Beginnend mit dem 175. Verhandlungstag im Verfahren gegen den NSU waren Zeug_innen zum Tatkomplex des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße am 9.Juni 2004 geladen. Die Betroffenen des Anschlags berichteten vor Gericht umfänglich über den Tag des Anschlags sowie die polizeilichen Ermittlungsarbeiten nach dem Anschlag, in deren Zuge die Betroffenen selbst in den Fokus der Ermittler_innen gerieten. Ein Zeuge berichtet von der Befragung durch Polizeibeamt_innen noch am Tag des Anschlags, die wissen wollten, ob ihm „etwas“, ob ihm Türken aufgefallen seien. Es wären Fragen gewesen, die dahin gedeutet hätten, dass so etwas nur von Türken gemacht worden sein könne. Er habe überhaupt nicht damit gerechnet, mit so einer Frage konfrontiert zu werden. Andere Zeugen berichteten, sie seien aufgrund der von den ermittelnden Behörden gestreuten gegenseitigen Verdächtigungen nicht wie benötigt zum Arzt gegangen: „Es heißt überall, die Kurden haben das getan. Du bist Kurde. Und ich habe mir gedacht, die würden der Polizei Informationen erteilen, so ein Patient ist zu uns gekommen. Ich ging deshalb nicht zum Arzt.“
Eine zentrale Rolle in den Schilderungen der Betroffenen spielten die erlittenen körperlichen und psychischen Verletzungen sowie die sozialen und nicht zuletzt ökonomischen Folgen für die Anwohner_innen und Gewerbetreibenden der Keupstraße. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geben wir die Schilderungen der Zeug_innen hier zusammenfassend wieder.
Körperliche Verletzungen
Die Nagelbombe führte insbesondere aufgrund der umher fliegenden Nägel und Splitter zu schweren körperlichen Verletzungen.: Ein Betroffener berichtet u.a. von einer durch einen Zimmermannsnagel verursachten Oberschenkelfraktur, einen Daumenbruch, einer Kopfplatzwunde, mehrere weitere Nägel in beiden Oberschenkeln, er habe sich eine Woche lang auf der Intensivstation befunden. Die körperlichen Folgen, so ein Betroffener der Anschlags, werden ihn wahrscheinlich bis ins hohe Alter verfolgen.
Zahlreiche Zeug_innen erlitten multiple Schnittwunden durch umher fliegende Nägel und Glassplitter in allen Bereichen des Körpers – insbesondere auf dem Kopf und im Gesicht – und mussten sich diese operativ entfernen lassen. Einer der Zeugen schildert, wie man ihm nach der Explosion über 100 Splitter mit der Nadel aus dem Gesicht operieren lassen musste. Er habe außerdem in der linken Netzhaut Splitter gehabt.
Hinzu kommen Verbrennungen: Ein Zeuge hat am rechten und linken Oberschenkel großflächig Haut transplantiert bekommen, der Verbandswechsel habe nur unter Vollnarkose statt finden können: „Danach hat man gesehen, ist wie bei ‚Körperwelten‘ gewesen, man hat Adern, Muskel und Sehnen gesehen, wenn die sich bewegt haben.“, so der Zeuge in seiner Aussage vor Gericht.
Ein Zeugin, die bei dem Anschlag schwanger war, berichtet, dass sie ihr Kind knappe drei Wochen vor dem berechneten Geburtstermin auf die Welt gebracht habe. Bis zu dem Tag des Anschlags sei ihr vom Arzt bestätigt worden, dass alles in Ordnung sei mit dem Kind, sie könne sich auch nicht erklären, warum das Kind dann so früh auf die Welt gekommen sei.
Die weitaus häufigsten Verletzungen erlitten die Betroffenen durch die Druckwirkung der Nagelbombe im Bereich des Gehörs. Die Zeug_innen schildern hier Gehörverlust in unterschiedlichem Grad, bis hin zu kompletter Taubheit in der Folge des Anschlags, sowie Tinnitus-Erkrankungen und Gleichgewichtsstörungen, die bis heute anhalten. „Ja, die Belastung ist heute noch rechtsseitig stark, der Tinnitus ist im Kopf ein ständiges Rauschen.“, so ein Zeuge vor Gericht. Auch die sachverständigen Zeug_innen – Ärzte und medizinische Gutachter – berichten von Trommelfellrissen und Knalltraumata bei den Betroffenen.
Psychische Verletzungen
Neben den körperlichen Verletzungen sind es vor allem die psychischen Verletzungen, welche die Betroffenen aus der Keupstraße bis heute belasten. Einhellig berichten die Zeug_innen vor Gericht, welch einschneidendes Erlebnis das Bekanntwerden der Täter/innenschaft des NSU im November 2011 und die daraufhin einsetzenden erneuten Ermittlungen von Seiten der Polizei gewesen sind. Bei weiten Teilen der Betroffenen, deren Aussagen über ein mögliches rassistisches Motiv sowie die Täter/innenschaft von Neonazis nicht geglaubt wurden, stellte dies eine erneute Traumatisierung dar. „Denn dadurch dass keine Täter da waren, habe ich versucht alles zu vergessen. Das hat alles gut geklappt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es hieß: Jetzt haben wir einen Täter.“ Überwunden geglaubte oder verdrängte Erinnerungen und damit zusammenhängende Symptome tauchten erneut auf.
Zeug_innen berichten von Ängsten, Alpträumen und Schlafstörungen. „Ich war nachts wach, weil ich mich tagsüber nicht mehr wohlgefühlt habe“, so ein Betroffener. Fast alle Zeug_innen berichten von einem Gefühl der Unsicherheit, einige meiden bis heute öffentliche Orte oder auch geschlossene Räume mit vielen Menschen. Andere mieden die Öffentlichkeit komplett: „Ich habe erst mal ein paar Jahre gebraucht, um wieder zu mir zu kommen. Habe die Öffentlichkeit gemieden, mich ein bißchen zu Hause eingeschlossen.“, so ein Zeuge. Andere Betroffene meiden enge Räume sowohl tagsüber als auch zum Schlafen, einen Fahrstuhl oder auch ein Flugzeug zu besteigen, ist ihnen bis heute nicht möglich.
Zeug_innen berichten von Panikattacken und plötzlichem Schwitzen, insbesondere in Bezug auf Menschen, die Fahrräder schieben oder abstellen, Personen mit Basecaps oder laute Knallgeräusche. „Wenn ein Ballon oder Kaugummi hinter mir platzt, erlebe ich jenen Schock wieder. Zum Beispiel in der Sylvesternacht, wenn Böller explodieren, da schließe ich meine Wohnung und ich traue mich nicht ans Fenster zu gehen.“ Ein Zeuge erläutert zu der von vielen anderen geschilderten Schreckhaftigkeit in der Folge des Anschlags: „Wenn ich auf die Situation nicht vorbereitet bin und es macht jemand einen Spaß mit mir, dann werde ich sauer. Auch wenn es blitzt und donnert, dann fahr ich rechts ran, bis das vorbei ist.“ Hinzu kommen Konzentrationsschwierigkeiten, was insbesondere Einschränkungen für das Ablegen von Prüfungen oder im Job ein Problem darstellt.
Viele Zeug_innen betonten die Bedeutung der eigenen Aussage vor Gericht für den Prozess der Verarbeitung. So schildert ein Betroffener, dass er sich nicht direkt nach dem Anschlag, sondern erst mit Beginn des Gerichtsprozesses in therapeutische Behandlung begeben habe. „Ich war zum Prozessauftakt hier und habe danach gemerkt, dass ich das Ganze verarbeiten und mich der Sache stellen muss. Seitdem bin ich in Behandlung.“, und weiter, „Aber die richtige Therapie, die fängt erst jetzt nach dieser Aussage an.“.
Viele der Zeug_innen haben – teilweise mehrere – Psychotherapien durchlaufen. Unterstützung erfuhren Anwohner_innen der Keupstraße u.a. durch Personen aus der Initiative „Keupstraße ist überall“:„Es gibt eine Initiative, die in der Keupstraße gegründet wurde. Wir haben große Hilfe bekommen, die kümmern sich um alles. Mit Hilfe von ihnen werde ich zum Therapeuten gehen.“
Ökonomische und soziale Folgen
Zeug_innen verloren in der Folge des Anschlags ihre Beschäftigung – weil sie körperlich und psychisch nicht mehr in der Lage waren, ihrer Tätigkeit nachzugehen. „Da kann ich nicht mit voller Kraft arbeiten“, schildert ein Handwerker, der schwere Verletzungen an Kopf und Händen erlitten hatte. Dies wiederum führte zu einschneidend existenzbedrohenden Situationen ganzer Familien, wo das Einkommen einer versorgenden Person zum Teil oder komplett ausfiel. Die Betroffenen erhielten vom Juni 2004 bis zum November 2011 wenig bis keine Unterstützung durch die ermittelnden Behörden oder entsprechende Opferschutzfonds
Die Angst vor dem Verlust der Arbeit führte bei Betroffenen des Anschlags dazu, dass sie sich nicht in ausreichendem Maße der Therapie körperlicher und psychischer Beschwerden widmen konnten. Somit führten die erlittenen Verletzungen teilweise Jahre später zu neuerlichen Einschränkungen. Nicht zuletzt waren es die ökonomischen Einschränkungen und die aufgrund der Nicht-Anerkennung der Tat verwehrte finanzielle Unterstützung , die es den Verletzten der Keupstraße nicht möglich machte, eine entsprechende therapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen.
Ein Teil der Gewerbetreibenden sah sich gezwungen, die Läden zu schließen – weil die Kund_innen weg blieben oder sie bzw. ihre Angestellten sich nicht mehr in der Lage sahen, zum Alltag zurück zu kehren. Die Straße, so berichten Anwohner_innen und Gewerbetreibende, sei nach dem 9. Juni 2004 zunächst tot gewesen. Hinzu kommen die Befragungen und Verdächtigungen durch die Polizei und das Nicht-Wissen um die Täter/innenschaft, die in der Straße zu einem Gefühl der Verunsicherung zwischen den Bewohner_innen führten.