»Wenn die Gesamtanalyse lückenhaft ist, helfen auch Reformen nicht«

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Rede von Özge Pınar Sarp von NSU-watch vor dem Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhaus zum Thema NSU.

In der Sitzung wurden außerdem Eva Högl (SPD), Clemens Binninger (CDU), Petra Pau (die Linke) und Christian Ströbele (die Grünen), die jeweils als Abgeordnete im Untersuchungsausschuss des Bundestages saßen, angehört und befragt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

»Aufklären und Einmischen« – »Aydınlatma ve Müdahale« lautet das Motto von NSU-Watch. In diesem Sinne haben wir die Arbeit des Bundestagsuntersuchungsausschusses kritisch begleitet – wir haben uns eingemischt mit Recherchen und Berichten zu Neonazis, die keine staatliche Stelle veröffentlicht sehen wollte. Und in diesem Sinne dokumentieren wir seit Mai 2013 auch den Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten vor dem OLG München. Wir überlassen das Aufklären weder den Behörden noch den politisch Verantwortlichen alleine.
Hier und heute will ich mich einmischen und über eine große Lücke im Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses reden – eine Leerstelle, die sich auch durch die über 100 Sitzungstage gezogen hat. Uns fehlt ein zentraler Punkt: Denn das Problem heißt Rassismus! Jedes Detail, alle Fehler im NSU-Komplex, die der Bericht akribisch auflistet, verweisen auf Rassismus als zentrale Ursache für das Staatsversagen – unabhängig davon, ob es um die Ermittlungsbehörden geht, die Medien, die Justiz oder die Gesamtgesellschaft. Doch im gemeinsamen Abschlussbericht finden wir an keiner Stelle das Wort Rassismus. Lediglich, wenn es explizit um die Denkweise der Nazis geht, wird Rassismus genannt, sonst nirgendwo. Wir gehen deswegen davon aus, dass Rassismus immer noch nicht genug wahrgenommen wird, noch nicht in all seinen Formen von den politisch Verantwortlichen erkannt worden ist.

In dem Abschlussbericht wird das Hauptproblem in der mangelnden Vernetzung der Geheimdienste und der Polizeibehörden gesehen. Aus unserer Sicht ist die Mitschuld und Mitverantwortung staatlicher Behörden für den Terror des NSU wesentlich komplexer. Und institutioneller Rassismus muss als zentrales Problem genannt werden. Weder der VS und das V-Leute-System, noch die Fehler aller öffentlichen Einrichtungen können einziger Grund für die Nicht-Aufklärung der NSU-Morde sein.

Inzwischen gehen außerdem die zentralen offen gebliebenen großen Fragen unter: Warum wurden genau diese neun Opfer ausgewählt? Wer gehört noch zum Netzwerk des NSU? Wie dicht waren die Geheimdienste an den Untergetauchten und ihrem Umfeld? Warum wurden an mehren Orten – auch in Berlin – Akten geschreddert? Und was war deren Inhalt? Weil es keine Antworten auf diese Fragen gibt, bleiben die Morde und Anschläge unaufgeklärt. Auch der UA hat es nicht geschafft, das Schweigekartell der Behörden zu durchbrechen.
Im Abschlussbericht stehen die Fehler der Einzelpersonen im Vordergrund. Heißt das denn umgekehrt, dass ohne diese Personen, die systematisch Fehler gemacht haben, diese Verbrechen nicht passiert wären? Welches Versagen und welches Nicht-Handeln hat hier Menschen das Leben gekostet? Warum hat das noch keinen Beamten und Politiker vor Gericht gebracht? Ist das Nicht-Handeln oder das Fehlverhalten staatlicher Institutionen nicht strafrechtlich relevant? Am Ende des staatlichen Aufklärungsprozesses droht lediglich eine Verurteilung der Angeklagten in München zu stehen, aber nicht die Antworten auf die von mir eben benannten zentralen Fragen. Und wenn weder gesellschaftlich noch politisch ein veränderter Umgang mit Rassismus und Neonazigewalt zu erkennen ist, dann haben Demokratie und Gerechtigkeit in Deutschland endgültig versagt.

Das Problem liegt nicht bei Einzelpersonen oder fehlendem migrantischen Personal, sondern das Problem liegt offenbar im System, denn die Demokratie und die Organe des Staates haben nicht funktioniert. Der Bericht sagt, es habe „keine Anhaltspunkte einer Zusammenarbeit zwischen Behörden und NSU“ gegeben und es sei „nicht absichtlich weggeschaut“ worden. Auf der anderen Seite erkennt der Bericht an, und das ist ein wörtliches Zitat, dass „die Morde hätten verhindert werden können“! Diese Erkenntnis ist sehr bitter sowohl für die Angehörigen der Mordopfer als auch für die migrantische Community, da für sie die Gefahr rassistischer und neonazistischer Gewalt weiter besteht.

Nebenklagevertreter Mehmet Daimagüler hat vor kurzem in einem Radiointerview gesagt: „Ich möchte jedenfalls als Bürger dieses Landes ruhig ins Bett gehen und das Gefühl haben, wir haben das gesamte Umfeld durchforstet und Schuldige vor Gericht gebracht.“ Das Gefühl der Sicherheit und das Vertrauen darin, dass die staatlichen Institutionen ihren Job ungeachtet der Herkunft der Opfer machen, das ist seit dem 4. November 2011 verloren. Umso notwendiger sind mehr demokratische Transparenz, eine ernst gemeinte Rechenschaft der Polizei und anderer Behörden sowie aktives politisches Engagement zur Bekämpfung von Rassismus sind notwendig.

In dem Bericht gibt es eine Deutung über das angebliche „Schicksal“ der Angehörigen der Opfer des NSU. Die Angehörigen der verschiedenen Opfer hätten das gleiche Schicksal, weil ihre Väter, Söhne, Lebensgefährten ermordet wurden und sie alle während der Ermittlungen zweifach traumatisiert wurden. Wir sehen es anders. Die Angehörigen teilen kein „Schicksal“ sondern mussten in diesem Land die gleichen Erfahrungen machen! Ich kann hier ihre Schmerzen nicht in Worte fassen. Aber ich kann fordern, dass die Betroffenen damals und auch heute umfassend rehabilitiert werden. Die Opfer des NSU hätten finanziell und psychologisch unterstützt werden müssen – damals und heute.

Rassismus ist ein gesellschaftliches Phänomen. Es kann nicht auf die Motivation einer isolierten Zelle von bewaffneten Rassisten beschränkt werden. Der NSU hat in einem Netzwerk gearbeitet, das bis heute größtenteils unaufgeklärt ist und das an seiner mörderischen Ideologie festhält. Auch sind die Einzelfälle rassistischer BeamtInnen in den Behörden nicht nur Einzelfälle. Rassismus in Deutschland ist überall und Rassismus ist systematisch.
Nicht nur wird der Rassismus allein Neonazis zugeschrieben, diese werden auch noch verharmlost. Seit Beginn der 90er Jahre gibt es andauernde Angriffe von Neonazis gegen Angehörige vieler gesellschaftlicher Gruppen, die bis hin zu Terror und einer „Lynchkultur“ an Teilen der Bevölkerung gehen. Das hat auch der NSU gemacht. Es war und ist die Aufgabe der Behörden dies zu wissen und zu verhindern. Die Behörden sind nicht „auf dem rechten Auge blind“, sie kannten und kennen die Neonaziszene, das beweist uns auch der Abschlussbericht aus Thüringen.
Diese Kontinuität wurde weder von Polizei noch Politik ernst genommen und auch nicht verhindert. Harte Migrations- und Flüchtlingspolitik lassen diese „Lynchkultur“ legitim erscheinen. Meine Frage ist: warum sind die Taten des NSU und das Vorgehen der Behörden erschreckend? Wen hat das überrascht? Für mich ist es erschreckend, aber vor allem weil die Ignoranz und das Verschweigen von Rassismus immer noch da sind, weil Neonazis immer noch auf die Straße gehen, weil ihre Ideologie weiterbesteht und weil Angriffe gegen Flüchtlinge und MigrantInnen sogar wieder zunehmen. Es gibt eine unendliche Fülle an Bespielen. Rassismus ist (auch) Alltag. Genau deswegen sahen die Familien der Opfer hinter den Morden ein rassistisches Motiv, aber Ermittler, Politiker, Medien und große Teil der Gesellschaft nicht.

Die vorgeschlagenen Reformen sind sicherlich sinnvoll in der Logik des Abschlussberichtes. Reformen müssen sichtbar sein und es ist klar, dass es ein langer Weg wird. Aber: wenn die Feststellung des Kernproblems nicht richtig ist, wenn die Schwerpunktsetzung in der Analyse der Fehler nicht richtig ist, wie können Verbesserungen und Reformen alleine helfen? Ohne die klare Erkenntnis, dass Rassismus sich als roter Faden durch alle Fehler zieht, durch die Verhaltensweisen aller Behörden, der Politik, der Medien und der Gesellschaft, können alle gut gemeinten Reformen weder etwas wieder gut machen, noch eine Wiederholung verhindern.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Und ich danke der Piraten-Partei für die Einladung.