Teilnehmende Beobachtung gefragt (Teil II)!

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DIDF-Kundgebung am 6. Mai 2014 vor dem OLG München (c) DIDF

„Es ist immer dasselbe Publikum, das bis zuletzt ausharrt: zwei freie Publizisten, zwei fest angestellte Redakteure, ein Anwalt der Nebenklage, zwei ehrenamtlich arbeitende Autoren eines antifaschistischen Internetblogs, eine Politologin und ein Filmemacher. Wir sind ‚die Öffentlichkeit‘.“
Mely Kiyak über ihre „Teilnehmende Beobachtung“ beim Bundestags-Untersuchungsausschuss, FR 20. Juli 2012

Vor eineinhalb Jahren veröffentlichten wir den Aufruf „Teilnehmende Beobachtung gefragt!“, der die Blog-Leser_innen dazu ermutigte, sich die Sitzungen des Untersuchungsausschuss im Bundestag anzuschauen. Im September 2012 schrieben wir: „[…] Ein Teil unserer Arbeit – und da sind befreundete Projekte und Einzelpersonen mit eingeschlossen  – ist es, die Aufarbeitung des NSU durch die Untersuchungsausschüsse kritisch zu begleiten. Dazu gehört: Hingehen! In der Ethnologie heißt das teilnehmende Beobachtung, […] Im Falle NSU kommen zwar nur wenige neue Fakten ans Tageslicht, jedoch schaffen es die geladenen Zeugen immer wieder, durch ihre komplette Kooperationsverweigerung, ihr bürokratisches Dilettantentum oder eine erschütternde Gleichgültigkeit negativ zu beeindrucken.“

Und im Münchner NSU-Prozess? Anhand von Anfragen oder bei Diskussionen auf Informationsveranstaltungen stellen wir immer wieder fest, dass durchaus Interesse vorhanden ist, als Zuschauer_in zum NSU-Prozess nach München zu fahren. Jedoch ist bei vielen immer noch das Bild vorhanden, dass die Tribüne überfüllt ist oder es quasi unmöglich ist, jetzt noch in die Beobachtung einzusteigen. Der Eklat vor Prozessbeginn am 6. Mai 2013 war groß: zu wenig Plätze, eine Öffentlichkeit sei so nicht möglich. Ja, auch wir hätten uns gewünscht, dass es einer größeren Öffentlichkeit möglich wäre, den Prozess zu verfolgen – egal ob bei der Prozesseröffnung, der Urteilsverkündung oder an einem Prozesstag wie dem vergleichsweise unspannenden 74. Verhandlungstag.

Meistens gibt es genug Platz im Gerichtssaal

Doch wo ist die Öffentlichkeit in München? Sie ist sicherlich größer als bei einem der vier NSU-Untersuchungsausschüsse, aber auch beim Prozess fehlt eine breite kritische und vor allem sich antirassistisch positionierende Öffentlichkeit, die sich ausdrücklich und wahrnehmbar mit der Nebenklage und den Opfern solidarisiert. Immer wieder kommt es vor, dass Neonazis Platz auf der Besuchertribüne haben, um ihre Solidarität oder ihre Geburtstagsgrüße an die Angeklagten (v.a. Ralf Wohlleben und André E.) zur Schau zu tragen. Das ist nicht oft, aber dennoch ist es die Normalität in München, dass ihnen keine sichtbare oder gar hörbare antirassistische Öffentlichkeit im OLG oder vor dem OLG gegenüber steht. Es ist ein Zeichen an die Prozessbeteiligten und an die Presse vor Ort, wenn Menschen da sind, die sich den Prozess anschauen, weil sie den NSU-Komplex, seine mangelnde Aufklärung und das Schweigen der Gesellschaft als Skandal empfinden. Egal an welchem Verhandlungstag. Es ist ein Zeichen an die Angehörigen und die Opfer des NSU, dass an dem dort verhandelten Unrecht Anteil genommen wird – so dröge und komplex ein Verhandlungstag auch sein mag.

Zum Jahresjubiläum fand eine Kundgebung der migrantischen Selbstorganisation DIDF (Föderation Demokratischer Arbeitervereine) statt mit 150 Menschen aus ganz Deutschland. Das ist unserer Meinung nach richtig, wichtig und überfällig! Aber auch wenn nicht jeden Tag eine öffentlichkeitswirksame Kundgebung organisiert werden kann: es lohnt sich, sich selbst ein Bild von diesem Mammut-Prozess zu machen. Es lohnt sich, sich das Ganze einmal anzuschauen und als kritische antirassistische und antifaschistische Öffentlichkeit an dem Thema Interesse zu zeigen. Fahrt hin, diskutiert in euren Gruppen über den Prozess, veröffentlicht kritische Texte, organisiert Gedenkkundgebungen, Infoveranstaltungen oder was auch immer.

Praktische Hinweise

Der Prozess findet im Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße 16 statt (Zugang: Ecke Nymphenburger Straße/Sandstraße; U-Bahnhof: Stiglmaierplatz).

Es ist meist ohne langes Anstehen möglich, als Zuschauer_in oder Pressevertreter_in der Verhandlung am OLG zu folgen! An einem „normalen“ Verhandlungstag, d.h. wenn keine vermeintlich spektakuläre Zeugin wie Brigitte Böhnhardt geladen ist, sind meist einige der 100 Plätze leer – spätestens aber ab der Mittagspause kann man sich sicher sein, reinzukommen. Lediglich bei 16 der ersten 97 Verhandlungstage waren laut Gericht morgens alle Plätze belegt.

Jeder Prozesstag beginnt um 9:30h. Vor dem OLG sind drei Reihen zum Anstellen eingeteilt, an deren Anfang die Polizist_innen je nach Andrang die Leute einzeln oder in kleinerer Anzahl in das Gebäude lassen. Dort gibt es eine Kontrolle ähnlich wie am Flughafen, nehmt einen Personalausweis mit. Hinweis: Ohne gültiges Ausweisdokument (Perso oder Pass) kommt ihr nicht in den Saal, Führerschein o.ä. reicht nicht aus! Alle Taschen, Jacken müsst ihr dann unten abgegeben (kleineres Gepäck könnt ihr meist auch dort lassen). Zuschauer_innen dürfen im Gegensatz zu Pressevertreter_innen keinen Laptop o.ä. mit in den Saal nehmen, aber Papier und Stift! Wasser dürft ihr auch nicht mitnehmen, aber in den Pausen bekommt ihr Wasser und Kaffee, ohne dass ihr raus müsst.

Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr (am besten per mail) NSU-watch fragen. Gerne vermitteln wir „Prozesspat*innen“ und Gesprächspartner*innen vor Ort, damit ihr nicht allein den Prozess besuchen müsst.
Darüber hinaus bieten wir euch an, Informationen über von euch geplante Aktionen, Kundgebungen etc. an unsere Netzwerke zu vermitteln.

Wir hoffen auf eine breitere Öffentlichkeit, auf eine breitere kritische Debatte, auf einen breiteren Druck aus einer antirassistischen, migrantischen und/oder antifaschistischen Szene, die im Sinne der Nebenkläger_innen nicht nur Aufklärung sondern auch Konsequenzen fordert!

Euer apabiz/NSU-watch

Eine Vorschau, was in den kommenden Wochen Thema im Prozess sein wird und die Termine, findet ihr hier.