Protokoll 120. Verhandlungstag – 26. Juni 2014

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Am heutigen Verhandlungstag ging es erneut um den Anschlag in der Kölner Probsteigasse im Januar 2001. Ein Waffensachverständiger und ein Rechtsmediziner verdeutlichten noch einmal, dass die Geschädigte den Anschlag nur durch glückliche Umstände überlebt hat. Dann sagte ein in Thüringen Inhaftierter zu möglichen Waffengeschäften des Angeklagten Wohlleben aus und bestritt, jemals mit Wohlleben zu tun gehabt zu haben. Der für den Nachmittag vorgesehene Zeuge blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.

Zeug_innen und Sachverständige:

  • Karin Ra. (Ermittlungen zu einer Gasdruckflasche, Anschlag in der Kölner Probsteigasse)
  • Dr. Rüdiger Mölle (Sprengstoffsachverständiger, LKA Bayern, Anschlag in der Kölner Probsteigasse)
  • Dr. Oliver Peschel (Rechtsmediziner, Anschlag in der Probsteigasse)
  • Andreas Ke. (Mögliche Waffengeschäfte des Angeklagten Wohlleben)

Der Verhandlungstag beginnt um 9.42 Uhr. Erste Zeugin ist Karin Ra. vom PP Köln. Sie berichtet, dass sie die EK „Probst“ für die ersten drei Tage als Auswärtige unterstützt habe. Sie sei beauftragt worden, die Vertriebswege dieser Sauerstoffflasche zu eruieren. Anhand einer Prägenummer habe sie die Herstellerfirma ermittelt, die Firma Agro in Italien. Es hätten sich weiter Vertriebspartner in Deutschland ergeben, die Firma Gas- und Löttechnik in Offenau und die Firma Rotenberg [phon.]. Sie habe Kontakt mit Mitarbeitern beider Firmen gehabt. Bei der Firma Gas- und Löttechnik sei festgestellt worden, dass die Firma im Jahr 1999 in der 50. Kalenderwoche Gasflaschen von Agro bezogen habe und die dann weiter in Verbrauchermärkte vertrieben habe. Sie hätten von der Firma Daten erhalten und die Ermittlungen auf die Verkäufer im Großraum Köln ausgedehnt, ohne Ergebnisse. Bei der Firma Rotenberg sei letztlich nur die Firma OBI beliefert worden, in deren Markt in Köln-Rath seien einige Flaschen in den Vertrieb gegangen, die letztendlichen Verbraucher hätten nicht ermittelt werden können. Auf Frage sagt Ra, die Prägenummer habe mit „50/99“ begonnen, die weitere Nummer habe sie nicht im Kopf, da habe es sich um die Bauartzulassungsnummer durch den TÜV gehandelt, deswegen habe es auch die Zuordnung als Sauerstoffflasche gegeben. Götzl hält den Rest der Nummer vor.

Zur Füllmenge sagt Ra., die Firma Löt- und Gastechnik habe Angaben machen können, es sei eine Sauerstoffflasche mit Inhalt von 930 ml. Götzl hält vor, dass die Flasche einen Fülldruck von 105 bar gehabt habe. NK-Vertreterin RAin Lunnebach fragt, ob es eine Vorgabe gegeben habe, nur die Vertriebswege in Köln zu ermitteln. Die habe es nicht gegeben; so Ra., es habe sich bei den Ermittlungen herausgestellt, dass sich zunächst die Ermittlungen auf Geschäfte in Köln konzentrieren, weil sich keine weiteren Anhaltspunkte für eine Einschränkung der Verbrauchermärkte ergeben hätten als auf den Postleitzahlenbereich 5. Das sei von Seiten der Kommissionsleitung festgelegt worden, namentlich könne sie das jetzt nicht festmachen. Sie hätten von der Firma Löt- und Gastechnik nur die Kundendaten aus dem Raum Köln bekommen, alle weiteren Daten seien geschwärzt gewesen.

Dann folgt das Gutachten des Sachverständigen Dr. Mölle. Dieser sagt, er habe im April 2013 vom OLG den Auftrag erhalten, eine gutachterliche Stellungnahme über die Sprengvorrichtung Probsteigasse zu verfassen. Es gehe um Sprengwirkung und Gefahrenpotenzial, insbesondere die Reichweite. Mölle geht nach vorne an den Richtertisch. Die Bilder aus seinem Gutachten werden an die Wand projiziert. Es wird eine Skizze des Ladens gezeigt, die Mölle erläutert. Zu sehen ist im Bereich des Aufenthaltsraum in der rechten hinteren Ecke ein Symbol für eine Explosion. Hier habe die Explosion stattgefunden, sagt Mölle. Dann wird ein Foto des zerstörten Aufenthaltsraums gezeigt. Mölle spricht von einem „Bild der Verwüstung“, die gesamte Deckenverkleidung sei zerstört worden durch die gewaltige Druckauswirkung, Querbalken seien aus der Wand gezogen worden. Auf dem Schreibtisch in der hinteren rechten Ecke habe der Korb mit dem Sprengsatz gestanden. Unten sei noch ein kleiner Brandherd gewesen, der schnell gelöscht gewesen sei. Auf dem Bild nicht zu sehen sei links das Fenster, das durch die Druckwelle völlig zerborsten sei. Dann geht Mölle zum eigentlichen Sprengzentrum über. Man sehe eine ca. 50 cm große Ausstanzung, man könne davon ausgehen, dass sich hier der Sprengsatz befand. Außerdem sehe man die sternförmigen typischen Schmauchanhaftungen bei einer Schwarzpulverexplosion. Auf dem nächsten Bild sehe man die Perspektive, die die Geschädigte ungefähr inne gehabt habe. Die Geschädigte habe angegeben, als sie den Deckel der Dose angehoben hatte, habe sie ein Zeitfenster von 5 bis 10 Sekunden gehabt, und in diesem Bereich aus einer Schublade etwas herausgeholt habe. Als sie in der Hocke war und ungefähr Höhe Tischkante sie die Explosion erfolgt.

Zu einem weiteren Bild sagt Mölle, man sehe hier dann den Zwischenraum, der Laden und Aufenthaltsraum verbindet, auch hier sei die Deckenverkleidung zerstört und die Tür des Kühlschranks herausgerissen. Die nächste Skizze vom Laden zeige einen Überblick über alle Schäden aufgrund der Druckwelle. Das Fenster im Aufenthaltsraum sei geplatzt, das Fenster im Vorraum ebenfalls, in diesem Vorraum habe sich eine Türe in den Ladebereich rechts befunden, die sei durch die Druckwelle aufgedrückt worden mit deutlichen Deformationen. Im Verkaufsraum sei hervorstechend, dass vorne die 9 qm große Frontscheibe völlig zerbarst. Der Rolladen sei herausgedrückt und habe verhindert, dass Splitter auf die Probsteigasse gelangten. Im Hinterhof sei eine Wellblechbegrenzung zurück gedrückt und im Hinterhof des Nachbarhauses Nummer 48 habe es auch eine zerborstene Scheibe gegeben. Hier habe man schon eine Entfernung von 12 bis 13 m, die Frontscheibe des Ladens sei 17 m vom Sprengzentrum entfernt. Die nächste Skizze zeige die Splitterverteilung der Splitter aus Blechdose und Stahlflasche dargelegt. Mölle spricht von scharfkantigen Stahlfragmenten der Flasche, vom Messingnippel, der durch das Fenster in den Hinterhof der Nummer 48 geschleudert worden sei, und von zahlreichen Splittern der Blechdose unterschiedlicher Größe.

Dann geht er zum Aufbau der Sprengvorrichtung über. Die Stollendose habe als Umverpackung, als Tarnung gedient, aber auch als Behältnis für die Druckgasflasche. Von dieser Flasche habe er mittlerweile ein Exemplar von der Firma CFH bekommen. Die werde für Schweißarbeiten verwendet, es sei eine Stahlflasche mit Sauerstoff, der normale Fülldruck liege bei 100 bar, der Prüfüberdruck bei 165 bar. Die Flasche sei sehr massiv, wiege 1,2 kg in leerem Zustand. Die Füllung sei Schwarzpulver gewesen, zu dessen Umsetzung benötige man eine Zündeinleitung. Sicher sagen könne man, dass es sich um eine elektrische Zündung handelte. Dazu brauche man Batterien, Schalter und Kabel, die ins Schwarzpulver eintauchen. Dann entstehe eine Glühbrücke, ein Funken und es komme zur Umsetzung. Je nach Korngröße habe Schwarzpulver eine Abbrandgeschwindigkeit von 3 bis 6 Metern pro Sekunde, über 1.000 km/h. Verglichen mit anderen, insbesondere militärischen Sprengstoffen sei das langsam. Schwarzpulver an sich brenne, wenn es auf einem Haufen liegt, nur ab, wenn man es anzündet. Für eine Explosion brauche man einen Einschluss, eine Verdämmung. Ein Kilogramm Schwarzpulver entwickle eine Gasvolumen von 340 Litern, das sei wie drei [phon.] Badewannen. Wenn Schwarzpulver durchzündet, habe man wahrscheinlich mehr, weil eine kolossale Hitze dazu komme. Es seien mindestens 340 Liter in der Flasche zu dem Zeitpunkt, deswegen mehr als 165 bar Prüfdruck. Dann komme es zum Zerbersten der Flasche. Zum Vergleich sagt Mölle, im Ersten Weltkrieg seien Handgranaten mit schwächerer Verdämmung und 300 g Schwarzpulver eingesetzt worden. Dafür, dass die Druckgasflasche voll mit Schwarzpulver war, spreche zum einen, dass Spuren- und Wirkungsbild, die Verletzungen der Geschädigten. Eine Menge von 1 kg erscheine realistisch. Zum anderen gehe es um die Funktionstüchtigkeit. Schwarzpulver sei feinkörnig, rieselfähig. Wenn die Flasche waagerecht liege und nur halb gefüllt sei, habe man evtl. einen Füllspiegel, bei dem der Funke ins Leere geht.

Es habe sich, so Mölle weiter, die Frage gestellt, warum die Vorrichtung im Moment des Deckelanhebens nicht sofort explodiert ist. Eine Vorrichtung zur Verzögerung sei in den Asservaten nicht erkennbar gewesen und würde auch nicht viel Sinn machen, weil diese Konstruktion darauf ausgelegt sei, bei Anheben des Deckels zu explodieren. Sie hätten sich mit einem Physiker unterhalten, es gebe eine plausible Erklärung. Im Asservatenverzeichnis sei erwähnt, dass sechs Akkus gefunden wurden, fünf davon seien entleert gewesen und nur eine habe eine Restspannung von 1,3 Volt gehabt. Weitere Asservate würden darauf hindeuten, dass die Batterien in einer Batteriehalterung in Reihe geschaltet waren. Man müsse bedenken, dass der Korb mindestens vier Wochen unangetastet im Raum gestanden habe. Akkus hätten nie die maximale Spannung. Das lege insgesamt den Schluss nahe, das, als der Deckel angehoben wurde, zwar die Zündeinleitung initiiert wurde, aber durch den Stromkreis zu wenig Spannung anlag und es zu schwach geglüht hat. Zur Zündeinleitung sagt Mölle, es könne sowohl ein Zugzünder gewesen sein als auch eine Druckentspannungsvorrichtung. Wahrscheinlich habe der Konstrukteur einen Sicherheitsschalter angebracht, einen zweiten Schalter, um, wenn der Deckel verschlossen ist, das System scharf zu schalten.

Zur Auswirkung der Bombe sagt Mölle, hier gebe es drei große Gefahrenquellen. Erstens die direkte Druckwelle bei Zerknallen des Behälters. Es gebe empirische Druckwerte, wo der menschliche Körper mit Verletzungen oder tödlichen Verletzungen reagiert. Bei Überdruck von 0,35 bar [phon.] würden die Trommelfelle bersten, wie auch bei der Geschädigten. Eine weitere Grenze sei ein Überdruck von 2,5 bar. Wenn der auf die Brust auftreffe, führe das in vielen Fällen zu tödlichen Lungen- oder Herzquetschungen. Bei Schwarzpulver könne man, je nachdem wie der Behälter zerknallt, die Richtung der Druckwelle nicht vorhersehen und die Stärke der Druckwelle nehme sehr schnell ab. Schätzungsweise sei bei 1 Meter Entfernung ein Druck von 2,5 bar nicht mehr gegeben. Man habe bei der Geschädigten gesehen, dass sie sich weg bewegt hat, ihr Kopf 1 Meter und der restliche Körper etwas weiter entfernt war. Wäre sie in dem Moment der Öffnung der Dose der Explosion ausgesetzt gewesen oder hätte die Dose an den Körper gehalten, um besser den Deckel anheben zu können, dann hätte alleine durch die Druckwelle absolute Lebensgefahr bestanden, so Mölle.

Die zweite Gefahrenquelle sei Trümmer- und Splitterflug. Gefahr gehe hier von den Splittern der Stahldruckgasflasche, der Dose, einer Schnapsflasche im Korb, aber auch von Sekundärsplittern, etwa vom Tisch, aus. Alle Splitter würden beschleunigt und eine hohe kinetische Energie entwickeln. Er habe zwei Beispiele: Auf dem Kühlschrank im Vorraum sei ein großer Splitter gefunden worden, der sei wohl mal der Boden der Gasflasche gewesen. Typische Geschwindigkeiten seien durchaus 300 m pro Sekunde oder 1.000 km/h. Man müsse kein Physiker sein, um zu wissen, dass die Wirkung fatal sein kann. Dann gebe es den Messingdoppelnippel, da habe er ausgerechnet, dass das Bauteil mindestens 15 g gewogen und bei 1000 km/h 675 Joule habe. Eine Pistolenkugel 9 mm habe ca. 500 Joule. Von der Größe her würden dieses Bauteil und die 9-mm-Kugel nicht so weit auseinander liege. Wenn das Bauteil auf einen menschlichen Körper treffe, dann dringe es in den Körper ein, und es könne je nach Eintreten zu schweren bis tödlichen Verletzungen kommen.

Mölle zeigt eine Skizze zu den Gefahrenbereichen im Geschäft. Auf der Skizze sind Gefahrenbereiche im Aufenthaltsraum, im Vorraum, im Laden, vor dem Laden, im Hinterhof, im Hinterhof von Hausnummer 48 und im Ladebereich vor der Tür zum Vorraum eingezeichnet. Zum Gefahrenbereich im Aufenthaltsraum sagt Mölle, hätte es kein Fenster gegeben, durch das der Maximaldruck entweichen kann, wären evtl. die Wände herausgedrückt worden. Mölle spricht von akuter Gefahr durch stark beschleunigte scharfkantige Glassplitter. Dann habe die Schwester berichtet, dass sich im hinteren Bereich bei der Frischwarentheke ein großes Käsemesser befand, das durch den Impuls 6 Meter durch den Raum geschleudert worden sei. Auch dadurch habe hohe Verletzungsgefahr bestanden.

Die dritte Gefahrenquelle sei die gewaltige Hitze, die entstehe. Zusammenfassend könne man sagen: Durch die vom Konstrukteur nicht gewollte, aber durch die lange Stehzeit der Batterien entstandene Verzögerung habe sich die Geschädigte um den Schreibtisch bewegen und nach unten beugen können. Bei der Explosion seien dann der Hauptdruck, aber auch Splitter und Hitze letztendlich lebensrettend von der Tischplatte abgehalten worden. Wenn die Geschädigte direkt davor gestanden hätte, dann hätte sie wohl keine Überlebenschance gehabt. Wären weitere Personen im Aufenthaltsraum gewesen, hätte auch bei diesen akute Lebensgefahr vor allem von Druck und Splitterflug bestanden. Hinter allen Fensterscheiben habe akute Verletzungsgefahr durch stark beschleunige Splitter bestanden, das Gleiche gelte für das beschleunigte Käsemesser im Verkaufsraum und die herausgerissene Tür aus dem Kühlschrank.

NK-Vertreterin RAin Clemm fragt zur Transportfähigkeit der Gasflasche, wie gefährlich es ist, dass sie explodiert. Durch Erschütterung passiere normalerweise nichts, so Mölle, aber sie würden von einem Sicherheitsstromkreis ausgehen, einem zweiten Schalter. Sie würden davon ausgehen, dass die Bombe scharf geschaltet und in den Korb gestellt wurde. Wenn der Korb heruntergefallen und der Deckel angehoben worden wäre, so Mölle, dann wäre natürlich eine sofortige Umsetzung möglich gewesen; scharfgestellt hätte es nicht heruntergeworfen werden dürfen. Clemm fragt nach der Bombe in Nürnberg. Mölle sagt, er habe auf die Frage gewartet. Es werden Bilder von der so genannten Taschenlampenbombe in Augenschein genommen. Mölle sagt, das sei im Juni 1999 in einem türkischen Restaurant gewesen und sei bei ihnen bearbeitet worden. Zum Vergleich legt Mölle ein Bild der Nürnberger Bombe in Originalgröße neben die Druckgasflasche vom Anschlag in der Probsteigasse. Die Bombe aus Nürnberg ist kleiner. Mölle sagt, es handele sich um ein Dreiviertel-Zoll-Metallrohr, Füllmenge sei 40 ml. Die Bombe sei gezündet worden, als eine Reinigungsfachkraft versucht habe, die Lampe anzumachen. Dabei seien die Kappen drauf geblieben. Die Person sei von Verletzungen verschont geblieben. Das Rohr sei angesägt gewesen, habe vorgeprägte Stellen gehabt, um dort platzen zu können. Die einzige Gemeinsamkeit mit der Bombe in der Probsteigasse sei die Füllung mit Schwarzpulver gewesen, sonst gebe es keine großen Übereinstimmungen. Götzl sagt, er wolle die Einvernahme Mölles unterbrechen und zunächst Dr. Peschel hören.

Es folgt der Gutachter Dr. Peschel (zuletzt 39. Verhandlungstag). Peschel sagt, er sei gebeten worden, zu den Verletzungen der Geschädigten Stellung zu nehmen. Man habe einige Zeugen gehört. Er wolle erstmal abstrakt die Möglichkeiten nennen, wie es bei Explosionen zu Verletzungen kommen, dann darauf eingehen, wie es sich konkret bei der Geschädigten realisiert habe, und dann noch auf das weitere Risiko. Peschel sagt, wenn sich ein Feststoff von 1 Liter Volumen rasch in 340 Liter Gas umsetze, dann gebe es einen massiven positiven Druckanstieg und eine wellenartige Druckfront. Erst gebe es die positive Druckwelle, dann Unterdruck. Dies könne beim Menschen zu ganz gravierenden Verletzungen führen. Je höher das Ladungsgewicht, desto höher sei der Spitzendruck. Und je höher Entfernung desto geringer sei der Druck. Peschel spricht in Bezug auf Hautverletzungen von Schürfungen, Prellungen oder kanalartigen Verletzungen, alles drei habe sich bei der Geschädigten gefunden. Es gebe aber keine streng lineare Abhängigkeit von Entfernung und Verletzung. Es gebe unterschiedliche Umgebungsbedingungen, ob es freier oder geschlossener Raum sei, ob sich Gegenstände in der Umgebung befinden, wie die Körperhaltung ist. Es gebe eine ganze Reihe von Zufallsfaktoren, die nicht immer rekonstruierbar seien. Es gebe Berichte von Explosionen in Kriegshandlungen, wo die Personen in gleicher Entfernung ganz unterschiedlich verletzt worden seien. In geschlossenen Räumen könne es zu Gasflussventilen [phon.] kommen, die sich nicht gleichmäßig stark ausbreiten.

Es gebe drei Arten von Verletzungen durch solche Explosionen. Primär seien Verletzungen durch die Schockwelle selber, sekundär durch Geschosswirkungen und tertiär Beschleunigungs- und Verzögerungstraumata. Dann gebe es auch noch thermische Verletzungen, Brandverletzungen und Verletzungen durch Gasinhalation. Bei der Geschädigten gebe es als primäre Verletzungen eine beidseitige Trommelfellruptur. Wesentlicher Erfolgsort bei primären Verletzungen sei die Lunge, die sei das Organ, bei dem aus aufgrund der großen Luft-Flüssigkeits-Grenze [phon.] am ehesten zu Verletzungen komme. Solch eine „Blast-Verletzung“ gebe es hier nicht. Es habe aber im Verlauf der Behandlung Komplikationen mit der Lunge gegeben. Eine Intubation sei erforderlich gewesen. Der primäre Grund sei für Prof. Sp. (118. Verhandlungstag) nicht nachvollziehbar gewesen, die Geschädigte sei ja bereits intubiert in die Klinik von Sp. verlegt worden. Primär sei das gemacht worden, weil sie nicht ansprechbar gewesen sei und Atemschwierigkeiten gehabt habe. Peschel sagt, man wisse nicht, was passiert wäre, wenn die Geschädigte nicht intubiert worden wäre, eine Schutzintubation sei hier zwingend indiziert gewesen. Bei Intubation könne es zu Komplikationen kommen, in erster Linie der Pneumonie. Die Geschädigte habe das so angegeben, Sp. habe es verneint. Man könne das da dahingestellt lassen. Es sei zumindest eine abstrakte Gefährdungspotenzial gegeben. Klar sei, dass es bei einer langfristigen Beatmung immer ein hohes Komplikationsrisiko gebe.

Peschel sagt, dass es in Bezug auf die Frage der Lebensgefahr eine Grauzone gebe. In diesem Fall befinde man sich in dieser Grauzone. Es habe eindeutig eine Indikation für die Beatmung gegeben. Es sei dann ein Extubationsversuch durchgeführt worden, die Eigenatmung habe dabei aber erschöpft. Die Geschädigte sei noch nicht fähig gewesen, eigenständig zu atmen, sei es aufgrund der körperlichen Beeinträchtigung oder der Sedierung. Ob das lebensbedrohlich ist, sei letztlich eine Definitionsfrage. Es sei jedenfalls ein Zustand gewesen, der eine weitere Beatmung erforderlich gemacht habe. Wie das ausgegangen wäre ohne die Behandlung sei spekulativ, aber es sei indiziert. Wenn die Behandlung nicht erfolgt wäre, so Peschel, dann wären die Komplikationen möglicherweise auch lebensbedrohlich gewesen, wenn sich die Eigenatmung erschöpft. Das konkrete Nein, das Sp. zur Lebensgefahr geäußert habe, könne er aus rechtsmedizinischer Sicht nicht teilen. Es gebe Mediziner, die sagen, jeder beatmete Patient sei lebensbedroht. Es gebe die Angabe des Zeugen Q. (118. Verhandlungstag), einen behandelnden Arzt gefragt zu haben, der dann gesagt habe, er wisse nicht, ob es lebensbedrohlich ist. Das zeige, dass sich die medizinische Einschätzung der Situation initial oft schwieriger darstelle als in der Rücksicht. Eine Verletzung an der Lunge habe es im konkreten Fall nicht gegeben, die Langzeitintubation sei aber zu berücksichtigen.

Weitere primäre Verletzungen an Abdominalorganen seien üblich, hätten sich hier aber nicht gefunden. Klassische Schädel-Hirn-Traumata durch die Druckwelle seien nicht berichtet. Wenn es zu Verletzungen am Kopf oder Hirn komme, dann durch Projektile. Die Metallfragmente, die Mölle dargestellt habe, hätten ganz erheblich Gewicht und Beschleunigung gehabt. Die Engergiewerte, die Mölle benannt habe, seien sämtlich in einem Bereich, bei dem sie gravierende Verletzungen erzeugen könnten. Dadurch seien weitere tödliche Verletzungen möglich. Das sei eine Frage des Zufalls, hänge von Distanz und Auftrefffläche ab. Am Auge sei das Verletzungsrisiko nochmal höher. Peschel verweist auf den Vergleich Mölles mit einem 9-mm-Projektil und sagt, man sehe Schussverletzungen auch bei weniger Joule. Bei ungünstigem Kanalverlauf eines solchen Projektils gebe es auch tödliche Verletzungen. Bei der Geschädigten habe es eine große Verletzung und 20 bis 30 kleinere gegeben. Da lasse sich nicht unterscheiden, ob verursacht durch Metallsplitter oder Holzsplitter. Der Großteil der Verletzungen bei der Geschädigten sei wohl durch Holzsplitter entstanden. Man müsse nicht davon ausgehen, dass es nur eine Richtung gibt, aus der projektilartige Gegenstände auf den Körper auftreffen können. Glassplitterverletzungen seinen nicht beschrieben, seien aber denkbar. Dann geht Peschel zu den Staubtätowierungen über: Er benutzt den Begriff „Powder-Tattooing“. Dies sei stark kosmetisch beeinträchtigend. Er erläutert die Entstehung und sagt, dass Augenverletzungen auch durch geringste, feinste und kleinste Projektile möglich seien. Da kämen auch Holz oder die Pulvertätowierungen in Betracht. Das sei hier aber wohl nicht der Fall gewesen. Die Hornhauteinblutung sei wohl durch Druckwirkung entstanden.

Dann geht Peschel zur Augenhöhlenbodenfraktur über und widerspricht Sp., der diese für druckbedingt gehalten habe. Peschel sagt, es gebe sehr wohl eine korrespondierende relativ große Verletzung im oberen rechten Gesichtsbereich, hervorgerufen wohl durch ein tangential auftreffendes Projektil, am ehesten ein großer Metallsplitter. Tertiäre Verletzungen durch Wegschleudern und und Wiederauftreffen der Person seinen hier nicht der Fall. Es gebe aber Verletzungen thermischer Natur oder durch Gasinhalation. Beschrieben sei die Verbrennung Grad 2A. Das sei weitgehend oberflächlich, nicht transplantationspflichtig und habe behandelt werden können. Solche Verbrennungen seien typisch. Es würden enorm heiße Gase entstehen, Größenordnung 1.000 bis 2.000 Grad, die Temperatur nehme aber mit Entfernung sehr stark ab. Außerdem gebe es nur eine kurze Kontaktzeit. Eine Schädigung sei aber ein Produkt aus Temperatur und Kontaktzeit. Deswegen gebe es hier keine tiefgreifenden Verbrennungen dritten oder vierten Grades.

Zusammenfassend sagt Peschel: Es gebe gravierende thermische Veränderungen im Gesicht und an rechter Hand und rechtem Arm. Im gleichen Bereich gebe es entsprechende Splitterverletzungen und Staubtätowierungen. Man habe eine knöcherne Verletzung der Augenhöhle rechts, vermutlich durch Splitterwirkung. Die weiteren genannten Verletzungen am Auge und am Ohr seien als primäre, ggf. auch sekundäre, aber unmittelbare Explosionsfolgen zu charakterisieren. Der Heilungsverlauf mit langer Intubation sei nicht komplikationsfrei gewesen. Das Verletzungsmuster entspreche sehr gut den Beschreibungen, die die Geschädigte abgegeben hat. Er gehe davon aus, und da stimme er mit Mölle überein, dass eine Situation, wo die Geschädigte sich direkt über der Explosion befunden hätte, verbunden gewesen wäre mit Verletzungen, „die nicht mit dem Leben vereinbar sind“. Zu den Risiken für andere beteiligte Personen sagt Peschel, die seien sicherlich abstrakt gegeben, aber schwer einzuschätzen. Der Umstand alleine, dass es bis hinaus zur großen Fensterscheibe zur Zerstörung gekommen ist, spreche dafür, dass es da durch Projektile, wie das Käsemesser, zu gravierenden, ggf. tödlichen Verletzung hätte kommen können. Das widerspreche auch nicht der Wahrnehmung der Schwester, sie habe keine Druckwelle gespürt. Es gebe stark ausgeprägte Differenzen von einem zum anderen Standort. Das könne auch durch 1 oder 2 Meter räumliche Differenz zu entsprechenden primären oder sekundären Verletzungen führen. Dann werden Bilder von der intubierten Geschädigten im Krankenhaus in Augenschein genommen, die die massiven Verletzungen verdeutlichen. Peschel kommentiert die Bilder. Danach fragt Götzl zum Risiko für den Vater, der ja beim Fahrzeug gestanden habe. Peschel sagt, der Rolladen sei unten gewesen. Wenn das nicht so gewesen wäre, so Peschel weiter, hätte man mit Glassplitterverletzungen rechnen müssen, am anfälligsten sei hierbei das Auge.

Nach der Vernehmung von Peschel wird auch der SV Mölle ohne weitere Fragen entlassen.

Als nächstes wird der Zeuge Andreas Ke. gehört. Ke. war zuvor von Beamten durch dieselbe Tür in den Saal geführt worden, durch die die Angeklagten Wohlleben und Zschäpe den Saal betreten. Ke. bestätigt, dass er sich derzeit in der JVA Tonna in Haft befindet. Götzl belehrt den Zeugen nach § 55 StPO. Götzl sagt, es gehe darum, ob Ke. von Wohlleben eine Waffe erhalten hat im Zeitraum 2003/2004. Ke.: „Ich hatte nie einen Kontakt mit Herrn Wohlleben.“ Ke. verneint die Frage, ob er Wohlleben kennt. Götzl fragt, ob es denn eine Situation gegeben habe in dem Zeitraum, dass Ke. mal eine Waffe erhalten hat als Gegenleistung für etwas anderes. Ke.: „Nein.“ Auf die Frage, ob er etwas mit dem Namen Wohlleben verbindet, sagt Ke.: „Im Nachhinein schon.“ Nachdem er den Besuch von der Polizei gehabt habe, habe er sich erkundigt. Da habe er erfahren, dass Wohlleben aus Jena kommt. Zur Frage, ob Wohlleben nach Ke.s Kenntnis in der JVA Tonna war, sagt Ke.: „Wusste ich nicht.“ Götzl fragt nach Sz. Ke. sagt: „Krzysztof Sz. kenne ich. Was wollen Sie da wissen?“ Den kenne er seit 2003, kennengelernt habe er ihn durch Re. (115. Verhandlungstag), aus den Augen verloren habe er Sz. 2005. Er würde sagen, dass er mit Sz. ein gutes Verhältnis gehabt habe und das auch bis zum Schluss, „alles okay“. Götzl möchte wissen, ob Ke. weiß, ob Sz. Kontakt zu Wohlleben hatte. Ke.: „Das weiß ich nicht.“ Götzl fragt nach Andreas Re. Den kenne er seit ca. 2002, antwortet Ke.

Götzl hält aus der Aussage von Sz. vor: Sie hätten irgendwelche Waffen besorgen wollen für Überfälle, Ke. habe gesagt, er kenne jemanden, der einen Revolver habe und den tauschen würde gegen ein Gerät zur Überwindung elektronischer Wegfahrsperren für VW T5. Ke. sagt, die Besorgung einer Waffe wäre nicht so kompliziert gewesen, Sz. habe beste Möglichkeiten gehabt, sich bessere Waffen leichter zu besorgen. Auf Frage nach Systemen zur Überwindung von Wegfahrsperren sagt Ke., sie hätten so etwas nicht gehabt, sie hätten „Polenschlüssel“ gehabt. Das sei das einzige, was Sz. gehabt habe. Vorhalt aus der Aussage von Sz.: Sz. habe darüber verfügt, habe diese Systeme gehabt und Ke. mit fünf Aufbrechern gegeben. Götzl fragt, ob das zutreffend sei. Ke.: „Nein.“ Vorhalt aus der Aussage von Sz.: Nach einer Woche habe sich Ke. mit Sz, und Re. in Verbindung gesetzt, dass der Mann, von dem er die Waffe bekommen habe, sich beschwert habe, die würde nicht funktionieren. Götzl sagt, dann sei im Protokoll eine Verbesserung eingefügt: Nach einer Woche hätten sie die Waffe schon gehabt, aber der Mann habe sich beschwert.

Götzl: „Was sagen Sie dazu?“ Ke. sagt, er könne dazu nichts sagen, das habe nicht stattgefunden. Götzl fragt, ob für Ke. Umstände ersichtlich seien, warum Sz. diese Aussage zu ihm, Ke., macht: „Erschließt sich mir nicht, nein.“ Ke. bestätigt, dass er verurteilt worden ist im Zusammenhang mit Straftaten betreffend Sz. und Re. Er bejaht auch, geständig gewesen zu sein, auch Sz. und Re. seien geständig gewesen. Er selbst habe im Verfahren zuerst Angaben gemacht. Auf die Frage, ob er Erkenntnisse dazu hat, wie Sz. und Re. darauf reagiert haben, sagt Ke., das könne er nicht sagen, Sz. und sie [Ke. und Re.] hätten getrennte Prozesse gehabt. Götzl fragt, ob Ke. Erkenntnisse zu einem Revolver „Astra“ hat. Ke.: „Nein.“ Götzl: „Wissen Sie etwas darüber, ob Sz. so einen Revolver besaß oder Re.?“ Das könne er nicht sagen, antwortet Ke., es seien sehr viele gewesen, er könne sich auch nicht vorstellen, dass sie wegen einer Waffe so etwas gestartet hätten. Götzl: „Sind für die Taten Waffen verwendet worden?“ Ke.: „Ja, natürlich.“ Die Waffen seien komplett von Sz. besorgt worden und der habe die auch aufbewahrt.

Götzl fragt, wie Ke.s Verhältnis zu Re. damals gewesen ist und wie es mittlerweile ist. Das sei wohl so wie freundschaftlich gewesen, sagt Ke., das habe sich wohl etwas getrübt. Auf Nachfrage sagt Ke., sie hätten wohl verschiedene Interessen gehabt zum Schluss. Götzl: „Worauf spielen Sie an?“ Ke. antwortet, Re. sei mit seinen, Ke.s, Zeugenaussagen nicht ganz zufrieden gewesen: „Es ist etwas zu viel gesagt worden.“ Götzl: „Belastendes?“ Ke.: „Ja, natürlich.“ Dann hält Götzl aus der Vernehmung von Ke. selbst vor, dort stehe zu Re., der sei auch wegen ihm, Ke., verurteilt worden, weil er im Ermittlungsverfahren Angaben gemacht habe, der Staatsanwalt habe ihm, Ke., die „Panzerfaust“ auf den Kopf gesetzt, er habe Angaben machen müssen. Ke.: „Sz., nicht Re.“ Götzl sagt, hier gehe es um Re. Ke.: „Okay.“ Götzl fragt, wie es mit Sz. sei. Ke.: „Das Gleiche.“ Götzl fragt, ob Ke. sich in Jena aufgehalten habe. Er habe sich hauptsächlich in Jena und Berlin aufgehalten, antwortet Ke. In Jena sei er vielleicht von 1998 bis 2005 gewesen. Auf die Frage, ob ihm die Namen Mundlos und Böhnhardt etwas sagen, antwortet Ke.: „Ursprünglich nicht, aber jetzt natürlich.“ Aus der Zeit sage ihm das nichts. Er verneint die Fragen nach Zschäpe, Wohlleben, Holger G., Carsten S.

Dann fragt NK-Vertreter RA Hoffmann, ob Ke. einen Enrico Th. aus Jena gekannt habe, was Ke. verneint, der Name sage ihm nichts. Hoffmann fragt zu Lichtbildvorlagen. Da habe er, so Ke., bei einigen Personen gedacht, dass er die vielleicht vom Sehen kennt, bei zwei oder drei von vielleicht 30 Bildern, aber niemanden erkannt. Hoffmann fragt, was „vom Sehen“ bedeutet, ob aus dem Stadtbild oder dem Bekanntenkreis. Ke. antwortet, nicht Bekanntenkreis, allgemein. Auf Frage nach der Arbeitsteilung in der Gruppe sagt Ke., Sz. sei für die Logistik zuständig gewesen, die Besorgung von Waffen und Autos. Und „die Strecke“ habe zum Teil auch gemacht werden müssen, die Fluchtwege. Auf Frage, ob er oder Re. bei der Besorgung von Autos eingebunden war oder Sz. das alleine gemacht hat, sagt Ke., das habe Sz. nicht alleine gemacht. Sz. sei Pole und habe einen ganzen Truppenteil hinter sich gehabt, die hätten das zu zweit oder dritt gemacht. Die Autos seien geknackt, gestohlen und in Verstecken bereitgestellt worden. Hoffmann fragt, ob Sz. über Freunde verfügt habe, die das konnten. Ke. sagt, das habe Sz. selbst gekonnt, die Leute seien fürs Fahren zuständig gewesen. Hoffmann fragt, ob Ke. keinen Überblick gehabt habe, wer wie wann Waffen oder Fahrzeuge besorgt hat. Ke. sagt, er sei informiert gewesen, aber nicht im Detail. Auf die Frage, ob er zu der Zeit auch mit anderen Personen zusammen Straftaten oder Geschäfte begangen hat, sagt Ke., es habe nur diese Truppe gegeben, mit anderen habe er zu keinem Zeitpunkt etwas zu tun gehabt.

Es folgt die Mittagspause bis 13.22 Uhr. Danach sagt Götzl, der Zeuge Thomas Bi. sei nicht erschienen, habe sich auch nicht entschuldigt. Götzl sagt, es seien Anträge angekündigt. NK-Vertreterin RAin Lunnebach sagt, sie und ihre Kollegin RAin Clemm würden drei kurze Anträge verlesen wollen. Sie wolle in Erinnerung rufen, dass zum Ende der letzten Hauptverhandlung die neue „Trittbrettfahrertheorie“ eröffnet worden sei, dass sich der NSU des Anschlags in der Probsteigasse zu Unrecht rühme, wobei man dann fragen müsse: „Für die anderen zu Recht?“ Es gehe darum, so Lunnebach, dass das Bekennervideo echt sei und sie von der Täterschaft des NSU ausgehen. Sie würden aber nicht umhin kommen, dass der Vater der Familie gesagt habe, es seien nicht Mundlos oder Böhnhardt gewesen, dass die Mutter sich weiter verfolgt fühle. Deswegen würden sie alles tun, um der Aufklärung zu dienen.

Dann beantragt RAin Lunnebach, den im Jahr 2001 zuständigen Dienststellenleiter des Zeugen Mittler (117. Verhandlungstag), Lothar Sch., als Zeugen zu hören. Sch. werde bekunden: 1) Dass entweder er oder Mittler bereits am 19.01.2001, als feststand, dass es sich bei der Tat in der Probsteigasse um ein Sprengstoffdelikt handelt, den Staatsschutz mit einer Zweitakte informiert hat, der dann unverzüglich begonnen hat, zu ermitteln. 2) Dass er durch Kollegen vom Staatsschutz beim PP Köln erfahren hat, dass auch die Verfassungsschutzdienststellen über das Sprengstoffdelikt informiert wurden und um Ermittlungen sowie Mitteilung von Erkenntnissen gebeten wurden. 3) Dass hierüber vom Staatsschutz eigenständige Akten bzw. Vermerke gefertigt worden sind. Außerdem wird beantragt, die beim Staatsschutz des PP Köln und bei den VS-Dienststellen angefertigten Akten und Vermerke zum Sprengstoffanschlag Probsteigasse beizuziehen. Aktenkundig sei eine Einbindung der Abteilung Staatsschutz in diesem Verfahren lediglich im Zusammenhang mit einer Spurenermittlung zur Spur „Dirk“. Weitere Hinweise auf eine Tätigkeit des Staatsschutzes würden sich in der vorliegenden Akte nicht ergeben, solche seien aber nach den Angaben, die Mittler hier im Verfahren und beim Bundestags-UA gemacht habe, erfolgt und nach den Vorgaben des PP Köln bei Delikten dieser Art vorgeschrieben. Ebenso sei auch davon auszugehen, dass das Amt für VS durch den Staatsschutz des LKA in die Ermittlungen eingebunden wurde und Ermittlungen angestellt hat. Auch diese würden sich jedoch nicht aus der vorliegenden Akte ergeben. Für diese Vorgehensweise, die Sch. bekunden werden, spreche auch das Vorgehen der Polizeibehörden nach Bekanntwerden des NSU im November 2011.

Aktenkundig sei, dass das BKA, Abteilung Staatsschutz, am 18.01.2012 die Phantombilder, die im Zusammenhang mit dem Sprengstoffanschlag von Vater und Schwester der Geschädigten erstellt wurden, an das BfV übersandt hat. Aufgrund dieser Weitergabe sei am 8.2.2012 vom BfV die Weitergabe an das LfV NRW erfolgt. Dann sei 9.2.2012 die dienstliche Erklärung zu einer Ähnlichkeit des Phantombilds mit dem dort offenbar bekannten Neonazi Johann H. mitgeteilt worden. Sch. sei dazu zu befragen, welche Angaben genau zum damaligen Zeitpunkt vom Staatsschutz des PP Köln übermittelt worden sind, und wie genau und wer von den VS-Ämtern über den Anschlag damals informiert worden ist. Sch. werde auch bekunden, welche weiteren Spuren vorlagen. Angesicht dessen, dass die von Vater und Schwester gezeichneten Phantombilder sich zwar untereinander ähneln, aber wenig bis keine Ähnlichkeit mit den in der Anklage vermuteten Tätern, nämlich den getöteten Mitgliedern des NSU, bestehe, sei aufzuklären, welche Erkenntnisse über weitere mögliche Täter zum damaligen Zeitpunkt hinsichtlich der Straftat des Anschlags in der Probsteigasse bestanden haben. Dies sei erforderlich, um das weitere Unterstützernetz des NSU zu ermitteln, da hierdurch nicht zuletzt auch die besondere Einbindung der Angeklagten Zschäpe und der weiteren Angeklagten in den NSU bewiesen werde.

Dann beantragt RAin Clemm, die Leiterin des VS NRW und die Zeugin KKin Vo. vom BKA zu laden und zu vernehmen. Die Leiterin des VS NRW werde angeben, dass entweder sie selbst, oder eine von ihr namentlich zu benennende Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter ihrer Behörde am 8.2.2012 spontan eine Ähnlichkeit des Johann H. mit den Phantombildern, die von der Familie gezeichnet worden sind, festgestellt habe. Außerdem werde sie angaben, dass H. seit Mitte der Neunziger als aktives Mitglied der gewaltbereiten rechtsextremen Szene in NRW bekannt sei, dass er Mitglied der KS „Walter Spangenberg“ sei und häufig als Techniker bei rechtsextremen Veranstaltungen fungierte, dass er wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz verurteilt wurde und auch heute noch als Mitglied der Neonaziszene in Köln und Umgebung tätig ist. KKin Vo. werde angeben, dass sie den aktenkundigen Vermerk vom 29.2.2012 zur Spur H. gefertigt, aber keine weiteren Erkenntnisse zusammengetragen habe, weil sie durch das BKA die Rückmeldung bekommen habe, dass die Schwester bei einer Wahllichtbildvorlage im Februar 2012 Johann H. als möglichen Täter ausgeschlossen habe. Dass weitere Erkenntnisse über H. vorliegen, ergebe sich unter anderem daraus, dass das LfV ein Lichtbild mit einer Ganzkörperaufnahme des Zeugen H. vorrätig gehabt habe, das mit dem Titel „Frühjahr 2002“ versehen gewesen sei und dass Mitarbeiter des VS H.s Ähnlichkeit mit dem angefertigten Phantombild aufgefallen sei. Auf dem in der Akte vorliegenden Foto sei aufgrund der Unschärfe des Fotos keine Ähnlichkeit mit dem Phantombild oder irgendeiner anderen Person festzustellen. Insofern sei es auch keineswegs verwunderlich, dass Vater und Schwester bei Vorlage dieses Fotos keinen Wiedererkennungseffekt gehabt hätten. Dem VS würden offenbar entweder weitere Fotos oder andere Ermittlungsquellen vorliegen, die Ähnlichkeit mit dem Phantombild darstellen. Die Leiterin des LfV sei daher anzuhalten, das Bild „Frühjahr 2002“ und sämtliche weiteren Fotos oder Videoaufnahmen von H. aus dem Jahr 2000, 2001 zur Vernehmung mitzubringen. Der Spur H. sei nicht in ordnungsgemäßer und ausreichender Form nachgegangen worden. Die Bilder müssten zur Akte genommen werden, um darüber entscheiden zu können, ob eine weitere Einvernahme der Familienmitglieder erforderlich ist. Dies sei erforderlich, um das weitere Unterstützernetz des NSU zu ermitteln, da hierdurch nicht zuletzt auch die besondere Einbindung der Angeklagten Zschäpe und der weiteren Angeklagten in den NSU dargestellt und deren Täterschaft bewiesen werde.

Zuletzt beantragt Lunnebach, die Verwaltungsakte der Waffenbehörde zu Johann H. beizuziehen.

Dann folgt eine Erklärung nach § 257 StPO von RA Hedrich, Verteidiger des Angeklagten André E. Am Anfang ihrer Befragung am 119. Verhandlungstag habe die Schwester der Geschädigten angegeben, dass Weihnachten für sie und ihre Familie als Datum der 24. Dezember sei. Da befinde sie sich in Übereinstimmung mit ihrem Vater. Zugleich hätten Vater und Schwester übereinstimmend angegeben, dass der Korb zwei bis drei Tage vor Weihnachten zwischen 17.30 und 18 Uhr abgegeben worden sei. Der 24.12.2000 sei, so Hedrich, ein Sonntag gewesen. Frühestes Datum der Abgabe des Sprengsatzes sei also Donnerstag, der 21.12.2000. Der Mietzeitraum des auf den Namen André E. gemieteten Wohnmobils sei laut Vertrag vom 19.12. und 21.12., Abgabezeit 18 Uhr, Abgabeort Chemnitz, gewesen. Zwischen Tatort und Chemnitz würden ca. 500 km liegen, die Abgabe habe spätestens um 18 Uhr am 21.12. stattgefunden. Ein Vertragsverlängerung sei nicht ersichtlich, auch keine Angaben der zurückgelegten Kilometer. Es sei ausgeschlossen, dass das Wohnmobil sich zum frühest denkbaren Zeitpunkt der Übergabe des Geschenkkorbes in Köln befunden hat. Die Fahrtzeit betrage für ein Wohnmobil dieses Typs betrage mindestens zwischen 6 und 7 Stunden. Auf die Frage, ob André E. das Wohnmobil persönlich angemietet hat, komme es daher gar nicht an, weil das Wohnmobil nicht vor Ort gewesen sein könne. Wann wer die Bombe gebaut hat, wo wer sie scharf gemacht und als Geschenkkorb abgegeben hat, habe die Beweisaufnahme bisher nicht ergeben. Ein Zusammenhang zwischen dem Wohnmobil und der Verbringung des Korbes scheide „denklogisch“ aus.

Der Verhandlungstag endet um 13.39 Uhr.

NK-Vertreter Scharmer: „Die Verletzte hat offensichtlich nur durch einen unglaublich glücklichen Zufall überlebt: Zum Zeitpunkt der Detonation bückte sie sich hinter einen Schreibtisch, um etwas aus der untersten Schublade zu holen. Nur so konnte sie mit schwersten Verletzungen überleben. (…) Die Anträge [von Lunnebach und Clemm]zielen darauf ab, dass die vollständigen Akten vorgelegt werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass weitere Mitglieder des ‚NSU‚ existieren, die an dem Anschlag mitgewirkt haben. Diese Frage stellt sich insbesondere bei dem bekannten Rechtsextremisten Johann H.“

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