Was die „Mitte“ über den NSU-Prozess denkt – und was sie ignoriert. Eine Blitzlicht-Medienrevue.

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erschienen in: Der StreiT, Herbst 2014

Am 11. Juli 2014 war Thomas Gerlach als Zeuge im NSU-Prozess in München geladen. Thomas Gerlach ist Mitglied der Hammerskins, gewalttätiger Neonazi. Als er im Gerichtssaal erscheint, trägt er ein hellblaues Sweatshirt mit im Comicstil dargestellten Neonazisymbolen, auf so eine Art getarnt, dass sie anscheinend niemandem auffielen. Ansonsten war Thomas Gerlachs Äußeres relativ unauffällig. Die Mitte seines Kopfes war kahl, aber an den Seiten hatte er noch Haare, so viele Männer mit geschätzt Ende Vierzig halt aussehen. Doch auf Spiegel Online war am selben Abend zu lesen: „Thomas G., glatzköpfiger Zeuge aus dem ultrarechten Milieu Sachsens, eine düstere Gestalt“[1].

Was Thomas Gerlach erzählte war überaus düster und eklig und auch ultrarechts. Aber wie ein typischer Nazi-Glatzkopf sah er nicht aus. Warum zeichnet die bekannteste Gerichtsreporterin Deutschlands trotzdem dieses Bild?

Vor Beginn des Prozesses war die Aufregung groß. Die Vergabe der Pressesitzplätze im Gerichtssaal veranlasste die türkische Zeitung „Sabah“ zu einer Verfassungsbeschwerde. Nach der darauf folgenden zweiten Vergaberunde schafften es viele überregionale deutsche Medien nicht auf einen Presseplatz- und zogen wiederum eine Klage in Betracht.[2] Seitdem berichten der „Spiegel“ und die „Süddeutsche“ online über fast jeden Prozesstag, die „Zeit“ sichtet die Medienberichte über jeden Prozesstag in einem Blog [3].

Es wäre an der Zeit, dass sich die Medien mit dem “Warum?” beschäftigen

Die Artikel lesen sich meistens wie Protokolle. Die Hinweise der Nebenklage auf Strukturen und Ideologien werden nicht aufgegriffen. Es gibt keine tiefgehenden Hintergrundinformationen, obwohl dieser Fall doch so viel Anlass bietet, über Neonazistrukturen in Deutschland zu berichten. Vor allem wäre es an der Zeit, dass sich die Medien anfangen damit zu beschäftigen, warum die NSU-Morde passiert sind. Stattdessen bedient die Berichterstattung über den NSU-Prozess extremismustheoretische Erklärungsansätze. Es wird eine klare Grenze aufgebaut: Dort sind die Nazis, hier sind „wir“. Es findet keine Auseinandersetzung mit den Verbindungen von antidemokratischen und rassistischen Gedankengut in der „Mitte“ und der Neonazi-Szene beziehungsweise den Morden durch den NSU statt.

Stattdessen porträtiert „Spiegel Online“ Thomas Gerlach als einen „Protagonist aus einer anderen Welt“ [4]

Am Tag zuvor hatte der große Bruder von Uwe Böhnhardt ausgesagt. Sein Bruder sei rechts gewesen, das sei ja damals „Kult“ gewesen. Aber wenn Uwe Böhnhardt beim großen Bruder zu Besuch war, hätte Uwe Böhnhardt seine Springerstiefel immer vor der Tür stehen lassen müssen. In der Pause diskutieren einige Pressevertreter_innen, ob man dem großen Bruder glauben könne, dass er den kleinen Bruder aus der Szene rausholen wollte. Auch die Zeitungen greifen diese Frage auf. [5] Allerdings fragt sich niemand, warum es dem großen Bruder nicht aufgefallen ist, wie gewaltbereit sein kleiner Bruder war. Noch erschreckender scheint niemand den Kommentar des großen Bruder, über „Ausländer“ zur Kenntnis genommen zu haben: Uwe Böhnhardt hätte gesagt, „was man halt so spricht einfach so“. Dabei zeigt genau diese Stelle, wie fließend die Grenzen sind.

Wie nährte und ermöglichte der Alltagsrassismus das neonazistische Morden?

Hier wäre ein Anschlusspunkt, um zu analysieren, wie es kommt, dass die Ermittlungsbehörden die Opfer beschuldigten statt im rechtsextremistischen Spektrum zu ermitteln. Hier müsste darüber geredet werden, wie Alltagsrassimus das neonazistische Morden nährte und ermöglichte. Und hier bestünde eine Möglichkeit, darüber zu reden, dass es nicht komisch ist, dass Zschäpe so ruhig und gesittet auftritt. Die Morde des NSU waren politisch motiviert und rassistisch. Am Werk waren keine durchgedrehten Mordmaschinen. [6] Es müsste über politische Machtverhältnisse geschrieben werden. Das würde auch das Anerkenntnis verlangen, dass die ach so-verfassungstreue „Mitte“ rassistische Meinungen pflegt.

In Ermangelung einer solchen Analyse kommt der Spiegel dazu, vom „übermächtige[n]Forum der Opfer und deren Anwälte“7 zu schreiben. Betrachtet man den Gerichtssaal rein quantitativ mag diese Analyse stimmen. Doch sie ignoriert sowohl dass die Sitzreihen für die Nebenklage wie ein Anhängsel am Gerichtssaal kleben als auch dass die Nebenkläger_innen und ihre Anwält_innen den Zeug_innen aufgrund der Sitzordnung nicht ins Gesicht sehen können, wenn sie sie befragen. Sie vernachlässigt ebenso die immense Belastung für die Nebenkläger_innen in einem so kleinen Gerichtssaal, der sie dazu zwingt, bei ihren Aussagen beinahe auf dem Schoß der Angeklagten zu sitzen- also jenen Menschen, die am liebsten die Nebenkläger_innen aus Deutschland rausschmeißen würden. Auf diese Art und Weise wird es leicht, die Arbeit der Bundesanwaltschaft einfach hinzunehmen- obwohl diese nicht daran arbeitet, die lückenlose Wahrheit ans Licht zu befördern. Es wird verkannt, dass die Nebenkläger_innen weiterhin in Deutschland mit Alltagsrassismus zu kämpfen haben. Ihre weiterhin bestehende Angst8 vor weiteren Nazi-Angriffen scheint übertrieben, wenn sie ein übermächtiges Forum haben.

Liest man die Medienberichte, entsteht das Bild, in Deutschland gäbe es normalerweise kein Problem mit Rassismus. Es gibt ein paar Glatzköpfe. Und eine Frau mit langen Haaren. Aber zum Glück gibt es auch das OLG München und dann sitzen die paar Glatzköpfe ja bald hinter Gittern. Thema erledigt.

[1] Friedrichsen, Der Rassist im Kettenhemd, Spiegel Online, abrufbar: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-rechtsextremist-thomas-g-sagt-aus-a-980382.html (Stand: 26.8.2014, 16.36 Uhr).
[2] Menke/ Leurs, Losverfahren für NSU-Prozess, Spiegel Online, abrufbar: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/losverfahren-fuer-nsu-prozess-medien-erwaegen-klage-gegen-sitzvergabe-a-897227.html (Stand: 16.7.2014, 13.57 Uhr).
[3] http://blog.zeit.de/nsu-prozess-blog/
[4] Friedrichsen, Der Rassist im Kettenhemd, Spiegel Online, abrufbar: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-rechtsextremist-thomas-g-sagt-aus-a-980382.html (Stand: 26.8.2014, 16.32 Uhr).
[5] Rammelsberger, Ein Bruder, dem die Worte fehlen, Süddeutsche Online, abrufbar: http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-ein-bruder-dem-die-worte-fehlen-1.2038399 (Stand: 29.8.2014, 11.48 Uhr).
[6] Nebenklage NSU-Prozess, 22.7.2014, abrufbar: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2014/07/22/22-07-2014-2/ (Stand: 26.8.2014, 17.38 Uhr).
[7] Friedrichsen, Der Rassist im Kettenhemd, Spiegel Online, abrufbar: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-rechtsextremist-thomas-g-sagt-aus-a-980382.html (Stand: 26.8.2014, 16.29 Uhr).
[8] Hinrichs, „Ich lasse mich nicht aus Deutschland vertreiben“, Welt Online, abrufbar: http://www.welt.de/politik/deutschland/article128727416/Ich-lasse-mich-nicht-aus-Deutschland-verjagen.html (Stand: 30.8.2014, 17.25 Uhr).