Der Sächsische Untersuchungsausschuss zum »Nationalsozialistischen Untergrund« lässt viele Fragen offen. Ein neues Gremium soll nach der Landtagswahl weiter aufklären.
von Ingo Weidler und Maria Reuß, erschienen in der rechte rand, Heft 150
Fast 600 Aktenordner, 36 Sitzungen, 34 ZeugInnen und sechs Sachverständige: Das war das Arbeitspensum des Untersuchungsausschusses (UA) »Neonazistische Terrornetzwerke« im Sächsischen Landtag. Im Juni 2014 beendete das Gremium seine Arbeit, die im April 2012 begonnen hatte. Der Weg dorthin war zäh, denn in vielerlei Hinsicht unterschied sich der sächsische Ausschuss zum Verhalten der Behörden im Fall des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) von den parallel arbeitenden Gremien im Bundestag oder in Thüringen. So war in Sachsen der Ausschuss erst mit erheblicher Zeitverzögerung und allein auf Initiative der demokratischen Oppositionsparteien zustande gekommen. Die Staatsregierung war dagegen von Anfang an der Ansicht, Sachsen brauche den Ausschuss nicht.
Der offizielle Abschlussbericht des Ausschusses spiegelt nun diese ablehnende Haltung der Regierung wieder. Verfasst wurde das öffentliche Papier vom früheren Bundesanwalt Volkhard Wache. Er war Mitarbeiter der »Schäfer-Kommission«, die nach dem Auffliegen des NSU im Auftrag der Thüringer Landesregierung eine erste Untersuchung durchgeführt hatte. Waches Sächsischer Bericht geht aber kaum über die Thüringer Darstellung vom Mai 2012 hinaus. Den Zeugenbefragungen des Ausschusses hatte er nicht beigewohnt und sein Bericht referiert keine der beigezogenen Akten. Stattdessen wird die Erzählung einer abgeschotteten und nicht auffindbaren Terror-Zelle aus Jena fortgeschrieben. Die Darstellung ist derart gefällig, dass CDU und FDP daraus die Fehlerlosigkeit sächsischer Behördenarbeit ableiten.
Behördenversagen
Von ganz anderer Art ist der umfangreichere Bericht der Fraktionen »Bündnis 90/Die Grünen«, »Die Linke« und SPD, der die Erkenntnisse des Ausschusses en détail rekonstruiert und Widersprüche herausarbeitet. Im Wesentlichen geht es um die Frage, inwieweit sächsische Behörden ab 1998 an der Suche nach den NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe beteiligt waren, Einblicke in das mutmaßliche HelferInnen-Umfeld gewannen und durch Ermittlungen zu etlichen ungeklärten Raubüberfällen Rückschlüsse auf die tatsächlichen TäterInnen erlangt wurden. Am Ende steht die Vermutung, dass es möglich gewesen wäre, das Trio vor Beginn der Mordserie in Chemnitz zu fassen. Doch der dafür nötige Fahndungsdruck sei nie aufgebaut worden. Im Gegenteil: Die Polizei im Freistaat habe sich an die Maßnahmen des Landeskriminalamtes (LKA) in Thüringen und dessen Zielfahndern gehalten, ohne eigenständige Maßnahmen zu veranlassen oder nähere Informationen zu verlangen.
Die demokratische Opposition im Sächsischen Landtag spricht von »Behördenversagen«. Denn das »Landesamt für Verfassungsschutz« (LfV) konnte seit Sommer 1998 durch Hinweise des brandenburgischen V-Mannes »Piatto« davon ausgehen, dass das Trio mit Unterstützung bekannter Kader von »Blood & Honour« Geld und Waffen besorgen wollte. Dennoch zogen die Dresdner Schlapphüte den Fall nicht an sich und ließen sich mit konzertierten Maßnahmen (»Operation Terzett«) anderthalb Jahre Zeit. Im Herbst 2000 kam es dann zum faktischen Stopp aller Suchmaßnahmen. Fast drei verschenkte Jahre, bevor die Verjährung für Ermittlungen eintrat. In diese Zeitspanne fielen vier der NSU-Morde.
Nichts gewusst?
Eine tatsächliche Gefahr, den Behörden ins Netz zu gehen, bestand für das Trio in Chemnitz selten. Und in Zwickau, wohin die Drei Mitte 2000 verzogen, waren sie völlig sicher. Erklärungsbedürftig ist all das, weil bei den Behörden schon damals die Annahme bestand, dass sich das Trio mithilfe namentlich bekannter Szenegrößen in Sachsen versteckt hält. Offenbar – darauf lassen die Ergebnisse des Ausschusses schließen – kursierte im LfV Sachsen sogar die Vermutung, dass das Trio terroristischen Zielen nachgehen könnte. Die offizielle Erzählung, über den Verbleib des Trios habe man in Sachsen nichts gewusst und man sei durch Schuld Thüringens »informationell unterversorgt« geblieben, darf als Unterkomplex gelten. Vielmehr gibt es Anhaltspunkte, dass schon frühzeitig präzise Hinweise vorlagen, die nicht an den Grenzen von Behörden und Bundesländern haltmachten. So erinnert sich der langjährige Leiter des Chemnitzer Staatsschutzes, Jürgen Kliem, an eine erste Stippvisite des Thüringer Zielfahnders Sven Wunderlich im Februar 1998. Der Besucher aus Erfurt habe sich über eine »Partywohnung« in der Chemnitzer Hans-Sachs-Straße informieren wollen, die Sache aber wenig später telefonisch für erledigt erklärt. Das Trio sei nämlich in Tschechien.
Damit beginnen die Ungereimtheiten, denn Wunderlich berichtete dem Ausschuss über einen solchen Besuch nichts. Eine weitere Suche in Tschechien ist auch nicht aktenkundig. Aus den Aussagen des Zielfahnders ergibt sich dagegen, dass er im Februar 1998 von der Fluchtrichtung Chemnitz noch gar nichts gewusst haben kann. Denn die am 26.Januar 1998 in Jena sichergestellten Asservate, insbesondere ein Briefwechsel des Trios mit sächsischen Neonazis und eine Mundlos zugeschriebene Adressliste mit Kontaktdaten in Chemnitz, will er nie gesehen haben. Aufschlussreich ist aber die Lage der Wohnung, nach der er sich in Chemnitz erkundigt haben soll. Denn die gesuchte Adresse kreuzt die Bernhardstraße in Höhe der Hausnummer 11. Das war der Wohnort der Neonazistin Mandy Struck, bei der das Trio kurz nach dem Untertauchen vor der Tür stand.
Foto aus dem Untergrund
Erst zwei Jahre später, im Frühjahr 2000, wurde Struck namentlich aktenkundig. Mal abwechselnd und mal gemeinsam standen fortan Polizisten und Geheimdienstler aus Thüringen und Sachsen vor ihrer Tür. Dort wurden zwei Mal Observationsbilder aufgenommen, die womöglich Böhnhardt und Zschäpe zeigen. Geprüft hat man das allerdings nicht und eine zeitweise bereitstehende SEK-Einheit auch nicht einschreiten lassen. Wie man überhaupt auf Struck gekommen ist? Wunderlich erinnert sich, dass »vom Verfassungsschutz« – welchem auch immer – Fotos gekommen seien, die Struck und Zschäpe gemeinsam zeigen.
Diese Fotos gab es wirklich. Das Thüringer LKA bekam sie allerdings im August 1998, und zwar nicht von einem Geheimdienst, sondern von einem Journalisten, der die Frauen im Januar 1998 bei einem Aufmarsch in Dresden abgelichtet hatte. Wer darauf die weithin unbekannte Struck identifiziert hat und wann das geschah, bleibt ebenso im Dunkeln wie das dubiose Eigenleben der Fotoserie. Sie fehlt in den Polizeiakten völlig. Doch beim LfV Sachsen sind die Bilder 2012 aus einem Aktenschrank gepurzelt. Nicht der einzige kuriose Vorfall im Umgang mit Akten, der zunächst mit dem »eklatanten Fehlverhalten eines einzelnen Mitarbeiters« und seit der Einstellung eines Disziplinarverfahrens nur noch mit einem Zufall erklärt wird.
Hinweise auf Chemnitz
Weitere Ermittlungen in Sachsen werfen Fragen auf. Nach offizieller Erzählung wurden im März und April 1998 bei einer Telefonüberwachung gegen den Vertrauten von Ralf Wohlleben, Jürgen Helbig, auch Anrufe aus Chemnitzer Telefonzellen registriert. Für die Zielfahnder war das der erste erinnerbare Hinweis auf die Fluchtrichtung. Nach Angaben des Ermittlers Wunderlich sei es jedoch nie gelungen, den tatsächlichen Anrufer zu ermitteln. Dennoch erging noch im April 1998 ein Beschluss für eine neue Telefonüberwachung – und zwar gegen einen angeblichen Anrufer aus dem Raum Chemnitz. Wunderlich kann sich an diese womöglich unbescholtene Person nicht erinnern und nur vage an die ganz anderen Kaliber, die dann ab August 1998 abgehört wurden: die Chemnitzer Köpfe von »Blood & Honour« Jan Werner, Thomas Starke und Hendrik Lasch. Wie man auf die kam? Wunderlich erinnert sich an Hinweise, aus Thüringen seien Spendengelder nach Sachsen geflossen. Doch dazu schweigen die Akten.
Geld vom Geheimdienst
Aufschlussreich könnten die Angaben sein, die Tino Brandt als Zeuge im Münchner NSU-Prozess machte. Mehrfach, so behauptet der Ex-V-Mann des Thüringer LfV, habe er als Spenden deklariertes Bargeld des LfV zur Weiterleitung an die Untergetauchten erhalten. Kann es sein, dass Polizeibeamte einer Spur gefolgt sind, die andere Beamte gelegt hatten? Fest steht, dass sich die Chemnitzer Kameraden gleichsam um Geld für das Trio bemühten, wie der brandenburgische V-Mann Carsten Szczepanski (»Piatto«) berichtete. Er kann aber kaum die erste Erkenntnisquelle gewesen sein. Denn seine Berichte setzten erst kurz nach Beginn der Telefonüberwachung gegen die B&H-Riege ein, die also auf andere Weise ins Visier der Ermittler geraten sein muss.
Aus dieser Perspektive relativiert sich der Eindruck, dass die Ermittlungen zum Aufenthalt des Trios nur vor sich hin stolperten. Womöglich waren die Behörden sogar unerwartet gut informiert und verweisen damit – das betont der rot-rot-grüne Abschlussbericht in Sachsen – auf eine Ermittlungsschiene, die noch immer weitgehend unbekannt ist. Was hat es beispielsweise mit der Telefonüberwachung gegen Siegfried S. auf sich, an die sich kein Zeuge erinnern mag, die aber nach Aktenlage gleichfalls im August 1998 begann und damit begründet wurde, dass der Mann eine »Kurierfahrt« für das Trio nach Jena organisiert habe? Die Akten geben dazu nichts her, auch ist Siegfried S. ansonsten ein unbeschriebenes Blatt. Aufhorchen lässt sein damaliger Wohnort in Chemnitz, wo er nur einen Hauseingang von der Unterkunft des Trios entfernt wohnte. Die lückenhaften Erinnerungen zu alledem korrespondieren mit einer lückenhaften Aktenlage. Das kann Zielfahnder Wunderlich erklären: Seine Kontaktleute bei den LfV in Thüringen und Sachsen hätten darauf bestanden, nichts zu verschriftlichen.
Weitere Aufklärung nötig
Mittlerweile haben »Bündnis90/Die Grünen«, »Die Linke« und die SPD angekündigt, sich im Sächsischen Landtag für die erneute Einsetzung eines Aufklärungsgremiums nach der Landtagswahl Ende August 2014 einzusetzen. Die bisherigen Erkenntnisse sind allenfalls ein Zwischenfazit. Es bleiben Puzzleteile übrig, die sich partout nicht in die offizielle Lesart einfügen lassen. So tauschten sich beispielsweise lange nach dem Ende der Zielfahndung ab dem Jahr 2002 das thüringische und das sächsische LKA noch einmal zum Trio aus. Neues gab es nicht zu vermelden, dafür hatte man auch nichts getan. Doch in der Korrespondenz wurde wie selbstverständlich auf die »Zwickauer Szene« eingegangen. Doch davon, dass das Trio nach Zwickau gezogen war, will niemand gewusst haben. Auch kamen plötzlich Namen ins Spiel, von denen sich kaum annehmen lässt, dass man sie zufällig erraten hat: Der Zwickauer Szene-Unternehmer Ralf Marschner etwa oder der ostsächsische »Hammerskin« Mirko Hesse. Heute ist bekannt, dass sich beide zeitweise dem »Bundesamt für Verfassungsschutz« andienten.
Sachsen und der NSU bleiben ein Füllhorn der Merkwürdigkeiten. Als im September 1998 GeheimdienstlerInnen aus Thüringen und Sachsen im Rahmen der »Operation Drilling« in Chemnitz vor dem Wohnhaus von Ronald A., dem Vater einer damals im Umfeld der »Kameradschaft Jena« aktiven jungen Frau, standen, passierte das Malheur: Ein Nachbar bemerkte die Observation. Zufälligerweise war dieser Nachbar nicht nur mit A. bekannt, sondern zugleich als Auswerter für das LfV Sachsen tätig. Mitarbeiter des Amtes, die im Untersuchungsausschuss befragt wurden, haben das nicht erwähnt. Und auch ein künftiger Ausschuss braucht sich keine Illusionen bei der Befragung von ZeugInnen machen: Was nicht passt, wird vergessen.