waren, lediglich als potenzielle Zeugen sah, offenbarte weiterhin die Ignoranz seiner – wie der meisten Ermittlungen –  gegenüber der Gefahr des Rechtsterrorismus.

Bei der Befragung des BKA-Beamten Sch., der den Angeklagten Holger G. vernahm, wurde eher der Dilettantismus der Behörden deutlich: Das BKA hat offensichtlich viele potenziell weiterführende Nachfragen nicht gestellt. Auch wie der BKA-Beamte Sch. zu der Einschätzung kam, dass Holger G. bei seinen Aussagen über den bekannten militanten Neonazi Thorsten Heise von diesem nichts zu befürchten habe, ist verwunderlich.

Bundesanwaltschaft vs. Nebenklage vs. Götzl

Der Konflikt zwischen Bundesanwaltschaft und der Nebenklage ist an mehrere Punkten deutlich geworden. Die Bundesanwaltschaft war bemüht, jegliche Fragen zu den fragwürdigen polizeilichen Ermittlungen durch die Nebenklage zu beanstanden. Einige NebenklägerInnen erklärten hingegen, dass schließlich schon die Frage geklärt werden muss, ob die Polizei an ihren Verdächtigungen gegen die Ermordeten und ihre Familien festhalte oder nicht. Bundesanwalt Diemer stellte jedoch in Aussicht, die BAW werde alle Fragen beanstanden, die sich nicht konkret auf die Tat-und Schuldfrage hinsichtlich der Angeklagten beziehen. Mit Bezugnahme auf das „Beschleunigungsgebot“ hätten alle diese Fragen um die „Ermittlungstätigkeiten“ der Behörden ihren Platz ausschließlich in den Untersuchungsausschüssen. Schließlich folgte am 18. Juli die Erklärung der Nebenklage-Vertreterin RAin Dierbach, in der sie – der BAW widersprechend – darlegte, dass dieser Strafprozess auch der„Schaffung von Rechtsfrieden“ dienen müsse. Die Nebenkläger_innen, die rassistischen Vorverurteilungen ausgesetzt waren, müssten hier rehabilitiert werden können. Die Angehörigen der Ermordeten hätten eben keine Plattform in den Untersuchungsausschüssen gehabt. Auch für die Bestimmung des Strafmaßes seien die Fehler der Behörden relevant, schließlich müsse die Schuldfrage auch anhand von zu befürchtendem oder eben nicht befürchtetem Verfolgungsdruck beurteilt werden. Vor allem aber dürfe das Beschleunigungsgebot nicht Aufklärung verhindern.

Der Vorsitzende Richter Götzl, der bisher auch der Nebenklage viel Raum gewährt hatte, wurde in der letzten Woche – abgesehen von seinem wenig sensiblen Umgang mit den aussagenden Angehörigen von Habil Kilic – auch mehrmals aufbrausend gegenüber Anwält_innen der Nebenklage. So zum Beispiel als RAin Dierbach mehrfach probierte, ihre Erklärung anzubringen. Auch beim Antrag von RA Kienzle zu einer sinnvollen Ladung wurde er laut und brachte falsche Beschuldigungen („Sie sind im Urlaub“) gegen ihn an.

Fazit und Ausblick

Der Konflikt zwischen der BAW, den Fokus auf die bisher ermittelten Straftaten der fünf Angeklagten zu beschränken, und der Nebenklage, der es um weitreichende Aufklärung und „Schaffung von Rechtsfrieden“ im Sinne ihrer Mandant_innen geht, wird sicherlich den gesamten Prozess begleiten. Hier ist auch eine öffentliche Positionierung in Solidarität mit den Opfern des NSU und öffentlicher Druck gefragt. Auch eine selbstkritische Gesellschaft sollte maximale Aufklärung fordern. Wenn der Angeklagte Holger G. tatsächlich auf eine Strafmilderung nach der Kronzeugenregelung und einem Status als „Aussteiger“ hoffen sollte, dann müsste er seinen Teil zur Wahrheitsfindung beitragen und sich den unzähligen bisher unbeantworteten Fragen auch vor Gericht stellen.