Im November 2012 veröffentlichte die Zeitschrift »Der Spiegel« unter dem Titel »Der Brandstifter-Effekt« Informationen über ein Positionspapier des Bundeskriminalamtes (BKA) von 1997.[1] Das BKA erhob damals wegen des Einsatzes von Spitzeln in der Neonazi-Szene schwere Vorwürfe gegen den Verfassungsschutz. Die in dem BKA-Papier und dem Spiegel-Artikel aufgeworfene Frage »Haben die vielen V-Leute die rechtsextreme Szene erst stark gemacht?« dürften regelmäßige Leser_innen des AIB seit einigen Jahren mit »Ja« beantworten können.
Aus dem Antifaschistischen Infoblatt Nr. 101 / 4.2013
Der Grundtenor des BKA-Textes überrascht daher weniger wegen seines Inhaltes, sondern vielmehr wegen seiner Autoren. Dass die BKA-Thesen im Zuge der NSU-»Aufklärung« und des offensichtlichen Geheimdienstversagens während der rassistischen NSU-Mordserie öffentlich thematisiert wurden, kam offenbar ungelegen.
Im Sommer 2013 beanstandete das Bundesinnenministerium (BMI) deswegen sogar den offiziellen Abschlussbericht des Bundestags-NSU-Untersuchungsausschusses.Das BMI forderte in einem Schreiben an den Ausschuss u.a. die Streichung einer mehrseitigen Passage über das BKA-Positionspapier. Es seien »äußerst sensible Belange des Bundeswohls« betroffen, die so nicht an die Öffentlichkeit dürften. Grund genug, das BKA-Papier auch im AIB noch mal zu beleuchten.
Das BKA Papier
In ihrem Papier hielten die BKA-Beamten zehn brisante Thesen fest, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
These 1: Es bestehe »die Gefahr, dass Quellen des Verfassungsschutzes (VS) sich gegenseitig zu größeren Aktionen anstacheln« (»Brandstifter-Effekt«).
These 2: Aus »Quellenschutzgründen« würden Informationen des VS an die Polizei »erst so spät weitergeleitet«, dass Neonazi-Aktionen »nicht mehr verhindert werden können«.
These 3: Es bestehe der Verdacht, dass Wissen über Überwachungstechniken vom VS an seine Quellen »vermittelt« und »durch die Quellen innerhalb der gesamten Szene verbreitet« werde.
These 4: Der VS finanziere vielen seiner Quellen die Telekommunikationstechnik, die Telefonkosten und Reisen. Dadurch könnten sich die Neonazis besser vernetzen.
These 5: Die Exekutive sei über die V-Leute und ihre Aktivitäten in der Regel nicht informiert.
These 6: Wenn der VS über Durchsuchungen informiert werde, würden »die Quellen oft vorher gewarnt«. Diese würden die Warnung an »gute Kameraden« weitergeben. Es bestehe »die Gefahr, dass Beweismittel vor Eintreffen der Exekutive vernichtet werden« würden.
These 7: Wenn der VS über Ermittlungsverfahren informiert werde, bestehe die Gefahr, dass durch das Zurückziehen der VS-Quellen »Ermittlungs- und Beweisansätze vernichtet« werden würden.
These 8: Der VS versuche, enttarnte Quellen durch Leugnen oder Verschleiern weiter zu schützen.
These 9: VS-Quellen, die »als Straftäter festgestellt wurden«, würden oft »weder angeklagt noch verurteilt«.
These 10: Die »Mehrzahl der Quellen« seien »überzeugte Rechtsextremisten«, die glaubten, »unter dem Schutz des VS im Sinne ihrer Ideologie ungestraft handeln zu können und die Exekutive nicht ernst nehmen zu müssen«.
In ihrer Analyse benannten die BKA-Polizisten neun Neonazis als vermeintliche VS-Quellen und schilderten, wie sie als Organisatoren oder Führungsfiguren von Neonazi-Aktionen aufgetreten seien. So hätte zum Beispiel die Koordination der neonazistischen Rudolf-Heß-Aktionswochen 1994 auch in den Händen von mindestens fünf VS-Spitzeln gelegen: Norbert Weidner, André Zimmermann, Kai Dalek, Michael Petri und Michael B. Erstaunlicherweise wurde das Ermittlungsverfahren gegen die MacherInnen der Anti-Antifa-Broschüre »Der Einblick – Die nationale Widerstandszeitschrift gegen zunehmenden Rotfront- und Anarchoterror« in diesem Zusammenhang nicht vom BKA angeführt. Als der Generalbundesanwalt 1993 wegen dieser Publikation gegen acht namentlich bekannte Neonazis wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte, waren mit Kai Dalek und Michael Petri demnach auch zwei VS-Quellen unter den zeitweilig Beschuldigten.
Norbert Weidner
Norbert Weidner dürfte einigen älteren Antifaschist_innen noch durch ein Fernsehinterview im Zusammenhang mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 bekannt sein. Der Aktivist aus dem damaligen Führungszirkel der »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei« (FAP) fiel dem BKA mehrfach als Organisator von Neonazi-Aktionen auf. Im Februar 1994 mobilisierte er demnach zu einem konspirativen Treffen für einen FAP-Sonderparteitag, im November 1994 sei er als Veranstaltungsleiter eines FAP-Sonderparteitages in Friesenhagen aufgetreten und im Februar 1995 hätte er zu einer Aktion anlässlich eines Gerichtsprozeßes gegen »Die Bewegung« in Stuttgart mobilisiert. Die Polizei wurde scheinbar über diese Neonazi-Aktionen nicht rechtzeitig informiert. Vor dem Verbot der FAP im Februar 1995 sei Norbert Weidner sogar gewarnt worden und habe belastendes Material vernichten können. Auch als gegen Weidner in einem Verfahren gegen Gerhard Lauck von der amerikanischen NSDAP/AO ermittelt worden war, schien einiges schief gelaufen zu sein. Es habe ihn gewundert, »wie gut sein Sohn über polizeiliche und justizielle Maßnahmen informiert gewesen sei«, gab der Vater Weidners bei einer Vernehmung zu Protokoll. Der Bezug zu Gerhard Lauck schien nicht die einzige internationale Verbindung von Weidner gewesen zu sein. Laut einem internen Bericht deutscher Sicherheitsbehörden soll dieser auch Kontakt zu Neonazis in England gehabt haben. Für die Terrorgruppe »Combat 18« (C 18) unter Will Browning und die British National Party (BNP) unter Nick Griffin war er als ein »Kontakt nach DEU« aufgeführt. Weidner zog sich einige Jahre später aus der Neonazi-Szene zurück[2], um später wieder als Pressesprecher der »Deutschen Burschenschaft« an die Öffentlichkeit zu treten.[3]
Stephan W. wurde ebenso wie Norbert Weidner in den 1990er Jahren von antifaschistischen Fachautor_innen als Aktivist der »Initiative Gesamtdeutschland« aus Bonn benannt [4]. Scheinbar genoss auch er die Vorzüge der Tätigkeit als VS-Spitzel: Seine Wohnung sollte im März 1995 vom BKA bei einer bundesweiten Razzia gegen Neonazis durchsucht werden. Aufgrund eines Tipps konnte er sich aber rechtzeitig nach Griechenland absetzen. Ein Jahr später fiel er dem BKA erneut auf, als er unter dem Namen »Hagen Kreutz« zu einer Großaktion anlässlich des Geburtstages von Adolf Hitler am 20. April nach Bonn mobilisierte. Für damalige Verhältnisse auffällig: Er soll für diese Aktion rund 15 Neonazis per Mobiltelefon koordiniert und sie auf Observationsfahrzeuge der Polizei hingewiesen haben. Als er wegen der Aktion schließlich doch noch von der Polizei vernommen wurde, rief der VS-Spitzel nach BKA-Angaben statt eines Anwaltes seinen VS-Quellenführer an und beschwerte sich bei ihm, »nicht vorher gewarnt worden zu sein«, dass das BKA ihn überwache. Der VS-Beamte soll per Telefon »massiv auf das Aussageverhalten« seiner Quelle eingewirkt haben. Laut einem internen Bericht deutscher Sicherheitsbehörden soll Stephan W. 1998 als Mitveranstalter für eine geplante Europatournee des englischen Holocaust-Leugners David Irving aufgefallen sein. Zeitweilig soll er demnach auch eine Vertrauensperson des Holocaust-Leugners Ernst Zündel (Kanada) gewesen sein. Besonders brisant am Fall Stephan W.: Der VS-Spitzel Peter Sch. soll ihn verdächtigt haben, in Briefbombenanschläge in Österreich involviert gewesen zu sein.
André Zimmermann
Die Verfassungsschützer hatten laut dem BKA-Papier auch André Zimmermann (»Lutscher«) von der Neonazigruppe »Sauerländer Aktionsfront« (SAF) als Quelle angeworben. Bevor er Ende 1997 bei einem Autounfall starb, galt er als ein führender Aktivist der damaligen Neonazi-Szene. Als die Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen Zimmermann einleitete, landete diese Information offenbar direkt bei ihm. Seitdem hätten »keine relevanten Gespräche« mehr am Telefon abgehört werden können. Laut BKA-Beobachtungen war André Zimmermann zusammen mit der VS-Quelle Kai Dalek in die Organisation des »Rudolf-Heß-Aktionstags« am 17. August 1996 eingebunden. Es wurde vom BKA festgestellt, dass die Aktivitäten der Quellen »weit über eine passive Rolle hinausgingen«. Zimmermann sei immerhin zum Pressesprecher des »Rudolf-Heß-Aktionskomitee« ernannt worden. Mit Dalek soll er auch im Bereich »Feindaufklärung« zusammengearbeitet haben. Im September 1996 beantragte die Bundesanwaltschaft deswegen Durchsuchungsbeschlüsse u.a. gegen die beiden VS-Spitzel. Sie sollen eine Art »Einblick 2« Broschüre geplant haben [5].
Kai Dalek
Kai Dalek geriet bereits Mitte der 1990er Jahre im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die MacherInnen der Anti-Antifa-Broschüre Einblick in den Fokus der Sicherheitsbehörden. Er soll sich demnach im Mai 1992 per Brief dem mitbeschuldigten Neonazi Stephane C. angeboten haben, eine Anti-Antifa-Publikation auf »nationaler Basis« zu layouten. Einige Jahre später habe er dann nach BKA-Erkenntnissen ein Flugblatt und Propaganda-Aufkleber für die Rudolf-Heß-Aktionen 1996 entworfen und vertrieben. Laut BKA habe Kai Dalek auch an internen Vorbereitungstreffen teilgenommen und hätte entsprechende Rundschreiben an Neonazi-Kader verschickt. Die Rudolf-Heß-Aktionen wurden damals höchst konspirativ geplant, um Antifaschist_innen und der Polizei auszuweichen. Zu der von den zwei VS-Spitzeln mitorganisierten Rudolf-Heß-Aktion 1996 im rheinland-pfälzischen Worms wurden auch die späteren NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sowie der NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben mobilisiert. Nachdem Kai Dalek am Heß-Aktionstag an der luxemburgisch-deutschen Grenze von der Polizei festgenommen worden war, soll er ein Gespräch mit einem Beamten des Staatsschutzes verlangt haben, um »eine wichtige Mitteilung« zu machen. Wenn er nicht aus der Haft entlassen werden würde, könne er bezüglich der Rudolf-Heß-Veranstaltung für nichts mehr garantieren, soll er erklärt haben. »Es könne auch zu Anschlägen kommen. Nur im Falle seiner Freilassung könne er deeskalierend eingreifen«, zitierte das BKA-Papier. Dalek schien damals über gute Verbindungen zum frühen politischen Entstehungsmilieu des NSU verfügt zu haben. Als 1995 vom thüringischen LKA gegen den Thüringer Heimatschutz (THS) wegen des Verdachts der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« ermittelt wurde, zählte auch er zu den Tatverdächtigen [6]. Mit Tino Brandt und Kai Dalek waren mindestens zwei der zwölf Beschuldigten Spitzel der Geheimdienste. Kai Dalek (»Undertaker/Kraftwerk.BBS«) und Tino Brandt (»Till Eulenspiegel«) waren auch über das damalige Neonazi-Computer-Netzwerk »Thule Netz« miteinander vernetzt. Mit Dalek hatte der VS offenbar eine Quelle mit Kontakten zum späteren NSU-Milieu geführt. In einem Telefonverzeichnis von Uwe Mundlos fanden Ermittler auch seine Telefonnummer. Im September 1996 beantragte die Bundesanwaltschaft Durchsuchungsbeschlüsse u.a. gegen Zimmermann und Dalek. Sie sollen eine Broschüre mit Privatadressen und Telefonnummern von Politiker_innen, Jurist_innen und Polizist_innen geplant haben [7]. Kai Daleks weiterer Werdegang führte über sein Sicherheitsunternehmen »SECUGUARDS No Limits!« in Weißenbrunn bei Kronach nach Nürnberg. Hier soll er wieder als Spitzel tätig geworden sein, dieses mal allerdings im sogenannten Rotlicht-Milieu.
Michael Petri
Der frühere Bundesvorsitzende der Neonazigruppe »Deutsche Nationalisten«, Michael Petri, war rückblickend betrachtet gut mit anderen VS-Quellen in der Neonazi-Szene vernetzt. So soll er laut BKA-Angaben zusammen mit den VS-Quellen Norbert Weidner, André Zimmermann und Kai Dalek an der Organisation der Rudolf-Heß-Aktionswochen 1994 beteiligt gewesen sein. 1993 war er zeitweilig zusammen mit der VS-Quelle Kai Dalek beschuldigt, an der Erstellung der Anti-Antifa-Publikation Einblick beteiligt gewesen zu sein. Über das »Nationale Info Telefon« in Mainz war 1993 dazu aufgerufen worden, Informationen über »Zecken« zu sammeln und diese unter dem Stichwort »Arbeitskreis Anti-Antifa« an ein Postfach von Michael Petri zu senden. Obwohl er eigentlich »mittellos« war, konnte Petri laut BKA-Angaben Reisen zu internationalen Neonazi-Kontakten durchführen. 1994 soll er mit der VS-Quelle Michael B. zu Gerhard Lauck in die USA und zu dem Holocaust-Leugner Ernst Zündel nach Kanada geflogen sein. 1995 folgte nach BKA-Informationen eine Reise mit seiner damaligen Freundin Melanie D. nach Dänemark, wo Gerhard Lauck verhaftet worden war.
Schlimmer geht’s immer
Bereits im Jahr 2003 waren die deutschen Geheimdienste und ihre Spitzel in den Führungskreisen des deutschen Neonazismus das große Thema in Medien und Politik. Die damalige Bundesregierung war wegen des unkontrollierten Einsatzes von Spitzeln in der NPD-Führungsebene mit dem sogenannten NPD-Verbotsverfahren [8] vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Drei der sieben mitwirkenden RichterInnen äußerten massive rechtsstaatliche Bedenken an der Arbeit der Verfassungsschutzbehörden und stellten »ein nicht behebbares Verfahrenshindernis« fest. Ihrer Meinung nach würde die »staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar [machen]« [9]. Wer damals dachte, schlimmer kann es für die Neonazi-V-Mann-Praxis der Geheimdienste nicht mehr kommen, wurde eines besseren belehrt. Die hier bekannt gewordenen Beispiele zeigen erneut, dass die Zusammenarbeit von Neonazis und Verfassungsschutz offenbar keinerlei Grenzen und Maßstäbe kennt. Wenn sich sogar das BKA gezwungen sah, auf höchster Ebene Alarm zu schlagen, muss es von einer erheblichen Gefahr für die innere Sicherheit durch VS-Spitzel ausgegangen sein. Offenbar entschieden sich die relevanten Entscheidungsträger damals trotzdem dazu, den Verfassungsschutz und seine Quellen wie gehabt weiter machen zu lassen. Das Ergebnis ist mittlerweile bekannt: Aus der von VS-Spitzeln durchsetzten und geführten Neonazi-Szene der 1990er Jahre radikalisierte sich der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und führte über Jahre rassistische Morde durch. Der Verfassungsschutz konnte oder wollte die Täter trotz diverser Spitzel im NSU-UnterstützerInnen-Umfeld nicht stoppen. Eine ernsthafte Konsequenz ist für die deutschen Geheimdienste trotzdem nicht zu erwarten.
[1] Vgl. DER SPIEGEL 45/2012: »Der Brandstifter-Effekt«
[2] Vgl. AIB Nr. 41: »Familie gründen, Techno hören – und das war’s? Einige Eckpunkte zum Umgang mit Neonazi-Aussteigern.«
[3] Vgl. AIB Nr. 73: »Die Deutsche Burschenschaft« und das Urteil des Landgericht Bonn: Az. 9 O 213/12
[4] Vgl. Drahtzieher im braunen Netz, Konkret Literatur Verlag, 1996. Seite 191 f.
[5] Vgl. www.aida-archiv.de: »NSU in Bayern (Teil 1)«
[6] Das Verfahren wurde Ende 1997 von der Staatsanwaltschaft Gera eingestellt.
[7] Vgl. www.aida-archiv.de: »NSU in Bayern (Teil 1)«
[8] Beantragt wurde die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht als Rechtsgrundlage zur Einleitung eines Verbotsverfahrens. In der Öffentlichkeit wurde dieser Vorgang als »NPD-Verbotsverfahren« bezeichnet.
[9] Vgl. AIB Nr. 55: »Ein Diener wird geopfert« und AIB Nr. 59: »Niemand sprach über die Inhalte…«