Dicke Luft im A 101: Nach 150 Prozesstagen im Münchener NSU-Prozess zeichnen sich Probleme der Innen- und Außenwahrnehmung des Verfahrens ab

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von Friedrich Burschel

Man muss es wie ein Mantra vor sich hertragen, um es nicht zu vergessen, um es im Trubel, der Ödnis und im Gleichklang der Verhandlungstage nicht aus den Augen zu verlieren. Im Saal A 101 des Oberlandesgerichts (OLG) München tagt der 6. Strafsenat, der Staatsschutzsenat, und verhandelt eine umfängliche, fast 500 Seiten starke Anklageschrift gegen ein überlebendes Mitglied des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, Beate Zschäpe, und vier weitere der Beihilfe und Unterstützung angeklagte Männer. Es geht um neun rassistische Morde an Kleinunternehmern türkischer, kurdischer und griechischer Herkunft und die Ermordung einer Polizistin. Ihre Namen will man sich einprägen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Und es geht um mindestens drei Sprengstoffanschläge, einer davon ein verheerender Nagelbombenanschlag in der migrantisch geprägten Kölner Keupstraße mit zahlreichen zum Teil schwer Verletzten. Auch bei den etwa 15 Raub- und Banküberfällen, die dem NSU zugeschrieben werden, gab es Verletzte.

Die beiden Komplizen von Zschäpe in der so genannten Zwickauer Terrorzelle, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – im Gericht meist fast zärtlich „die beiden Uwes“ genannt –, sollen sich ungereimten Ermittlungen zufolge am 4. November 2011 in Eisenach nach einem Banküberfall und dem Auftauchen von zwei Streifenpolizisten in einem Wohnmobil das Leben genommen haben. Mit dem angenommenen Doppelselbstmord brachten sie einen der größten Geheimdienst- und Rassismus-Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte ins Rollen.
Die Hässlichkeit und Tristesse des 1970er-Jahre-Gebäudes in der Nymphenburgerstraße in München scheint auf den ersten Blick, wenn man mit der Rolltreppe aus dem Untergrund auftaucht, dem Schrecken angemessen, den der NSU und sein Netzwerk in den Jahren 1998 – 2011 entfesselt hat. Hoch ragen die schon reichlich abgenutzten Betonwände des Strafjustizzentrums in den Himmel und schüchtern schon ein, wer nur vor dem Gebäude steht. Eine fensterlose riesige Ausbuchtung des Gebäudes beherbergt den größten der Münchener Gerichtssäle, eben den bunkerartigen A 101, den großen und doch zu kleinen Funktionsraum, in den sich seit (bei Erscheinen dieses Beitrages sicher) 150 Prozesstagen bis zu 200 Menschen drängen, um den spektakulären NSU-Prozess zu verfolgen.

Sind das Partyzelte, fragt man sich irritiert, wenn man den zum Eingang abgesenkten Vorplatz des Komplexes betritt. Tatsächlich steht dort ein großes weißes Zelt, in das drei Zugänge von gelb-schwarz gestreiften Absperr-Elementen aus Plastik gebildet werden: Ein Zugang ist für akkreditierte Journalist_innen, einer für „Zuschauer_innen“ und einer für akkreditierte Journalist_innen mit den begehrten „gelben Karten“, die ihnen einen festen Platz und Vortritt vor den Kolleg_innen sichern, die nur die „weiße Karte“ haben. Ein etwas albernes Ritual regelt den morgendlichen Zugang: Die drei Zugänge sind mit einer weiteren Plastik-Barriere zum Eingang hin abgesperrt. In gewissen Abständen kommt ein Justizbeamter heraus und lässt, indem er die Barriere kurz beiseite räumt, eine bestimmte Anzahl von Personen ein. Vorrang haben stets Inhaber_innen der gelben Karte, dann das Publikum und schließlich – deutlich unterprivilegiert – die Kolleg_innen mit weißen Akkreditierungskarten. Schon hier unterwirft man sich den Anordnungen des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl, der mit seiner „sitzungspolizeilichen Hoheit“ und als Herr des Verfahrens geradezu absolutistische Befugnisse hat. Seine Dekrete sind schon vor Eintritt in das Gebäude Gesetz und strukturieren jede Bewegung im Kontext des NSU-Prozesses.

In dem sehr klugen Buch von Cornelia Vismann „Medien der Rechtsprechung“ beschreibt die leider früh verstorbene Wissenschaftlerin diesen Vorgang sehr treffend: „Auch hierzulande sind es Schranken und Korridore, welche Zuschauermengen manövrieren, so wie man eine Meute im Stadion handhabbar macht. Vorbeigeschleust werden sie an denen, die im Prozess etwas zu sagen haben. Die Kanalsysteme der 19.-Jahrhundert-Gerichte, die sicherstellen sollen, dass die verschiedenen Prozesspersonen erst im theatralen Raum des Gerichtssaals aufeinandertreffen und nicht schon auf repräsentationslosen Fluren, steuern die Zuschauer durch eigene Gänge und Türen auf ihre Plätze, die häufig so angeordnet sind, dass sie sehen, ohne gesehen zu werden.“[1] Es gibt diese Kanalsysteme auch im Gerichtsgebäude des 21. Jahrhundert: Einmal in das Gebäude eingelassen, wird man von einer Vielzahl Gerichts- und Polizeipersonal die mit großen, mobilen Holzwände abgetrennten Gänge entlang geschleust. Ein langer Gang führt zunächst bis zum ersten Kontrollpunkt, einer wieder mit Plastikbarrieren abgetrennten Einfriedung, wo die Gepäckdurchsuchung und Leibesvisitation stattfindet. Journalist_innen dürfen Laptop und Telefon, Stift und Papier zur Verrichtung ihrer Tätigkeit mit hineinnehmen, Zuschauer_innen müssen alles abgeben, was sie mit sich führen. Letztere müssen ihren Ausweis vorzeigen, der kopiert wird. Prozessbeteiligte, die über wieder andere Kanalsysteme in den Gerichtssaal gespült werden, und auch professionelle Prozessbeobachter_innen, die nach dem letzten der drei üblichen Verhandlungstage in der Woche in alle Himmelsrichtungen abreisen wollen, haben häufig ihr Reisegepäck dabei und lagern es im justiziellen Storage ein. Wie am Flughafen entwickelt mancher den Ehrgeiz, möglichst reibungslos durch diese Kontrolle zu kommen und durch umsichtiges Ablegen von Gegenständen alle möglichen Störungsquellen auszuschalten. Nach dem Passieren des Metalldetektors und der elektronischen Durchleuchtung des Gepäcks folgt die letzte Kontrolle durch Leibesvisitation, ein mehr oder minder intensives und intimes Abtasten der Personen – alles minutiös in der Verfügung des Vorsitzenden geregelt.

Am ersten Prozesstag hatte sich die Verteidigung Beate Zschäpes vehement gegen diese strikten Kontrollen gewandt, von denen auch sie – ebenso wie die Nebenklageanwält_innen – betroffen war. Das Abtasten von Personen und Durchleuchten von Taschen sei unverhältnismäßig und diskriminiere die Strafverteidiger, insbesondere da für die Vertreter_innen der Bundesanwaltschaft, Protokollant_innen, Justizbedienstete und Sicherheitskräfte die Anordnung nicht gleichermaßen gelte, machte die Verteidigung Zschäpe geltend. Der Vorsitzende Manfred Götzl hatte im Frühjahr 2013 diese Anordnung unter anderem damit begründet, dass Anschläge aus dem linken oder rechten Spektrum möglich seien.[2] Bis heute müssen alle bis auf die Ausgenommenen die gründliche Kontrolle über sich ergehen lassen.

Für Publikum und Medienvertreter_innen geht es jetzt in einem trostlos grauen Treppenhaus mit straßenseitigen Fenstern hinauf auf die Zuschauer_innentribüne: Mit Blick zum Gerichtssaal links sind auf der Tribüne 51 Plätze für die „Öffentlichkeit“ reserviert, rechts 50 Sitzplätze für die Medien. Der Guckkastenbühnen-Charakter des Saales ist dadurch quasi umgedreht: Zuschauer_innen und Presse blicken aus einem Guckkasten, abgetrennt vom Gerichtssaal durch eine stabile Glasfront, dem Geschehen im Saal zu. Einen Teil des Saales sehen sie gar nicht, da er sich unter der Tribüne befindet: die Sitzplätze der Nebenklagevertreterinnen und -vertreter, der anwaltlichen Vertretung der Opfer und Mordopferangehörigen. Die schiere Zahl der Nebenklagevertreter_innen, es sind an die 60 für fast 80 Betroffene, dürfte in der deutschen Rechtsgeschichte einmalig sein und prägt seit Beginn des Verfahrens den Prozess entscheidend.

Damit das Publikum Beiträge der Nebenklage mitbekommt, werden die jeweils sprechenden Nebenklagevertreter_innen mit einer unter der mit wuchtigen Akustik-Bauelementen behängten Decke installierten Kameras herangezoomt und mit Beamer auf graue, zwei auf drei Meter große Flächen an den Seitenwänden des lindgrün gestrichenen Saales projiziert. Eine Störung der technischen Anlagen führt regelmäßig zu einer Unterbrechung der Verhandlung, der stets ein Techniker beiwohnt, der für das Funktionieren aller technischen Hilfsmittel und Medien zuständig ist. An die Wände werden im Übrigen auch alle in Augenschein genommenen Dokumente und Beweismittel geworfen, sei es das bizarre Bekennervideo, makabere Tatortfotos, zum Teil mit den Ermordeten darauf, oder die über 1500 Fotografien der Brandruine in Zwickau, wo Beate Zschäpe nach dem mutmaßlichen Doppelselbstmord ihrer Kumpane versucht hatte, den letzten gemeinsamen Unterschlupf des NSU in Brand zu setzen. Allein wegen dieser lebensgefährlich mit Benzin beabsichtigten Vernichtung von Beweismitteln, bei der der ganze Gebäudeteil in der Frühlingsstr. 26 explodierte, muss Zschäpe mit einer Verurteilung wegen versuchten Mordes rechnen – sie hatte die Verletzung oder den Tod von bis zu sechs Personen damals billigend in Kauf genommen, um ihr Ziel der Vertuschung (Mordmerkmal) zu erreichen.

„Der Tisch, Zentralmedium des Rechtsprechens, hält demnach nicht allein auf Distanz, was ansonsten aufeinanderprallen und im Kampf ausgefochten werden würde, er bietet auch eine plane Fläche für die Diskursivierung des Dings“, beschreibt Vismann die Funktion der Möblierung des Gerichtssaals.[3] Und tatsächlich sorgte nach endlosen, heftig geführten Diskussion über das grundsätzliche Geeignetsein des Münchener Großsaales, nach dem Einwand, dass er für das enorme öffentliche Interesse an dem Verfahren viel zu klein sei, und nach dem „Akkreditierungszirkus“ mit zwei Zulassungsverfahren (nachdem das Bundesverfassungsgericht den ersten Akkreditierungsdurchlauf im „Windhundverfahren“, d.h. nach dem Zeitpunkt des Eingangs der Anträge, für unzulässig erklärt hatte) auch dessen Ausstattung mit Sitzungsmöbeln für Diskussion. In dem sehr beengten Zentrum des Saales sitzen Zeug_innen an einem in die Mitte gezwängten Tisch, tatsächlich auf Armeslänge von der Angeklagten Beate Zschäpe und ihren drei Verteidiger_innen entfernt. Für Opferzeug_innen und Opferangehörige eine schier unerträgliche Tuchfühlung mit einer Tatverdächtigen, die von den zum Teil drastischen Vorwürfen gegen sie völlig unbeeindruckt scheint. Von Anfang an gibt sich gerade Zschäpe entspannt und unbeteiligt, zeigt kaum Regungen, auch wenn – gerade zu Beginn des Prozesses – Bilder von Ermordeten gleichsam in Cinemascope in einer makaberen Leichenschau an die Wände projiziert wurden, und reagiert unbeeindruckt, auch wenn die von dem ihr zur Last gelegten Verbrechen gebeugten Menschen sie direkt ansprechen. Bisweilen scheint die Angeklagte gar mit ihrer Situation und mit der Aufmerksamkeit, die ihr auch medial zuteil wird, geradezu zu kokettieren. Für die Angehörigen der Opfer und die Opfer der Sprengstoffverbrechen eine kaum erträgliche Zumutung.

Noch einmal Vismann: „Der Tisch erfordert, dass man daran sitzt. So bestimmt dieses Grundmöbel der Justiz die Sitzordnung der Verfahrensbeteiligten“.[4] Fest installiert und leicht erhöht sitzt der Senat, bestehend aus fünf Richter_innen und drei Ersatzrichter_innen. Der Fall, dass eine Ersatzrichterin tatsächlich einspringen musste, trat erst kürzlich vor der Sommerpause ein: Dr. Renate Fischer wurde zum 1.8.2014 von Bundespräsident Joachim Gauck zur Richterin am Bundesgerichtshof ernannt. Damit ändert sich die Zusammensetzung des Senats: Die bisherige Ergänzungsrichterin Gabriele Feistkorn rückte nach – und die Zahl der Ergänzungsrichter sinkt von drei auf zwei.[5] Durch getrennte Türen betreten der Senat und die Ergänzungsrichter_innen den Saal, denn die Ersatzrichter_innen nehmen nicht an den Beratungen des Senats teil, sind also (noch) nicht Teil des tatsächlich „erkennenden Senats“, wie er so schön heißt. Bei Eintreten des „hohen“ Gerichts erhebt sich der gesamte Saal von den Plätzen. Dieses Ritual letztlich der Anerkennung der Autorität des Gerichts wird von Justizbeamt_innen mit Adleraugen überwacht und gerade auf der Zuschauertribüne auch energisch durchgesetzt, wenn sich jemand anheischig zeigt, diese Unterwerfungsgeste oder Ehrerbietung zu versagen. Der Senat thront vor einer Wand von ein paar Hundert zum Verfahren gehörender Aktenordner, was das Bild von Wissen und Macht des Kollegiums noch unterstreicht.

Auf gleicher Höhe (aus Tribünenperspektive) rechts vom Senat haben – in roten Roben – die vier Sitzungsvertreter_innen des Generalbundesanwalts Platz genommen. Sie sind im Grunde die Vertreter_innen der höchsten Staatsanwaltschaft im Lande und gelten als Hüter der Strafprozessordnung (StPO), aber auch der politischen Richtung des Verfahrens. Alles, was gefährden könnte, was gemeinhin unter Staatsräson bezeichnet wird, ruft die Bundesanwält_innen auf den Plan. Dass die Bundesanwaltschaft (BAW) dabei bisweilen auch dezidiert politisch agiert, ist Thema vieler Auseinandersetzung innerhalb und außerhalb des Gerichtsverfahrens. Sie tut das, indem sie nicht nur im Gerichtssaal stets dann interveniert, wenn sie etwa durch Fragen nach Mitverantwortung staatlicher Stellen an den NSU-Verbrechen das Beschleunigungsgebot verletzt sieht, sondern auch, indem sie bei „kooperativen“ Medienvertreter_innen – wie es so schön heißt – bestimmte Informationen „durchsticht“, bestimmte erwünschte gewissermaßen hoheitliche „Sprachregelungen“ durchsetzt oder in so genannten Hintergrundgesprächen gezielt Prozessbeteiligte – zum Teil in unfairer Weise – angreift.[6]

Auf der anderen Seite, gegenüber der BAW, steht die Anklagebank, in diesem Verfahren sind es drei Tischreihen, an denen Beate Zschäpe mit ihren drei Verteidiger_innen und die vier Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze mit jeweils zwei Verteidiger_innen sitzen. Hinter dem Zeug_innentisch eine weitere Reihe für die Sachverständigen, vor allem für den Psychiatrie-Professor Henning Saß, der die bislang schweigende und eine Untersuchung verweigernde Angeklagte hilfsweise im laufenden Verfahren zu begutachten hat.

Mit Justiz- und Polizeipersonal, Protokollant_innen und weiteren Hilfspersonal kommen an manchen Tagen bis zu 200 Personen in dem schlecht klimatisierten, fensterlosen Saal zusammen und mühen sich, dem Prozess trotz der widrigen architektonischen und klimatischen Umstände zu folgen.

Wer einmal auf dem Zuschauerrang Platz genommen hat, kann das Gebäude – gerade an Tagen mit großem Andrang – im Grunde nicht mehr verlassen, wenn er oder sie nicht Gefahr laufen will, den Platz für diesen Tag zu verlieren. Das gilt auch für Pressevertreter_innen, die selbst in der Mittagspause ihre Sachen nicht auf ihrem Platz zurücklassen dürfen, um z.B. in einer Prozesspause ein kurzes Interview zu geben oder in der Mittagspause irgendwo außerhalb etwas essen zu gehen. Wer den Saal verlässt, verlässt in der Regel das Gebäude und müsste, um zurückzukehren, das ganze Prozedere erneut durchlaufen, auch auf die Gefahr hin, wegen Überfüllung abgewiesen zu werden. Wer im Saal bleibt, kann in Pausen nur auf einen Treppenabsatz auf der anderen Seite der Tribüne hinausgehen. Dort gibt es zwar Fenster, die sich jedoch nicht öffnen lassen und die mit trüb-milchiger Folie beklebt sind. Auf dem Treppenabsatz trennen wieder mobile Holzwände den NSU-Bereich vom restlichen Gerichtsgebäude ab. Hier gibt es zwei Wasserspender, einen Kaffeeautomaten und einen Tisch mit belegten Brötchen und Butterbrezeln, Süßigkeiten und – nach entsprechenden Rufen nach Vitaminen – Plastikbehältern mit Salaten. Wer die meisten der inzwischen 150 Prozesstage verfolgt hat, wird langfristig auf seine Ernährung achten müssen, um den Prozess unbeschadet zu überstehen. Von der bisweilen sprichwörtlich dünnen oder an manchen Sommertagen dicken, mit Ausdünstungen geschwängerten Luft im Saal ganz zu schweigen.

Die Hermetik des Gerichtssaals ohne Fenster, ohne Tageslicht, mit einschüchternder Architektur und schlechter Luft darf mit Fug und Recht als Teil einer Inszenierung betrachtet werden, die den theatralen Charakter der gerichtlichen Abläufe unterstreicht. Keine Einflüsse von außen und kein unbotmäßiges Verhalten im Innern von A 101 sollen die Rechtsfindung stören und die Autorität des Gerichts herausfordern.

In keinem Verfahren wie diesem ist diese Abkapselung der Verhandlung so problematisch wie beim NSU-Verfahren: Denn auch außerhalb des Gerichtssaals spielt der ganze NSU-Komplex eine gesellschaftlich immer noch wichtige Rolle und sorgt mit immer neuen (journalistischen) Enthüllungen und Ermittlungsergebnissen immer wieder für Verwirrung und Aufsehen, das auch in den Gerichtssaal zurückstrahlt. Trotzdem findet keine direkte Bezugnahme der Richter_innen etwa zu medialen Enthüllungen und aktuellen Fernsehbeiträge statt, auch wenn diese unmittelbar Auswirkungen auf den je verhandelten Gegenstand haben. Ein Beispiel: Der Zeuge Matthias Dienelt war vor Gericht vernommen worden. Gegen ihn wird noch ermittelt, er war einer der Quartiergeber für das „NSU-Trio“ in Zwickau; von ihm angemietete Wohnungen dienten den Untergetauchten als Unterschlupf, zuletzt die dann zerstörte in der Frühlingsstraße. Vor Gericht verweigerte er die Aussage, und in den polizeilichen Vernehmungen versuchte er sich als „Kamerad“ darzustellen, für den es selbstverständlich war, für „seine Leute“ einen solchen Freundschaftsdienst zu leisten, ohne groß nach den Hintergründen zu fragen. Sonst, so stellte er es dar, habe er kaum etwas mit seinen „Untermietern“ zu tun gehabt, geschweige denn gewusst, wie „die drauf gewesen“ seien. Gelegentlich habe der heute 38-jährige Kraftfahrer in seiner Mittagspause in der Frühlingsstraße ein Nickerchen gemacht und bei einer Tasse Kaffee ein kurzes Schwätzchen mit den Dreien gehalten. Wie viele andere Nazi-Zeug_innen im Verfahren stellt sich der Zeuge als harmlos dar und als jemand, der nichts gewusst, nichts geahnt und sich nichts gefragt habe.[7] Am 28. August 2014 nun strahlte der MDR brisantes Material aus, das die Aussagen Dienelts und seine behauptete Harmlosigkeit doch erheblich in Frage stellt: Aufnahmen der vom mutmaßlichen Kern-Trio des NSU in der Zwickauer Frühlingsstraße installierten Überwachungskameras zeigen ihn bei einer herzlichen Begrüßungsumarmung mit Beate Zschäpe und wie er am Hauseingang wie selbstverständlich den Briefkasten leert. Dass er vermutlich ein enger Vertrauter des „Trios“ und damit Mitwisser gewesen sein muss, wirft für seine Vernehmungen und für das Ermittlungsverfahren gegen ihn natürlich neue Fragen auf, die den Weg ins Gericht jedoch nicht finden werden.[8] Beispiele dieser Art oder etwa auch die politischen Auseinandersetzungen in den Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA)[9] und bei der gesellschaftlichen Bewertung und Diskussion von deren Ergebnissen kommen im Gerichtssaal meist verspätet und nur in Form von Akten an. Sollten Fragen zu derartigen Vorgängen doch einmal den Weg in den Verhandlungssaal finden, etwa durch einen dezidiert und gewöhnlich exzellent ausgearbeiteten Beweisantrag oder eine Erklärung seitens eines guten Dutzends engagierter Nebenklage-Anwält_innen, werden sie, wenn nicht von Verteidigung und Senat, gewiss von der BAW beanstandet und als nicht verfahrensrelevant zurückgewiesen.

Es können im Laufe des Verfahrens noch schräge Ungleichzeitigkeiten entstehen, wenn etwa der neu eingesetzte hessische PUA – vermutlich Ende 2014 – damit beginnt, den dubiosen Geheimdienstmitarbeiter und V-Mann-Führer Andreas Temme seinerseits zu den Umständen und Hintergründen zu befragen, die dazu führten, dass er, der Verfassungsschutzmann, am 6. April 2006 in einem Kasseler Internetcafé zugegen war, als dessen Betreiber Halit Yozgat hingerichtet wurde – mit der unterdessen berühmten Tatwaffe Česká 83 des NSU. Sollte der PUA trotz der halsstarrigen Verweigerungshaltung des Geheimdienstlers neue Erkenntnisse zutage fördern, hätten auch sie vermutlich keine Relevanz mehr für das NSU-Verfahren, das bis Mitte 2015 terminiert ist: Temme ist dort nach fünf langen und nervenaufreibenden Vernehmungstagen als Zeuge bereits entlassen worden, mit ihm ist man – schon angesichts der noch anstehenden Masse an Zeug_innen – bereits „durch“. Von den rund 600 Zeug_innen auf der Ladungsliste sind bisher etwa 400 „abgearbeitet“ worden.

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl lässt zu keinem Zeitpunkt Zweifel an seinem strengen Führungsanspruch aufkommen und demonstriert seine Macht schon mal, wenn er bis halb 9 Uhr abends weiterverhandelt oder ohne Rücksicht auf die Rückreise-Pläne der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Prozessbeteiligten überzieht und Murrenden dann kalt lächelnd erwidert: „Sie können sich schon mal ans Umbuchen machen.“ Seine Befragungen sind ausdauernd und hartnäckig, immerhin hat er zu Beginn des Prozesses bei der Befragung des geständigen Angeklagten Carsten Schultze tatsächlich einen weiteren Sprengstoffanschlag, das so genannten Taschenlampen-Attentat in Nürnberg 1999, aus ihm herausgefragt. Im Umgang mit den Opferzeug_innen hat er sich unterdessen eine etwas schonendere Befragungsweise angewöhnt und behandelt nun keinen Betroffenen mehr so wie etwa noch die Witwe des in München ermordeten Habil Kılıç, die er anherrschte: „Wenn ich sie hier höflich etwas frage, erwarte ich auch eine höfliche Antwort!“ – und das gegenüber einer gebrochenen Frau im Zeugenstand, die sichtlich erschüttert und aufgebracht der mutmaßlichen Mittäterin bei der Ermordung ihres Ehemannes gegenüber saß.[10]

Viele, vor allem aus der Nebenklage, monieren, dass Richter Götzl beim Umgang mit Zeug_innen aus der Nazi-Szene nicht entschieden und strikt genug vorgeht und den überwiegend geschulten Kadern aus einem deutschlandweit und international vernetzten Gesinnungsverbund zu viel Raum lässt, dem Gericht auf der Nase herumzutanzen. Dass er auch anders könnte, lässt er allzuoft die Nebenklage spüren: In lauten und oft unbeherrschten Suaden weist er die engagiertesten Nebenklagevertreter_innen zurecht und in die Schranken, wenn sie für seinen Geschmack zu weit von den in der Anklageschrift vorgegebenen Pfaden wandeln. Aber die Frage danach, was die Opfer und Opferangehörigen aus diesem Prozess an Wiedergutmachung, „Gerechtigkeit“ oder Genugtuung ziehen können, durchzieht das Verfahren von Beginn an. Die Ansprüche der Nebenkläger_innen stehen in einem kaum auflösbaren Konflikt zu der von der BAW als Grundlage des Prozesses scheinbar in Stein gemeißelten Annahme, es habe sich tatsächlich nur um eine Drei-Personenzelle und eine Handvoll Helfer_innen gehandelt, von denen die wichtigsten auf der Anklagebank säßen. Dass es mehr als stichhaltige Anzeichen dafür gibt, dass es sich vielmehr um ein Neonazi-Netzwerk mit Dutzenden involvierter Personen gehandelt haben muss, dass es möglicherweise sogar weitere Mörder geben könnte und dass das ganze Panorama dicht mit V-Leuten (Nazi-Informanten aus der Szene) der diversen „Verfassungsschutz“-Ämter durchsetzt war, gehört zum fundamentalen Aufklärungsinteresse der Betroffenen und Opferangehörigen.[11] Entsprechend werden die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen darüber entlang genau dieser Frage geführt: Die BAW will die fünf Angeklagten möglichst rasch überführen – oder auch nicht – und bemüht ein ums andere Mal das „Beschleunigungsgebot“, um zu verhindern, dass die Hintergründe der Taten allzu akribisch ausgeleuchtet werden und womöglich doch noch eine Verstrickung staatlicher Stellen nachgewiesen werden könnte. „Das ist hier kein Untersuchungsausschuss“, poltert BAW-Sitzungsvertreter Diemer denn auch, wenn ihm Fragen zu brenzlig zu werden scheinen.

Dem stehen die bohrenden Fragen der rund 60 anwaltlichen Vertreter_innen der überlebenden Opfer und Opferangehörigen diametral gegenüber. Die Nebenkläger im Verfahren wollen wissen, was wirklich passiert ist in der Spanne zwischen 2000 und 2007, während derer zehn Menschen – möglicherweise durch Ignoranz oder gar mit Billigung staatlicher Stellen – ihr Leben verloren. „Entgegen der mehrfach geäußerten Auffassung der Bundesanwaltschaft, bestimmte Fragen seien für die Schuldfrage – und damit für die Überführung der Angeklagten – irrelevant und deshalb zurück zu weisen, dient der Strafprozess gerade nicht – lediglich – der Überführung der Angeklagten,“ stellt eine Prozesserklärung der Hamburger Kanzlei Bliwier/Dierbach/Kienzle vom 15.7.2013, die die Familie Yozgat aus Kassel vertritt, klar. Sie beschreibt darin das Spannungsverhältnis zwischen dem Strafanspruch des Staates, den Interessen der Verteidigung und den Ansprüchen der Nebenklage. Das Recht der Nebenklage, so heißt es weiter, habe nichts mit Rache oder Sühne zu tun, sondern mit der Genugtuung „der vollständigen Aufklärung“ der Tatumstände, „wozu zwangsläufig auch die Aufklärung der Frage gehört, inwieweit bestimmte Geschehnisse durch Versagen der Ermittlungsbehörden begünstigt oder gar ermöglicht wurden.“ Insoweit gehe auch der Hinweis auf Untersuchungsausschüsse fehl, da in deren Rahmen Betroffene und Opfer keinerlei Rechte hätten, so die Erklärung weiter.[12]

Wie sehr es vom Gericht abhängen wird, ob auch künftig tiefer gehende kritische Fragen zugelassen oder unterbunden werden, ist im Gerichtssaal immer und immer wieder als Spannung spürbar. Die Tendenz des Gerichts, dem erklärten Anspruch der BAW zu willfahren und den Prozess raschest möglich und ohne „Umschweife“ zu einem Ende bringen zu wollen, ist nicht nur dem Druck der BAW, sondern durchaus auch den realen Maßgaben der StPO geschuldet. Und doch ist der Vorsitzende bisweilen sehr weit gegangen, um Sachverhalte aufzuklären, die nicht mehr zum Kernbereich der Anklage gehören: So lud das Gericht bis hinauf zum damaligen Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen alle Vorgesetzten und weitere Kolleg_innen des notorischen Andreas Temme vor, um den Ungereimtheiten in diesem Fall beizukommen. Das hat viel Zeit gekostet und – salopp gesagt – nicht viel mehr gebracht außer ein weiteres haarsträubendes Behördenverhalten offenzulegen. Dennoch zeigten diese „Exkursionen“ doch, dass Richter Götzl auch anders kann, wenn er will. Auch als er jüngst die Einführung u.a. der „Turner Diaries“ im Selbstleseverfahren in den Prozess veranlasste,[13] beschritt er aus der Perspektive der BAW Abwege: Wer die Netzwerk-Theorie verfolgen will, die davon ausgeht, dass bei weitem nicht alle Mitwisser_innen, Helfer_innen und Täter_innen des NSU-Komplexes auf der Anklagebank sitzen oder verfolgt werden, muss das Netzwerk ausleuchten und zu verstehen versuchen. Dazu muss auch das ideologische Rüstzeug in Augenschein genommen werden, und da gehören die „Turner Tagebücher“ des US-Neonazis William Pierce zum Kernbestand, auf den sich etliche Nazi-Zeugen im Bezug auf ihre politische Sozialisation bereits beriefen.

Das sind aber nur Ausflüge: In der Regel fühlt der Vorsitzende den überwiegend dreist und unverschämt auftretenden Nazi-Zeugen nicht auf den Zahn und lässt sie von Zwangsmitteln unbehelligt gewähren. Dabei böten druckvollere Vernehmungen sicher Einblicke in zum Teil kapillare Details, die etwas über die Entstehung mörderischer Netzwerke im Nachwende-Deutschland aussagen und deutlich machen könnten, wie es zum einseitig erklärten, blutigen „Rassenkrieg“ „arischer Widerstandskämpfer“ im Lande kommen konnte, ohne dass dies in seiner monströsen Dimension wahrgenommen wurde. Statt dessen können sich diese Kader des Langen und des Breiten im Gerichtssaal als „politisch Interessierte“ spreizen, die nichts harmloseres im Sinn hatten als – so kürzlich am 23.7.2014 der Nazi und VS-Gewährsmann Andreas Rachhausen – den „Kampf um das biologische Überleben unseres Volkes“. Auf die interessierte Nachfrage des Vorsitzenden, was er damit denn meine, kam die vielsagende Sarrazinsche Formel: „Naja: Deutschland schafft sich ab“.

Wer sich vom Gericht in München in Sachen Nazi-Netzwerk mehr und tiefer gehende Aufklärung erwartet, wird vermutlich vergeblich warten: Nach wie vor ist es das vornehmste und durchaus aggressiv vorgetragene Anliegen der BAW, alles zu verhindern, was den Blick von der enorm eng geführten Anklage gegen lediglich fünf Beschuldigte auf die zunehmend schmerzhaft offenen Fragen hin weiten könnte. Von der Rolle der Inlandsgeheimdienste als conditio sine qua non des rechten Terrors ganz zu schweigen. Die fatale Botschaft, die seit der insgesamt dreitägigen, quälenden Zeugenvernehmung der Jenaer Nazi-Größe André Kapke vom Münchener Gericht in die bundesweite Nazi-Szene ausgeht, ist: „Macht euch keine Sorgen, stellt euch dumm und macht auf doof: die können euch gar nichts!“ Wenn Richter Götzl die Nazi-Zeug_innen nur einmal so unbeherrscht und laut maßregeln würde, wie er das regelmäßig bei Vertreter_innen der Nebenklage tut, wäre dieses Signal in die Szene nicht derart eindeutig ausgefallen. Und schon findet man sich als eigentlicher Repressionsgegner aus eigener leidvoller Erfahrung als Linker unversehens auf der Seite eines durchgreifenden Rechtsstaates und Justizsystems: Auch das mag man den obstruierenden Nazi-Zeug_innen übel nehmen.

Statt dessen bleibt es auch stets der Nebenklage vorbehalten, die unübersehbaren und krassen Verstrickungen und die krude ideologische Anbindung vieler Zeug_innen aus dem sozialen Umfeld und der politischen Szene bloßzustellen und so deutlich zu machen, dass der NSU in einem eingeschworenen und national wie international weit verzweigten Netzwerk mitwissender Kader von Organisationen wie „Blood & Honour“, „Hammerskins“, „Anti-Antifa“ und Freien Kameradschaften eingebunden war und sich auf Unterstützung aus eben dieser Szene verlassen konnte. Dass eine ganze Reihe dieser Mitwisser_innen und Unterstützer_innen auch Informant_innen, also „V(ertrauens)-Leute“ und „Gewährspersonen“, der diversen „Verfassungsschutz“ genannten Inlandsgeheimdienste und anderer staatlicher Behörden waren, bleibt im Gerichtssaal außen vor oder Randnotiz.

Im Gegenteil, „ideologisch gefestigte“ Kader können sich vor Gericht noch als Helden gebärden. Der sächsische „Hammerskin“-Kader Thomas Gerlach etwa verweigerte die Aussage über seine Nazi-Truppe und erklärte sich großspurig bereit, dafür auch die Konsequenzen zu tragen: Auf seinem Facebook-Account hatte er zum Prozessauftakt im Mai 2013 vom „Tag der Schande“ schwadroniert und das Gerichtsverfahren als „Affentheater“ bezeichnet. Nach seiner ersten Vernehmung am 1.7.2014 hatte er sich zudem hochtrabend auf Facebook mit einer Epenzeile von Wolfram von Eschenbach selbst zum Ritter geschlagen, der seine Tafelrunde nicht dadurch entehren werde, dass er das Schweigen brechen würde. Wenn das Gericht nun nicht zu durchgreifenden Erzwingungsmethoden greift, falls der Zeuge bei seiner Verweigerung bleibt, wird es sich vollends der Lächerlichkeit preisgeben, welcher es schon jetzt in der Nazi-Szene ausgesetzt ist.

Einer, der es mit der Missachtung des Gerichtes ebenfalls sehr weit treibt, ist der Angeklagte André Eminger: Schon kurz nach Beginn der Hauptverhandlung stellte er allen Ernstes durch seine Anwälte den Antrag, das Gericht möge ihm an den Tagen, an denen es nicht um seine eigenen Tatvorwürfe gehe, die Teilnahme am Prozess erlassen. Eminger ist es auch, der – weil nicht in Untersuchungshaft – täglich vor dem Gerichtsgebäude mit Kaffee und Zigarette in der Sonne steht, als ginge er mit seiner Ledertasche einer normalen Beschäftigung nach. Für die Angehörigen der Opfer und die Opfer der Anschläge eine dreiste Zumutung.

Neuerdings aber treibt Eminger, dessen Bauchtätowierung „Die, Jew, die“ (Stirb, Jude, stirb) aktenkundig ist, es noch bunter: Am 114. Prozesstag (21.5.2014) kam es zu einem Eklat, als Nebenklage-Anwalt Alexander Hoffmann beantragte, den Kapuzenpulli des Angeklagten Eminger zu beschlagnahmen, den dieser unter einer schwarzen Lederweste, die er in Rockermanier stets trägt, anhatte. Auf dem Kleidungsstück war auf der Brust eine Darstellung der finnischen NS-Black-Metal-Band „Satanic Warmaster“ zu sehen: Sie zeigt einen martialisch mit Hasskappe Vermummten, bewaffnet mit Sturmgewehr und Uzi sowie das Emblem der Band mit einem Adler und drei umgedrehten Kreuzen. Es handelt sich um das Cover der Platte „Black Metal Kommando/Gas Chamber“ – auf Emingers Shirt fehlt nur der verräterische Titel der CD. Verteidiger Michael Kaiser intervenierte zugunsten seines Mandanten und behauptete, die Art und Weise einer Bekleidung lasse keine Rückschlüsse auf die Einstellung ihres Trägers zu. Kaisers seltsame Analogie: im Gerichtssaal würden ja auch nicht alle Prozessbeteiligten weiße Krawatten tragen. Er erklärte das Fanshirt seines Mandanten zur Geschmackssache. Und auch die BAW-Vertreter_innen stellten die Beweisbedeutung des Kleidungsstücks in Frage. Immerhin gelang es Hoffmann durchzusetzen, dass das Motiv auf dem Kapuzenshirt fotografiert und als Beweis gesichert wurde. Er argumentierte damit, dass die symbolische Darstellung eines Bewaffneten auf die innere Einstellung des Angeklagten verweise und als ein Statement für den bewaffneten Kampf zu verstehen sei und als Sympathieerklärung für die hier zur Verhandlung stehenden Verbrechen. Das sei auch für die Beweiserhebung relevant, da der Angeklagte bisher zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen (Beihilfe, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) schweige und man auf Beweise wie den Sweater zurückgreifen müsse, um dessen innere Einstellung zu ergründen.

Außerdem gefällt es Eminger, der aus seiner Geringschätzung gegenüber dem Gericht kein Hehl macht, im Gerichtssaal gezielt zu provozieren: Häufig hat er (wie auch der inhaftierte Mitangeklagte Ralf Wohlleben) Besuch von Neonazis, die oben auf der Zuschauertribüne Platz nehmen und meist eindeutig konnotierte Kleidungsstücke und Tatoos zur Schau tragen. Sie können mit der Ahnungslosigkeit der Dutzenden von Polizei- und Justizbeamt_innen bei den Einlasskontrollen und im Saal rechnen. Ob es ein T-Shirt einer neonazistischen Gefangenenhilfsgruppe ist, das mit SS-Aufdruck (Società Sportiva) und martialischem Adler versehene Fan-Shirt für den italienischen Fußballclub Lazio Rom oder eine auf den Ellbogen tätowierte „Schwarze Sonne“ – ein eindeutiges Nazi-Symbol, das auf ein Bodenmosaik in der NS-Ordensstätte Wewelsburg zurückgeht: Meist können die, oft auch sonst recht eindeutig der rechten Szene zuzuordnenden Nazis passieren. Anders ein junger Mann, der im Juli 2014 mit dem Aufdruck „Kein Mensch ist illegal“ in den Gerichtssaal wollte: Er wurde abgewiesen mit der Begründung, der Gerichtssaal sei ein „unpolitischer Raum“.14 Erst kürzlich, kurz vor der Sommerpause (131. Prozesstag, 29.7.2014), gab es eine weitere Provokation des Gerichts, diesmal durch den Zwillingsbruder des Angeklagten Eminger: Der freiberufliche Tätowierer war als Zeuge geladen und mit einem T-Shirt erschienen, auf dem die Aufschrift „Brüder schweigen“ zu lesen war. Damit wollte er offenkundig sein Aussageverhalten untermauern, denn er verweigerte als Bruder des Angeklagten jede Einlassung. Allerdings verpatzte ihm die Nebenklage seinen Auftritt, indem sie bei Götzl intervenierte und durchsetzte, dass Maik Eminger das Tragen des T-Shirts bei der formalen Erklärung seiner Aussageverweigerung untersagt wurde. Immerhin hatte sich Eminger mit dem Aufdruck auf das „Treuelied der SS“ bezogen und damit ein recht eindeutiges Panorama für seine und die ideologische Ausrichtung seines Bruders eröffnet: „Wenn alle untreu werden / so bleiben wir doch treu“, heißt es da.

Die jüngste symbolische Spitze dieses Spiels der Emingers war am 137. Prozesstag (5.9.2014) ein neues Sweatshirt des Angeklagten, das das Konterfei Andreas Baaders zeigte.

[1] Cornelia Vismann, Medien der Rechtssprechung, Frankfurt 2011, S. 139.

[2] NSU-Watch, Protokoll des 1. Verhandlungstages, 6.5.2014.

[3] Vismann (2011), S. 167 f.

[4] Ebd.

[5] „‘NSU-Senat‘ in neuer Besetzung“, auf jurablogs: http://www.jurablogs.com/2014/08/05/nsu-senat-in-neuer-besetzung.

[6] Marcus Klöckner, NSU: Im Hinterzimmer mit der Bundesanwaltschaft, auf telepolis am 29.01.2014: http://www.heise.de/tp/artikel/40/40864/1.html ; Andreas Förster (Hrsg.), Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur, S. 201 ff., 243 ff. u. passim; interessant im Kontext mit dem Umgang mit nicht-konformen Aussagen über den Prozess ist auch das on air unterbrochene Interview mit dem Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler im Deutschlandfunk, vgl. Florian Rötzer, „Der Moderator bedauert den Verlauf des Gesprächs“, auf telepolis vom 7.5.2014: http://www.heise.de/tp/artikel/41/41676/1.html.

[7] NSU-Watch, Protokoll des 125. Prozesstages, 9.7.2014.

[8] „NSU überwachte Umfeld seiner Wohnung in Zwickau“: http://www.mdr.de/themen/nsu/fakt_nsu_unterschlupf_fruehlingsstrasse100_zc-8b10b4c1_zs-cdfad334.html.

[9] Abschlussbericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses, BT-Drs. 17/14600 vom 22.8.2013: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/146/1714600.pdf; noch dezidierter und detaillierter der des Thüringer Landtages, LT-Drs 5/8080 vom 16.7.2014: http://www.thueringer-landtag.de/imperia/md/content/landtag/aktuell/2014/drs58080.pdf; weitere PUAs gab es in der Landtagen Sachsens und Bayerns, neue NSU-Untersuchungsausschüsse wird es in Nordrhein-Westfalen und Hessen geben; bisher vergeblich wird auf einen im Baden-Württembergischen Landtag gewartet, obwohl er gerade dort schon wegen der enormen Ungereimtheiten bezüglich des Mordes an der Polizistin Michéle Kiesewetter und des Mordversuchs an ihrem Kollegen Martin Arnold 2007 in Heilbronn als dringend notwendig erachtet wird – bisher treibt die grün-rote Landesregierung hier aus unerfindlichen Gründen quer.

[10] Friedrich Burschel, Zwischen Nazi-Peepshow und Lichtbild-Slapstick, MiGAZIN vom 16.10.2013: http://www.migazin.de/2013/10/16/zwischen-nazi-peepshow-lichtbild/.

[11] Besonders aufschlussreich ist hier der Abschlussbericht des Thüringer PUA vom 16.7.2014: http://www.thueringer-landtag.de/imperia/md/content/landtag/aktuell/2014/drs58080.pdf; das vermutliche Netzwerk des NSU ist minutiös im Sondervotum der LINKEN-Landtagsfraktion skizziert.

[12] Friedrich Burschel, Wie es wirklich war, in: Terz 12/2013: http://www.terz.org/texte/texte_1312/nsu-prozess.html.

[13] NSU-Watch, Protokoll des 135. Prozesstag am 6.8.2014.


Artikel zuerst erschienen in: Kritische Justiz, 4/2014, S. 450-460.