Unter Zuschauern. Ein Tag beim Münchner NSU-Prozess

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von Johannes F. Peters

Ich komme zwei Stunden vor Beginn des 131. Verhandlungstags am Strafjustiz­zentrum an. Über den NSU-Prozess habe ich relativ viel gelesen und wollte als Jurist schon lange einmal herkommen. Aus Müdigkeit ärgere ich mich wenig über die Kontrolle am Eingang des 70er-Jahre-Baus, bei der ich trotz stummem Metalldetektor ausgiebig abgetastet werde. Immerhin sind die Damen und Herren der Polizei, die mein Telefon und meine Wasserflasche verwahren, auffallend freundlich. Über eine Betontreppe direkt auf der Zuschauertribüne angekommen, wirkt der Sitzungssaal auf mich überraschend eng. Gute Sicht auf die Angeklagten bietet nur die vorderste Reihe, die zum Glück erst halb besetzt ist. Die überwiegend unter der Zuschauertribüne platzierten Bänke der Nebenklage werden wir nur durch eine Projektion auf zwei Leinwände, die Zeugen nur von hinten zu sehen bekommen.

Beobachten und beobachtet werden

Einige offenbar regelmäßige Prozessbeobachter grüßen die langsam eintreffenden Journalisten, von denen ich nur wenige (wie Gisela Friedrichsen vom Spiegel oder Holger Schmidt vom SWR-„Terrorismusblog“) erkenne. Schon zum 126. Mal ist ein freundlicher Münchner dabei. Ein anderer Rentner und sein jüngerer Nachbar, der auch beim Thüringer Untersuchungsausschuss war, erklären mir die Sitzordnung unter den Angeklagten. In der Reihe hinter mir hat inzwischen ein großflächig tätowierter Neonazi Platz genommen, auf dessen schwarzem T-Shirt „Gefangenen Hilfe Info“ steht und der später Ralf Wohlleben freundlich grüßen wird. Mir wird etwas mulmig und ich merke, wie ich auch andere Zuschauer mustere: Was ist der kräftige Mittvierziger mit der Fast-Glatze für einer, der ein esoterisch wirkendes Buch liest? Umgekehrt fühle ich mich selbst beobachtet: Was die erkennbar der linken Szene zugehörige Gruppe wohl von mir denkt, zum Beispiel wegen meiner Sitznachbarn? Einer trägt ein „Kein Mensch ist illegal“-Hemd. Mit ein paar Leuten komme ich im Laufe des Tages während der Verhandlungspausen ins Gespräch, meist zwischen den Wasser- und Kaffeeautomaten. Die bayrische Justiz stellt dort belegte Semmeln und Süßigkeiten zur Verfügung, bezahlt wird nach Preisliste in eine Münzschale.

Während die Protokollantinnen und erste Vertreterinnen der Nebenklage eintreffen, vertreibe ich mir die Wartezeit mit dem Buch „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“, einer solide wirkenden Chronologie, der ich leider erst bis ins Jahr 1996 gefolgt bin. Auf Seite 193 ärgere ich mich über eine sexistisch-taxierende Beschreibung Zschäpes („[…] dass sie eigentlich nicht besonders hübsch ist – ihre Augen sind zu groß, die Lippen zu schmal, die Nase ist zu klein […]“) – und darüber, dass ich sie innerlich zu überprüfen beginne, als die Angeklagte Platz genommen hat. Großes Medienthema war zuletzt das angeblich zerrüttete Verhältnis Zschäpes zum Verteidigungstrio (mit den noch immer absurd wirkenden Namen Heer, Stahl und Sturm). Die freundliche Interaktion der vier lässt davon den gesamten Tag über wenig erkennen.
Auch die übrigen Plätze im Sitzungssaal werden derweil routiniert eingenommen, viele Beteiligte bauen Laptops vor sich auf. Auf der Tribüne gibt es Kurzeinschätzungen: „Der Holger Gerlach ist für mich der Psychopath in der Gruppe.“ – „Den Eminger hätten sie nie aus der U-Haft entlassen dürfen. Heute kommen ja zwei Brüder von ihm, aber die sagen vermutlich nichts.“ – „Wohllebens Szene-Verteidiger Klemke habe ich mal angesprochen, ob er eigentlich NPD wählt. Er meinte nein, er sei deutsch-national. Was auch immer das heißt.“ Als Zschäpe und Wohlleben (aus der Untersuchungshaft) sowie Schultze (aus dem Zeugenschutzprogramm) vorgeführt werden, versuchen nach offenbar täglichem Ritual ein paar Fotographen, die Angeklagte von vorn abzulichten, während sie sich abdreht. Schultze versteckt sich unter einer grauen Kapuze, unter der später ein erstaunlich „normaler“ Pilzkopf hervor kommt.

Nicht erinnern und nicht erinnern wollen

Es ist schon kurz vor 10 Uhr, als der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht (OLG) Götzl dem ersten Zeugen des Tages erklärt, seine mögliche Unterstützung des im Jahr 2000 verbotenen Neonazi-Netzwerks „Blood and Honour“ sei inzwischen verjährt. Er hat deswegen das Aussageverweigerungsrecht nicht, auf das er sich bei seinem letzten Auftritt hier berufen wollte. Also beginnt Thomas Rothe davon zu berichten, wie er die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe kurzzeitig bei sich in Chemnitz unterbrachte und sie auch später in Zwickau mehrfach traf. Allerdings sind seine kurzen und sehr sächsischen Sätze fast alle nichtssagend. Viel mehr, als dass er die drei „richtig erst gekannt [habe], wo sie bei mir waren“, er später die Uwes beim Fahrradfahren getroffen und mit Mundlos Computerspiele oder Musik getauscht habe, erzählt er nicht. Vielleicht habe er mal mit Mundlos über seine Zeitschrift „Sachsens Glanz“ gesprochen, in der „auch unpolitische Bands“ porträtiert wurden, aber sicher nicht über andere Personen oder über die Lebensumstände der Untergetauchten.
Erst nach einer Weile wird mir klar, dass die Aussage nicht in erster Linie Ausdruck von geistiger Beschränktheit, sondern vermutlich Taktik ist: Rothe lässt sich alles aus der Nase ziehen, antwortet möglichst einsilbig, will sich an wenig erinnern. Zur Hilfe kommt ihm dabei die Fragetechnik des Vorsitzenden Richters Götzl: Oft formuliert er so umständlich, als hätte er in seinem ganzen Leben nur mit Volljuristen über Rechtsdogmatik gesprochen. Und wenn Rothe erkennbar eine Frage missversteht, hakt Götzl kaum nach, sondern springt zu einem anderen Thema. Fahrig und leicht reizbar kommt mir der Richter vor, die Routiniers auf der Tribüne dagegen erzählen, er sei inzwischen schon viel gelassener als zu Beginn des Prozesses: „Da war er fast cholerisch.“
Millimeterweise gibt Rothe preis, um das Jahr 2000 herum „Blood and Honour“-Konzerte nicht nur besucht, sondern den Organisatoren Jan Werner und Thomas Starke (über dessen langjährige V-Mann-Tätigkeit für das Berliner LKA ich in „Heimatschutz“ gelesen habe) bei einigen Veranstaltungen geholfen zu haben: „Saalschutz, Bierausschank, Abholen der Bands“, die auf Namen wie „Noie Werte“, „Blitzkrieg“ oder „Chemnitz88“ hörten und Lieder wie „Im Gedenken frei“ gesungen hätten. Rothes Liebslingsantwort lautet „nicht, dass ich wüsste“. An die „Die Jew Die“-Tätowierung von André Eminger will er sich nicht erinnern, von dessen „Weißer Bruderschaft Erzgebirge“ habe er nur gehört. Zu einem unfreiwilligen lichten Moment kommt es, als Rothe seine Aussage, mit Waffen hätte er „nie etwas zu tun gehabt“, korrigiert: „Außer bei der Bundeswehr.“

Vernehmen und vorhalten

Der Zeuge wird vorerst entlassen, soll aber erneut geladen werden. Als nächstes tritt der Richter am Bundesgerichtshof (BGH) Schaffert auf: Er hat 2011 als Haftrichter den Neonazi Matthias Dienelt vernommen, der inzwischen die Aussage verweigert. Dienelt gab dabei über seinen Verteidiger zu Protokoll, auf Vermittlung von Eminger eine Wohnung für „Max“ (Mundlos) und „Lise“ (Zschäpe) in der Zwickauer Polenzstraße angemietet zu haben, später sei noch „Gerry“ (Böhnhardt) dazugekommen. Die Untermieter hätten einen negativen Schufa-Eintrag gehabt und deswegen allein keine Wohnung bekommen. Für eine zweite Wohnung in der Frühlingsstraße, die am Ende „in die Luft gesprengt wurde“ (Schaffert), hätten die drei zwar seine Unterschrift gefälscht, trotzdem habe er dort gelegentlich Mittagsschlaf gehalten. Der BGH-Richter berichtet von Dienelts Aussage, er habe die Schufa-Story und die Legenden des Trios geglaubt, sei kein Nazi und habe als Berufs­kraftfahrer gelegentlich in der Wohnung übernachtet, gegen Zahlung von 10 oder 15 Euro. Diese Version habe schon daran gelitten, dass Dienelt zum fraglichen Zeitpunkt noch Metzger gewesen sei und erst später als Kraftfahrer gearbeitet habe. Auch die Behauptung des Freundes von Eminger, die „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ habe sich auf die Veranstaltung von Parties und Fußballspielen konzentriert, fand der Richter unglaubhaft. An viel mehr kann sich Schaffert allerdings auch dann nicht erinnern, als Götzl ihm Vorhalte aus dem Vernehmungsprotokoll des Haftprüfungstermins macht. Überhaupt bleibt der BGH-Richter, den ich anhand seiner Stimme und Motorik für längst pensioniert gehalten hätte, erstaunlich blass. In leisen, unpräzisen Schachtelsätzen, häufig mit doppelter Verneinung, bekundet er im Ergebnis sein Unwissen über die Neonazi-Szene. Als das Gericht sein Fragerecht abgeben will, kündigt Zschäpes Verteidiger Stahl einen Befangenheitsantrag an, der in der Mittagspause formuliert werden soll. Im Publikum wird über Anlass und Begründung gerätselt, vor allem aber wird gelästert über den Auftritt des BGH-Richters: „Der war ja schwach. Und was so einer den Staat monatlich kostet! Wir hatten aber hier auch schon gut vorbereitete polizeiliche Vernehmungsbeamte.“ – „Wenn ich in meinem Job als Handballtrainer so gearbeitet hätte wie der als Richter, hätten wir nie irgendwas gewonnen.“
Vor dem Gerichtsgebäude treffen sich der Angeklagte Eminger und sein Zwillingsbruder mit dem Neonazi von der Zuschauerbank. Es hat etwas Demonstratives, wie sie vor Presse und Öffentlichkeit gemeinsam davongehen.

Auswählen und Herumeiern

Nach der Mittagspause sind die Sitzplätze verfallen, alle stehen wieder an der Sicherheits­schleuse an. Stahl trägt einen Befangenheits­antrag gegen den gesamten Senat vor: Das Gericht habe Schaffert das Vernehmungs­protokoll selektiv vorgehalten, nämlich nur in seinen potentiell belastenden, die Anklagehypothese eines Lebens im Untergrund stützenden Teilen. Ausgelassen worden seien die Aussagen Dienelts, wonach die Untermieter nicht wie untergetaucht gewirkt, sondern gegrüßt und ihre Katzen in Obhut gegeben hätten.
Es folgen Pausen zum Kopieren des Antrags, zur Beratung der übrigen Verfahrensbeteiligten und für den Beschluss des Gerichts. Leider habe ich keine Strafprozessordnung dabei und kann nicht nachschauen, unter welchen Voraussetzungen ein Befangenheitsantrag zurück­gestellt werden kann, nehme aber an, dass die Verhandlung heute fortgesetzt wird. Derweil erzählt in der Reihe hinter mir eine Zuschauerin einer anderen, wer Fritz Bauer war. Ein paar Minuten später sprechen die beiden über einen dementen Onkel: „In jedem zweiten Satz kommt inzwischen bei ihm ‚Stalingrad‘ vor.“
Verteidiger Klemke schließt sich dem Befangenheitsantrag an: Seit Ablehnung des Haftprüfungs­antrags gehe sein Mandant Wohlleben davon aus, dass das Urteil bereits gefällt sei, die heutige Zeugenvernehmung bestätige das. Die Vertreter der Bundesanwaltschaft deuten in ihrer Stellungnahme an, dass der Befangenheitsantrag sogar unzulässig sein könnte insofern, als er eine inhaltliche Würdigung des Vernehmungsprotokolls voraussetzen würde; letztlich wolle man aber keine Verschleppungsabsicht unterstellen. Die Nebenklage weist darauf hin, die Verteidigung könne ausgelassene Passagen ja selbst vorhalten. Plausibel klingt die Spekulation auf der Zuschauerbank, dass Zschäpes Verteidigung womöglich versucht, ihr Verhältnis zur Angeklagten durch einen konfrontativeren Umgang mit der Richterschaft zu entspannen.
Das Gericht jedenfalls stellt den Antrag zurück, den ein anderer Senat des OLG zwei Tage später ablehnen wird, und die Vernehmung des BGH-Richters Schaffert geht weiter. Auf die Fragen von Stahl und Klemke antwortet er weiterhin sehr umständlich, stockend und letztlich nichtssagend, etwa als er die „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ charakterisieren soll: Das sei eine Gruppe gewesen, die nicht lediglich Fußball gespielt und Parties veranstaltet hätte, sondern der nahezustehen auf Bösgläubigkeit hingedeutet hätte. Er habe als Haftrichter am BGH regelmäßig die Verfassungsschutzberichte gelesen und deswegen damals sicher mehr gewusst. Die Bundesanwaltschaft beanstandet einige Fragen der Verteidigung, aber als Stahl erklärt, der Zeuge sage noch immer nichts Konkretes zum damaligen Verdacht gegen Dienelt, sondern „eiere herum“, widerspricht niemand. Umgekehrt beharrt die Bundesanwaltschaft nicht auf ihrem Selbstverständnis als „objektivste Behörde der Welt“ sondern nimmt es hin, dass Schaffert davon spricht, ihr Vertreter im Haftprüfungstermin habe „den harten Hund gespielt“ und eine „dosierte Verschärfung“ der Lage betrieben. Die Stimmung im Saal bessert sich kurz, als Schaffert sagt, er sei „immer gut damit gefahren, zwischen Beschuldigten und der Verteidigung zu unterscheiden“: Rechtsanwalt Heer demonstriert ironisch seine Erleichterung über diese Differenzierung.

Nachsehen und erklären

Letzter Zeuge ist Emingers Zwillingsbruder Maik, der ein AC/DC-Hemd trägt und sich als selbständigen Tätowierer bezeichnet. Seinen kurzen Auftritt vor Gericht genießt er sichtlich, geht lächelnd-tänzelnd zu seinem Platz. Demonstrativ schaut er zu seinem Bruder herüber und wartet ein paar Sekunden, bevor er das Verwandschaftsverhältnis bejaht und seine Aussagebereitschaft verneint. Nach dem dritten Bruder Eminger befragt, dessen Ladung nicht erfolgreich war, wird er etwas unverschämt: „Sehen Sie doch mal die Adressen nach, da werden Sie den Fehler schon selber finden.“ Offenbar wurden beide gemeinsam angeschrieben, aber Ronny wohnt separat; wo das ist, will Maik nicht wissen. Götzl reagiert gereizt, herrscht ihn zu Höflichkeit an. Vielleicht meint der Richter, seinen fehlenden Nachdruck bei der Befragung von Zeugen aus der rechten Szene auf diese Weise kompensieren zu müssen.

Am Ende des Verhandlungstages gibt ein Nebenklagevertreter die Erklärung ab, am Vormittag habe Maik Eminger das Gericht in einem Sweatshirt der neonazistischen „Gefangenen­hilfe“ betreten mit dem Slogan „Brüder schweigen“. Der Spruch spiele eher auf das Treuelied der Waffen-SS und auf die neonazistische US-Terrorgruppe „The Order“ an als auf das Zeugnisverweigerungsrecht. Der deutsch-nationale Wohlleben-Verteidiger Klemke beanstandet die Erklärung erfolgreich, aber immerhin hat sie die Öffentlichkeit erreicht.
Am nächsten Tag, dem 132. der Hauptverhandlung gegen Zschäpe u.a., wird bei mir schon etwas Routine aufkommen. Jedenfalls werde ich diesmal einer Sitznachbarin, die zum ersten Mal dabei ist, die Angeklagten und ihre Verteidiger vorstellen. Nach nur zwei Stunden werde ich allerdings gehen müssen, denn mein Opa feiert Geburtstag. Noch ahne ich nur, dass es am Kaffeetisch im Altersheim wie so oft um die Kriegsverbrechen der Wehrmacht gehen wird.