Seit fast einem Jahr läuft in München der NSU-Prozess. Das Verfahren soll die strafrechtliche Schuld der Angeklagten beweisen. Da die Aufarbeitung des NSU-Komplexes aber noch immer unzureichend ist, hoffen viele Angehörige der Opfer auf den Prozess. Der Widerspruch zwischen Strafprozessordnung und dem Wunsch nach Aufarbeitung bricht dort immer wieder auf. Ein Ortstermin.
Von Darius Ossami, zuerst erschienen bei Publikative.org
Nach der langen Durchsuchung zwischen düsteren Betonstreben wünscht die freundliche Polizistin „viel Spaß“. Zu Beginn des 91. Verhandlungstages im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München ist die Tribüne mit 35 Zuschauern und 25 Pressevertretern nur etwas mehr als halb gefüllt. Auf der hinteren Bank wachen sechs Justizbeamte penibel darüber, dass sich die Zuschauer an die zahlreichen Regeln halten. Unten im Gerichtssaal: Geschäftige Treiben, kollegiales Geschwätz, eine fast familiäre Atmosphäre. Das Anwaltsteam Heer, Sturm und Stahl schreitet herein. Beate Zschäpe stellt für sie Bonbons zur Verfügung. Die Protokollantinnen schenken ihr gelegentlich ein aufmunterndes Lächeln.
Die Nebenkläger, die Angehörigen der Opfer müssen auch durch diesen Saal, um zu ihren Plätzen zu gelangen. Mit versteinerten Mienen bahnen sie sich ihren Weg, dicht vorbei an scherzenden Justizwachtmeistern und den mutmaßlichen Mordhelfern und ihren Verteidigern.
Der Prozess beginnt mit einer halben Stunde Verspätung und wird sofort wieder unterbrochen: Nicole Schneiders, Anwältin von Ralf Wohlleben und selbst in der rechten Szene beheimatet, will sich ein 1:27 Minuten lange Video zunächst einmal selbst anzuschauen, bevor es öffentlich gezeigt wird. Der Oberste Richter Götzl gewährt 20 Minuten Unterbrechung.
Das Video sorgt bei Zschäpe, Wohlleben und ihren Anwälten für Erheiterung. Danach ist es schon 11 Uhr. Nun bekommen auch alle anderen Anwesenden das anderthalbminütige Video zu sehen; es zeigt das Internetcafe von Halit Yozgat in Kassel, wenige Wochen nach dessen Ermordung. Der damalige V-Mann-Führer Andreas T. ist in dem nachgestellten Video zu sehen. Er sitzt auf Platz Nummer zwei, steht auf, geht in den Vorderraum, schaut dann nach draußen nach dem Besitzer, geht wieder rein und legt schließlich eine Münze auf den Schreibtisch. Das alles, ohne Halit Yozgat zu sehen, der zu diesem Zeitpunkt wohl schon tot hinter dem nur 73 cm niedrigen Tisch liegt. Ein Zeuge der Polizei erklärt, wie und warum das Video mit dem damals unter Mordverdacht stehenden T. gedreht worden ist.
Weiter hinten im Gerichtssaal sitzt der Vater von Halit Yozgat. Nach der Befragung des Beamten erteilt Richter Manfred Götzl Ismail Yozgat das Wort. „Ich begrüße das Gericht und die Familienangehörigen der Märtyrer“, liest der 58 Jahre alte Yozgat auf Türkisch, ein Dolmetscher übersetzt. Götzl unterbricht ihn scharf. Beziehe sich die Erklärung denn auf den gehörten Zeugen, wie es die Strafprozessordnung verlange? Für Erklärungen sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Yozgat bricht ab; er sieht traurig aus, seine Miene bleibt unbewegt. „So viel Zeit muss sein“, bittet Yozgats Anwalt Thomas Bliwier. Yozgat könne nicht zu jedem Prozesstag anreisen und der Prozess sei für ihn eine große emotionale Belastung. Würde man jetzt nicht diskutieren, wäre die Erklärung längst verlesen.
Götzl läuft rot an: „Es ist ungehörig, wenn Sie mir so kommen!“ Es ist ein entwürdigendes Schauspiel. Götzl argumentiert, dass eine Erklärung an diesem Punkt nach der Prozessordnung nicht vorgesehen sei. Er bittet Bundesanwaltschaft und Verteidigung um ihre Stellungnahmen. Der Bundesanwalt sieht ebenfalls rechtliche Probleme, Zschäpe-Anwalt Heer ist sowieso strikt dagegen. Yozgat darf seine Erklärung nicht abgeben.
Die Nebenklage zieht sich 15 Minuten zur Beratung zurück und erklärt dann, die Stellungnahme schriftlich einzureichen. Ob Ismael Yozgat sie selber verlesen darf, bleibt zunächst offen.
Besuch von der NPD
Der nächste Verhandlungstag: Vor dem Gericht in der Morgensonne steht der mutmaßliche Terrorhelfer André E. und raucht. Damit demonstriert er: Ich brauche mich nicht zu verstecken. Im Publikum sitzen diesmal drei Nazis: Karl Richter, NPD-Aktivist und Stadtrat von der Münchener „Bürgerinitiative Ausländerstopp“, eine Aktivistin aus dem Umfeld der „Freien Kräfte München“ und Philipp Hasselbach, Neonazi aus dem Umfeld des Neonazis Norman Bordin. Hasselbach ist erst im Februar wieder aus dem Knast entlassen worden.
Im Gericht sind Lutz Irrgang geladen, der damalige Direktor des VS Hessen und – mal wieder – Andreas T.. Der 72-jährige Irrgang zeichnet von sich das Bild eines dienstbeflissenen, sogar antifaschistisch eingestellten Verwaltungschefs, der vor allem das Wohl seiner Behörde im Blick hatte. „Also, am Tattag war ich im Osterurlaub“, beginnt er seine Aussage. Er zeigt sich überrascht, von einigen Mauscheleien und Absprachen so gar nichts mitbekommen zu haben. Nachdem T. unter Mordverdacht geraten war, wolle er diesen nur noch einmal getroffen und ihm dabei (erfolglos) ins Gewissen geredet haben.
Die Fragen von Bliwier legen nahe, dass der hessische Verfassungsschutz gemauert hat, denn die Mordkommission hat sich über die mangelnde Kooperation des VS Hessen beschwert. Irrgang will jedoch seine volle Unterstützung zugesichert haben. Bliwier fragt nach einem VS-Mitarbeiter, der erst in Hessen, dann in Thüringen gearbeitet hat. Hat er in Hessen V-Leute geführt oder geworben? Das will Irrgang nicht ausschließen. Der besagte VS-Mitarbeiter W. hat Tino Brandt angeworben und „geführt“ sowie eine Ex-Freundin von Ralf Wohlleben… und wieder interveniert die Verteidigung: Zschäpe-Anwalt Stahl weist darauf hin, dass diese Frage die Aussagebefugnis von Irrgang verletze. Der Richter gibt statt. Mittagspause.
In der Kantine trifft man sich wieder und sitzt doch getrennt: Vorne die rechten Szeneanwälte von Ralf Wohlleben, hinten die Richter, dazwischen die Nebenkläger und ihre Anwälte. Rechtsanwalt Carsten Ilius sagt beim Mittagessen, dass der ganze Komplex in kleine Teile zerrissen werde; denn an einem Tag werden häufig Zeugen zu verschiedenen Themenbereichen geladen, weil der Zeitplan völlig aus den Fugen geraten sei. Und wenn die Nebenklage doch einmal an zentrale Punkte rankomme, interveniere entweder das Gericht oder die Bundesanwaltschaft. Beweise der Bundesanwaltschaft sind vor Gericht nicht zugelassen, die Nebenklage muss immer nach Karlsruhe fahren und sich handschriftlich Notizen machen. Ilius vertritt Elif Kubasik, Witwe des in Dortmund erschossenen Mehmet Kubasik. Dessen Tochter sagt: „An solchen Tagen verliert man schon die ein oder andere Hoffnung. Es gibt gute Tage, an denen man denkt, es kommt Gerechtigkeit. Oder Tage wie heute und gestern, wo man nicht weiß, was man denken soll.“
“Mag sein”
Zum fünften Mal erscheint der dubiose ehemalige Verfassungsschützer Andreas T., der sich wieder einmal „an die genauen Umstände nicht mehr erinnern“ kann. War er beim Ausflug mit dem Schützenverein nach Tschechien auch in den Ceska-Werken? „Mag sein“, dass es auch einen Besuch bei einer Gießerei im Zusammenhang mit den Ceska-Werken gegeben hat. Hatte er Verbindungen zu Michael Schmidt, dem ex-Chef der Kasseler Hells Angels? „Kenn ich vom Sehen“. Wusste er von den personellen Überschneidungen zwischen Blood & Honour und den Hells Angels in Kassel? Die Fakten, die T. nicht mehr leugnen kann, bezeichnet er als Zufälle. Für alles andere gilt: „Hundertprozentig kann ich’s nicht sagen, wie gesagt, das ist fast acht Jahre her.“
Um 17:10 meldet sich Verteidiger Heer zu Wort: Seine Mandantin sei nun nicht mehr verhandlungsfähig. Der Prozesstag wird beendet; Andreas T. wird nochmal kommen müssen.
An diesem Verhandlungstag ist Ismail Yozgat wieder nur Zuschauer. Er sieht eine teilnahmslose Bundesanwaltschaft. Er sieht die mutmaßlichen Komplizen der Mörder seines Sohnes, wie sie sich langweilen oder mit ihren Anwälen scherzen. Er sieht die mauernden Verfassungsschützer, die auch heute rückblickend von einem „internen Problem der betroffenen Bevölkerung“ reden. Er sieht, wieder einmal, den zwielichtigen Andreas T.. War er Zeuge der Tat? Mitwisser? Mittäter? Oder wirklich nur die arme Wurst, als die er sich verkauft? Vor dem Gerichtsgebäude posiert der Neonazi Philipp Hasselbach feixend mit einem „Freiheit für Wolle“-Shirt. Das sieht Yozgat nicht. Es ist wohl auch besser so.
Nachtrag: Am 13. März, den 93. Verhandlungstag, darf Yozgat seine Rede doch noch halten. Dabei wird er unterbrochen: Durch Anwalt Heer, der seine Mandantin Zschäpe zu Unrecht als „Mörderin“ verunglimpft sieht.