Gezielte Sabotage

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Auf über 1.800 Seiten hat der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss (UA) in seinem Abschlussbericht »Rechtsterrorismus und Behördenhandeln« seine Ergebnisse zusammengefasst. In 68 Sitzungen wurden in zweieinhalb Jahren 123 ZeugInnen und Sachverständige gehört und 11.681 Akten gesichtet. Mit der stellvertretenden Vorsitzenden des Ausschusses, der Landtagsabgeordneten Katharina König (DIE LINKE), sprach Ernst Kovahl von »der rechte rand« über den Stand der Aufklärung zum »Nationalsozialistischen Untergrund«.

drr: Der Thüringer NSUUA geht in seinem nun öffentlich vorgelegten Bericht deutlich weiter als die Ausschüsse in Bayern, dem Bund oder in Sachsen. In dem Papier heißt es zum Beispiel: »Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu.« Was ist mit »gezielter Sabotage« gemeint?

Katharina König: Sowohl die Erkenntnisse aus den Akten als auch diverse Aus­sagen von Zeugen lassen in der Konsequenz den möglichen Schluss zu, dass mehrere oder zumindest eine Sicherheitsbehörde gezielt das Ergreifen des untergetauchten NSU-Kerntrios verhinderte. Sei es durch die bewusste Weitergabe von Falschinformationen oder die generelle Nicht-Weitergabe von erhaltenen Informationen zum Aufenthaltsort, zu Unterstützern und dem Vorgehen des Trios, wie beispielsweise die Waffen­beschaffung.

Wer hat sabotiert und wie?

Der Thüringer Verfassungsschutz meldete zum Beispiel an das Landeskriminalamt und die Zielfahnder, das Trio hätte sich nach Südafrika abgesetzt, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits Hinweise auf das Untertauchen der Drei in Sachsen beziehungsweise in Chemnitz vorlagen.

Fanden sich solche Beispiele vor allem beim Verfassungsschutz oder wurde auch durch andere Behörden möglicherweise versucht, die Fahndung zu behindern?

Nein, das war nicht nur der Verfassungsschutz. Aufgrund von Zeugenaussagen ergibt sich der Verdacht, dass Behinderungen auch durch die Polizei und das Innenministerium stattgefunden haben. Für die Staatsanwaltschaft stellt sich die Frage, warum sie nicht gleich am Tag der Durchsuchung 1998 in Jena sofort Haftbefehle ausstellte und die Fahndung 2003 beendete, obwohl zumindest gegen Uwe Böhnhardt noch bis 2007 ein Haftbefehl offen war. Ein Polizist bekräftigte zudem im Ausschuss glaubwürdig, er habe 2003 nach einem Zeugenhinweis über den Aufenthaltsort der drei Abgetauchten einen Anruf aus dem Innenministerium erhalten, in dem ihm mitgeteilt wurde: »Fahren Sie mal raus, aber ermitteln Sie nichts.« Die Aktenlage bestätigt diese Nicht-Ermittlungen, obwohl der Zeuge konkrete Hinweise auf mögliche Aufenthaltsorte des Trios gegeben hatte.

Welche Rolle spielte Rassismus in der Gesellschaft und in den Behörden für die Entstehung des NSU, seine späteren Taten und die völlig falsche Ermittlungsrichtung in den Mordfällen?

Unseres Erachtens ist Rassismus eine der Hauptursachen und Probleme – nicht nur, aber auch – im Fall des NSU. In den 1990er Jahren machten Neonazis die Erfahrung, dass sie mit einem entsprechenden Maß an Gewalt ihre Ideologie faktisch auch parlamentarisch umsetzen konnten. Ich meine damit die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl nach den rassistischen Pogromen von Rostock, Hoyerswerda und so weiter.

Welche Bedeutung hatten V-Leute für das Entstehen, für die Existenz und das Nicht-Auffliegen des NSU?

Zum einen haben die V-Leute durch ihre Finanzierung durch Spitzelhonorare, durch ihre weitgehende Straffreiheit und ihre neonazistische Ideologie maßgeblich zum Aufbau der politischen Sozialisationsräume des späteren NSU-Kerntrios beigetragen. Zum anderen haben sie in Teilen das Trio im Untergrund unterstützt und damit vor dem Zugriff der Fahndung geschützt. Außerdem ist davon auszugehen, dass die V-Leute nur einen Teil ihrer Informationen über die Abgetauchten an ihre V-Mann-Führer lieferten. Sie bildeten so einen Schutzraum für das Trio im Untergrund.

Der »Thüringer Heimatschutz« (THS) – also die Ursprungsorganisation des NSU wurde von ExpertInnen als »Kind des Verfassungsschutzes« bezeichnet. Zu Recht?

Ohne den Verfassungsschutz hätte es den THS in dieser Form nicht gegeben. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass Nazis eben Nazis sind und zur öffentlichen Thematisierung und Umsetzung ihrer mörderischen Ideologie den Verfassungsschutz nicht benötigen. Der Geheimdienst hat dem THS aber seine Existenz erleichtert.

Wie stark stehen die Thüringer Behörden und die früheren Landesregierungen in der Verantwortung für das Entstehen der Nazi-Szene der 1990er Jahre – und somit letztlich auch des NSU?

Unseres Erachtens nach sind sowohl die Thüringer Sicherheitsbehörden als auch die Landesregierungen ebenso wie Teile der Gesellschaft mitverantwortlich. Die ideologische Verhaftung in der Extremismustheorie führte zu einer Ignoranz bis hin zu einer Verniedlichung des Erstarkens der rechten Szene in den 1990er Jahren – bei gleichzeitiger Kriminalisierung antifaschistischen Engagements. Beispielhaft sei das Verbot der Antifa-Demonstration »Den rechten Konsens brechen« 1997 in der damaligen Hochburg des THS Saalfeld genannt – das erste Verbot einer bundesweiten Antifa-Demo nach 1990 überhaupt.

Das Klima im Thüringer Geheimdienst unter seinem Präsidenten Helmut Roewer in den 1990er Jahren war ja – vorsichtig gesagt – speziell. Waren die Zustände in dem Amt nur Ausrutscher oder war und ist das Geheimdienst-Normalität?

Ich behaupte, dass das in weiten Teilen dieser Ämter Normalität in allen Bundesländern ist. Nicht nur in Thüringen wurden V-Leute wie Tino Brandt geführt. Nicht nur Thüringer Verfassungsschützer – die ja unter anderem aus Bayern und Hessen beziehungsweise aus dem Bundesinnenministerium kamen – vertreten und vertraten die Extremismustheorie und agierten aus antikommunistisch geprägter Sicht.

Was war der NSU: Trio oder Netzwerk? Die Bundesanwaltschaft will ja von einem größeren Netz bisher nichts wissen.

Definitiv Netzwerk! Die Bundesanwaltschaft ignoriert – wohl aus strafprozessualen Gründen und um ihre Anklageschrift durchzuhalten – die hinter dem Trio stehenden Unterstützer und die Neonazi-Netzwerke, die das Vorgehen des späteren NSU Jahre zuvor exakt beschrieben haben. Aus unserer Sicht ist von einem Netzwerk von etwa 200 Personen auszugehen.

Haben das Auffliegen des NSU, die Ermittlungen und die Aufklärung in den Ausschüssen, durch Antifas und durch Medien einen Einfluss auf die Nazi-Szene in Thüringen? Welche Auswirkungen hat zum Beispiel die Verhaftung von Ralf Wohlleben? Er war ja im Rechtsrock-Bereich einer der führenden Kader.

In Jena gab es durch die Verhaftung von Wohlleben eine Verringerung öffentlich wahrnehmbarer Neonazi-Aktivitäten. Gleichzeitig finden aber weiterhin regelmäßig Rechtsrockfestivals statt, es gibt neue Nazi-Immobilien und weiterhin rechte Übergriffe. Die Thüringer Nazi-Szene ist nicht eingeschüchtert. Sie solidarisiert sich mit Wohlleben, sammelt Geld für seine Verteidigung und nimmt immer wieder positiv Bezug auf den NSU. In Teilen hat die Repression im Zusammenhang mit dem NSU zur Verminderung der öffentlichen Aktivitäten beigetragen, allerdings ist dies eher eine Verschiebung, als eine tatsächliche Reduktion neonazistischer Aktivitäten in Thüringen.

Der Thüringer Abschlussbericht hält das Versagen – oder den Vorsatz – der Behörden detailliert fest. Wird es reale politische Konsequenzen für Polizei, VS oder Justiz geben?

Es wird Konsequenzen geben – allerdings sehr wahrscheinlich nicht im notwendigen Maß. So ist beispielsweise bei der Polizeiausbildung davon auszugehen, dass es Neuerungen in Bezug auf polizeiliches Handeln bei rassistisch und neonazistisch motivierten Taten geben wird. Für die Staatsanwaltschaften enthält der Abschlussbericht ebenfalls gemeinsame Empfehlungen. Schwieriger ist es jedoch beim Verfassungsschutz. Die aus meiner Sicht notwendige Auflösung wird sehr wahrscheinlich nicht erfolgen. Jedoch könnte – je nachdem, wie die Regierungskoalition nach der Wahl in Thüringen aussieht – zumindest das Abschaffen der V-Leute möglich sein. Ich hoffe zudem, dass eine Enquete-Kommission zum Thema Rassismus eingesetzt wird und es so gelingt, auch an die Ursachen heranzugehen.

Welche Fragen sind aus Sicht des Thüringer Ausschusses noch offen? Wo muss weiter gearbeitet werden?

Viele Fragen sind offen, mehrere davon haben wir im Sondervotum unserer Fraktion zum Abschlussbericht aufgeführt. Wir können vor allem die entscheidende Frage der Opferangehörigen nicht beantworten, nämlich die Frage nach dem »Warum?«: Warum wurden ihr Vater, ihr Bruder, ihr Sohn, ihre Tochter ermordet?. Wir wissen nicht, was das Motiv für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter war. Wir haben auch das NSU-Netzwerk nicht restlos aufgeklärt. Wir haben noch immer Fragen zu den Verwicklungen des Verfassungsschutzes – insbesondere des »Bundesamtes für Verfassungsschutz«. Außerdem haben wir immer noch nicht Kenntnis von allen im Umfeld des NSU geführten V-Leuten. Wir können nicht erklären, wie der Ablauf am 4. November 2011 in Eisenach war, als Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos starben. Weiter gearbeitet werden muss aber auch im Bereich der Verwicklungen und Verbindungen von Neonazis und der organisierten Kriminalität. Hier hatten wir keine Akteneinsicht – aus meiner Sicht ist dies aber aufgrund der zahlreichen sichtbaren Verbindungen nötig.

Braucht es also eine Fortführung der Aufklärungsarbeit in Thüringen, im Bundestag und in anderen Bundesländern?

Ja, in Thüringen braucht es einen weiteren NSU-Untersuchungsausschuss. Ebenso im Bund. Das gleiche gilt mindestens für alle Bundesländer, in denen der NSU mordete – eigentlich jedoch auch in den Ländern, die V-Leute im Umfeld des NSU geführt haben. Eine Enquete-Kommission, wie in Baden-Württemberg, erfüllt in keiner Hinsicht den Versuch von Aufklärung.

Wie würdest du die Erkenntnisse des Thüringer NSUUA zusammenfassen?

Erstens stellt der Abschlussbericht aus meiner Sicht eine Rehabilitation der häufig kriminalisierten Antifas insbesondere der 1990er Jahre dar. Ihre Warnungen und ihr Agieren gegen Rechts waren richtig und notwendig. Zweitens Ernüchterung bezüglich der Chancen, angesichts von Geheimhaltungspflicht und Aussageverhalten von Zeugen wirklich aufzuklären. Drittens war es schockierend, wie tief die Extremismustheorie in Behörden verankert ist. Viertens Hilflosigkeit, denn bei allen geforderten und gemeinsam beschlossenen Empfehlungen des Abschlussberichtes bleibt das Wissen, dass die Umsetzung abhängig von politischen Mehrheitsverhältnissen ist. Fünftens Hoffnung, dass die Erkenntnisse zumindest zu etwas mehr Sensibilität beitragen, beispielsweise beim Umgang mit Rassismus. Und zuletzt Wut darüber, wie viel Geld durch den Verfassungsschutz in die Nazi-Szene gesteckt wurde.