Drei Jahre nach dem Ende des NSU sind viele Fragen immer noch unbeantwortet. Viel Raum für Erklärungsansätze, deren Annahmen auf verschwörerischen Theorien beruhen. Die zweideutige Rolle der Sicherheitsbehörden in der Causa NSU ist der ideale Nährboden für Verschwörungstheorien.
von Klaus Niebuhr, erschienen in der rechte rand, Heft 150
Das Informationsaufkommen zum NSU ist immens. Der in München laufende Prozess, die Arbeit von mehreren Untersuchungsausschüssen auf Länder- und Bundesebene und die Recherchen von JournalistInnen und Antifa-Initiativen fördern im Wochentakt neue Fakten und Details rund im den NSU zu Tage. Die Fülle der Fakten ergibt jedoch nicht automatisch ein eindeutiges Gesamtbild des NSU-Komplexes. Im Gegenteil: Skepsis, Zweifel und kritische Nachfragen sind mehr als angebracht. Aber auch der Versuch, die eigene Meinung mit ausgesuchten Fakten zu beweisen, ist allzu verlockend. Entscheidend für die Deutung der Geschehnisse bleiben die Perspektive und die Vorannahmen, aus denen die Causa NSU betrachtet wird. Dabei spielen der Staat und seine Geheimdienste eine zentrale Rolle. Ist es denkbar und möglich, dass diese aktiver war als bisher behauptet? Dies umso mehr, da zentrale Fragen unbeantwortet blieben; wie etwa jene nach der tatsächlichen organisatorischen Verfasstheit des NSU und seines Netzwerks, nach der Rolle der V-Leute und den Umständen einzelner Taten. Der Zeitablauf und die systematische Intransparenz der Sicherheitsbehörden lassen erwarten, dass sich dies nur schwerlich ändern lassen wird. Wo aber nicht nur schlüssige Erklärungen komplexer Tat- und Ereignisabläufe fehlen, sondern sich in diesen mühelos eklatante Widersprüche nachweisen lassen, blühen Verschwörungstheorien auf. Diese nehmen die Evidenz der Widersprüche der Fakten, etwa die Geschehnisse um den Tod des vormaligen V-Mannes »Corelli« oder die Ereignisabläufe im Wohnmobil in Eisenach auf und unterziehen sie einer Deutung, in welcher die faktischen Wissenslücken mit konjunktiven Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten und Kausalketten aufgefüllt werden. Die Plausibilität verschwörerischer Erklärungsansätze steigt, wo sich die Einlassungen von VertreterInnen der Sicherheitsbehörden als eine Abfolge von Halbwahrheiten, Vertuschungen und Lügen herausstellen, oder wo deren Verlautbarungen so absurd anmuten, dass sie unglaubwürdig bleiben. Anlässe für Skepsis und Zweifel, ob sich die von den Sicherheitsbehörden behaupteten Ereignisabläufe wirklich wie dargestellt vollzogen, gibt es genug. So ließ etwa der VS die verdutzte Öffentlichkeit wissen, der ehemalige ostdeutsche Top-Neonazi und V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Richter alias »Corelli«, sei wenige Tage vor seiner gerichtlichen Vernehmung an einer unentdeckten Diabetes gestorben. Diese Erklärung wirkte so abwegig, dass nur wenig später im Internet Mutmaßungen auftauchten, Richter sei von wem auch immer zum Schweigen gebracht worden. Die Intransparenz des Todesfalles Richter befördert solche Auffassungen erheblich.
Wer war’s?
Die gängigen Verschwörungstheorien zum Thema NSU setzen dort an, wo die Grauzone des Wissens beginnt. Zugleich lassen sie in der Regel Erzählweisen erkennen, bei denen die Deutungsintention durchscheint. Die mögliche Mehrdimensionalität und Gleichzeitigkeit differenter Ereignisabläufe werden auf ein einziges Deutungsmuster verengt. In dieses werden sodann Indizien und Fakten eingeordnet. Das Magazin »Compact« veröffentlichte ein Sonderheft zum Thema NSU, in dem die AutorInnen den Nachweis zu führen suchen, der NSU und seine Taten seien in Wahrheit verdeckte Geheimdienstoperationen gewesen. Insbesondere die Widersprüche im Falle des Mordes an Michèle Kiesewetter und die Umstände des NSU-Mordes an Halit Yozgat werden herangezogen, um wahlweise die Verstrickung US-amerikanischer Geheimdienste oder der Mafia zu mutmaßen. Nationalsozialismus als ideologische Antriebskraft für Morde und Gewalttaten findet hier keine Erwähnung oder Berücksichtigung. Aber auch linke AutorInnen interpretieren die Tatsache, dass der NSU von V-Leuten geradezu umzingelt war, als Indiz dafür, dass die Morde mit Wissen des Staates ausgeführt wurden. Es gebe nur keine politische Kraft, die es wage, dies zu thematisieren. Die daraus resultierende Legitimationskrise des Staates wolle niemand riskieren. Im Habitus des einsamen Wahrheitssuchers, der unbequeme Fragen stelle, wird sich als Tabubrecher inszeniert. Doch anstelle von Antworten finden sich auch hier konjunktive kausale Schlüsse. Indem beim NSU ein Primat staatlichen Handelns postuliert wird, wird nahegelegt, dass die Szene ohne staatliche Obhut und aktive Unterstützung schlicht nicht in der Lage gewesen sei, die Morde zu begehen. In dieser Argumentation erscheinen militante Neonazis am Ende nunmehr nur noch als Marionetten. In der Konsequenz ist dies eine fahrlässige Unterschätzung der Gewaltdynamik des Neonazismus. Diese Interpretation der Causa NSU speist sich aus einem tiefen Misstrauen gegen den Staat und seine Geheimdienste und aus dem Wunsch nach Aufklärung. Gestützt auf historische Erfahrungen – wie die Ermittlungen um das Oktoberfestattentat und die NATO-Geheimarmee »Gladio« – erscheint es nur folgerichtig, dass der Staat als zentraler Akteur der NSU-Morde gesehen wird.
Ähnliches behauptet auch die NPD; die Beweggründe dafür sind freilich ganz andere. Nichts liegt der NPD ferner als über die mörderische nationalsozialistische Ideologie aufzuklären. Dadurch, dass einige ihrer Mitglieder zu den Verdächtigen im Umfeld des NSU gehören, hat sich die NPD zur Vorwärtsverteidigung entschlossen. Von Beginn der NSU-Debatte an vertrat sie die Auffassung, der Staat habe in allen Fällen der neonazistischen Morde den Tätern die Hand geführt, um sie hernach der Weltanschauung der NPD und ihres neonazistischen Umfeldes in denunziatorischer Absicht anzulasten. Das knappe Sondervotum der sächsischen NPD-Landtagsfraktion macht sich denn auch gar nicht die Mühe, den Details der Fragen des sächsischen Untersuchungsausschusses nachzugehen, sondern verweist stattdessen auf die angeblich induktive Rolle des Staates zum Nachteil des politischen Milieus der NPD.
Der VS und seine Rollen
Eine der zentralen Ursachen für die Attraktivität verschwörerischer Deutungen im Fall NSU ist die Rolle des Verfassungsschutzes. Die Arbeit jener Behörde, die von sich behauptet, kein Geheimdienst, sondern ein »Nachrichtendienst« zu sein, gibt Anlass, an jeder ihrer Aussagen zu zweifeln. Es liegt in der Logik von Geheimdiensten, ihr Kerngeschäft, die Erhebung von Informationen mit geheimdienstlichen Mitteln, für unantastbar zu erklären. Die Behauptung des Verfassungsschutzes, dies geschehe allein aus einer Perspektive der Beobachtung politischer Strömungen, die man im Amt für extremistisch hält, unterschlägt den Umstand, dass die Dienste beim Aufstieg des militanten Neonazismus in den 1990er Jahren faktisch die Frösche im sprichwörtlichen braunen Tümpel fütterten, statt ihn trocken zu legen. Natürlich hatten die Aktivitäten des Verfassungsschutzes das Ziel, Einfluss auf die neonazistische Szene zu nehmen. Die für die Bewertung verschwörerischer Deutungen entscheidend strittige Frage ist jedoch, in welchem Umfang dies gelang. Daher ist es falsch, aus Gründen der politischen Delegitimierung des Verfassungsschutzes die jahrelang in seinen Berichten niedergelegte Omnipotenzfantasie des Dienstes, man habe die neonazistische Szene und ihr Tun im Griff, dadurch nachträglich zu beglaubigen, dass man diesem eine gelungene Steuerung der Szene unterstellt. Die Beispiele von V-Männern in Schlüsselpositionen der Szene zeigen, dass diese ihre politischen Interessen stets über die Loyalität zu den Zielen und Intentionen des Verfassungsschutzes stellten, und sich letztlich nicht steuern ließen. Dass ihre Informationen Abfallprodukte ihrer tatsächlichen politischen Arbeit waren und manchmal mit AktivistInnen der Szene abgestimmt wurden, ist vielfach belegt. Dennoch arbeiteten die jeweiligen Verfassungsschutzämter weiter mit ihnen und folgten so dem Gesetz der Selbstlegitimation ihres fortgesetzten Erkenntnisinteresses an den verbotsresistenten organisatorischen Metamorphosen der Szene und ihrer AktivistInnen. Diesem Interesse wurde die unbeschränkte Handlungsmacht der neonazistischen Kader untergeordnet. Somit blieben die neonazistischen Kader auch dann Herr über Charakter und Ausmaß der von ihnen preisgegebenen Informationen und Strukturen, wenn sie mit dem VS kooperierten. Dies bewirkt, dass es durchaus die Gleichzeitigkeit eines Wissens und eines Nicht-Wissens um die Aktivitäten des NSU in den Sicherheitsbehörden gegeben haben kann. Das Interesse der Sicherheitsbehörden, den NSU-Komplex als eine Art geschlossenes Sammelgebiet darzustellen, liegt auf der Hand. Dass die Generalbundesanwaltschaft sich mit ihrer Deutung, der NSU habe ausschließlich drei Mitglieder gehabt, medial so breit durchgesetzt hat, muss so nicht bleiben. Die in NRW und Hessen geplanten Untersuchungsausschüsse könnten die Debatte in anderen Bundesländern, aus denen bisher wenig zu hören war, neu entfachen. Die Erzählung vom isolierten Terrortrio lässt sich jedoch nur wirksam widerlegen, wenn es den AnalystInnen aus Medien, Antifa und Politik gelingt, den NSU-Komplex in seiner ganzen Bandbreite aus zeitgeschichtlichen Voraussetzungen, gesellschaftlichem Rassismus und organisationssoziologischer Verfasstheit der militanten Neonaziszene zu beschreiben. Es gilt, die Deutungsmacht über den NSU-Komplex weder den Sicherheitsbehörden noch jenen zu überlassen, die im Terror der Neonazis nur ein Instrument ominöser interessierter Kreise zu sehen vermögen.
Dem Verfassungsschutz ist das Kunststück gelungen, den Malus im öffentlichen Ansehen in einen politischen Bonus zu verwandeln. Die Paradoxie, dass jene Behörden, die eine Mitverantwortung für den NSU-Komplex tragen, von ihren zuvor begangenen systemimmanenten Fehlern profitieren, ist nur selten Gegenstand öffentlicher Debatten. Die nach wie vor zunehmende Faktenfülle zum Thema NSU wird die verschwörungstheoretischen Deutungen nicht zum Schweigen bringen. Im Gegenteil. Jeder nur denkbare Ausgang des NSU-Verfahrens in München wird jenen, die ein Interesse daran haben, den NSU als das Werk unsichtbarer Mächte (Geheimdienste, Mafia) darzustellen, als Beleg für ihre Thesen dienen.