Zum institutionellen Rassismus im NSU-Komplex am Beispiel Hessen
Von NSU-Watch Hessen
Wenn über den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) und seine Taten, die Verstrickung mit dem Verfassungsschutz und die polizeilichen Ermittlungen gesprochen wird, bleibt erstaunlicherweise ein zentrales Motiv häufig unterrepräsentiert: Es ist der Rassismus, der alle Bereiche dieses Komplexes durchzieht. Rassismus war das Hauptmotiv der Taten und Rassismus machte es möglich, dass der NSU viele Jahre lang unbehelligt morden konnte. Rassismus in den Ermittlungen, in der Medienberichterstattung und der Gesellschaft bildeten das Rahmenwerk, das verhinderte, die Mordserie frühzeitig als rassistische zu begreifen. Dabei gab es unzählige Hinweise darauf, von Angehörigen der Opfer und aus den migrantischen Communities. Die weiße deutsche Öffentlichkeit identifizierte sich aber nicht mit den Betroffenen, weil sie als „Fremde“ gedacht wurden. Nur unter dieser Voraussetzung konnte der NSU so lange unerkannt bleiben [1]. Auch 2015, vier Jahre nach der Selbstenttarnung des Kerntrios [2] des NSU, wird das Thema Rassismus in verschiedenen Zusammenhängen gemieden oder verkannt.
Wenn aber rassistische Ermittlungen im NSU-Komplex überhaupt thematisiert werden, wird Hessen im Vergleich zu anderen Bundesländern immer noch als vorbildhaft betrachtet. Dass diese Einschätzung falsch ist, zeigt die Arbeit der hessischen Behörden im Umgang mit den Morden des NSU, in der sowohl institutioneller als auch gesellschaftlicher Rassismus eine Rolle spielten. Mit Hessen sind zwei Morde der Serie direkt verbunden: Einerseits der erste Mord der Serie an Enver Şimşek am 11. September 2000, der zwar in Nürnberg erschossen wurde, aber zu dieser Zeit im hessischen Schlüchtern lebte, andererseits der letzte Česká-Serien-Mord [3] an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel. In beiden Fällen lassen sich rassistische Merkmale in den Ermittlungen feststellen. Trotzdem erkennen sowohl einige Mitglieder des hessischen Untersuchungsausschusses, als auch manche Journalist_innen höchstens allgemeine Fehler in den hessischen polizeilichen Ermittlungen. Institutioneller Rassismus erscheint hier als ein Problem, das allenfalls andere Bundesländer betrifft.
Wenn Betroffene zu Tätern gemacht werden
Nachdem Halit Yozgat durch zwei Pistolenschüsse in den Kopf in seinem Internetcafé in Kassel ermordet worden war, wurde am Tag darauf die Mordkommission (MK) „Café“ eingerichtet. Die ermittelnden Beamt_innen begannen damit, das Umfeld Halit Yozgats zu durchforsten. Obwohl Yozgat Deutscher war, reichte dieses Umfeld für sie bis in den Geburtsort seines Vaters Ismail Yozgat in der Türkei, wo alle aufzufindenden Verwandten befragt wurden. Die Telefone der Familie wurden über Monate hinweg abgehört. Wenige Wochen nach dem Mord bestätigte sich der Verdacht, dass er mit der Česká-Pistole verübt wurde, mit der bereits acht Menschen zuvor erschossen worden waren. Dass nicht in der rechten Szene (in Kassel) ermittelt wurde, liege darin begründet, dass es dort keine Äußerungen zu den Morden gegeben hatte, erklärte der Leiter der Mordkommission später (Bericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses: 533). Zwar habe Ismail Yozgat die Vermutung geäußert, dass es sich um rechte Täter handeln könnte – daraus hätten sich aber keine Ermittlungsansätze ergeben. Dass auch im Umfeld der Familie ermittelt wurde, ist sicherlich nicht per se rassistisch. Dass die Überwachung etwa der Telekommunikation und die Befragung von Verwandten jedoch in diesem Ausmaß stattfand und sich keine Ermittlungsansätze in Richtung der rechten Szene ergeben haben sollen, wirft mindestens Fragen auf. Was dann folgte, lässt keine Zweifel daran, dass rassistische Denkweisen vorhanden waren.
Kurze Zeit nach dem Mord stellte sich heraus, dass zum Tatzeitpunkt der Verfassungsschützer Andreas Temme in Yozgats Internetcafé war, sich aber nicht als Zeuge gemeldet hatte. Er war ab diesem Zeitpunkt Tatverdächtiger, beteuert aber bis heute, privat am Tatort gewesen zu sein, vor Ort nichts mitbekommen und im Vorfeld von nichts gewusst zu haben. Das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV), dessen Bediensteter also verdächtigt wurde, mit dem Mord zu tun zu haben, behauptete gegenüber der Polizei kurz nach dem Mord Folgendes: İsmail Yozgat wäre in Freitagsgebeten in einer Kasseler Moschee zur Blutrache an Temme aufgerufen worden. Nachdem das LfV die Unterstellung der „Blutrache“ geäußert hatte, ließ die Polizei aus Gründen der Gefahrenabwehr alle von Ismail Yozgat genutzten Telefone überwachen [4]. Zur Erklärung der Überwachung schrieb das Polizeipräsidium Kassel in einem Vermerk am 2. August 2006, dass die Gefährdung Temmes in „den ethnisch-kulturellen Hintergründen der Opferfamilien“ zu sehen sei (ebd.). Dass die Behauptung, İsmail Yozgat sei in der Moschee zur „Blutrache“ aufgerufen worden, nicht stimmen konnte, stellte sich erst später heraus: Er hatte an keinem einzigen Freitagsgebet in einer Moschee teilgenommen (ebd.: 732).
Die rassistische Unterstellung, das Umfeld der Familie Yozgat verlange nach „Blutrache“ gegen einen Tatverdächtigen, ist auf mehreren Ebenen perfide. Einerseits wird angenommen, dass Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, „Fremde“ seien und den deutschen Rechtsstaat nicht anerkennen können. Neben dem kulturellen Rassismus, der sich darin zeigt, geschieht hier aber noch etwas anderes: Vermeintlich „Fremde“ werden zu potenziellen Tätern gemacht, während gleichzeitig der VS-Mitarbeiter Temme als Opfer erschien. Immerhin scheint es in den Ermittlungen im Mordfall Halit Yozgats auch eine Einsicht gegeben zu haben: Nach der Erkenntnis, dass die Informationen des LfV nicht gestimmt hatten, wurde im Abschlussbericht der MK „Café“ nicht mehr das Bild des „Fremden“ reproduziert und von einer „’normalen‘ Familie mit alltäglichen Problemen“ gesprochen (ebd.: 734).
Es gibt unzählige Beispiele für rassistische Ermittlungen durch die Polizei im gesamten NSU-Komplex, seien es der Umgang mit Angehörigen, die Titel von ermittelnden Kommissionen oder Aktenvermerke über Mordopfer. So beschrieb etwa das Landeskriminalamt Hamburg die Persönlichkeit des fünften Opfers der Mordserie, Süleyman Taşköprü, wie folgt: „[Er] war das, was wir im Landeskriminalamt ‚einen ganz normalen türkischen Mann‘ genannt haben: leidenschaftlich, sehr energetisch und dominant vom Wesen (…)“ (ebd.: 733).
In Nürnberg bekam die „Besondere Aufbauorganisation Bosporus“ (BAO) den Namen eines in der Türkei liegenden Gewässers. Die Sonderkommission (SoKo) konzentrierte sich auf Verbindungen zwischen den Opfern und organisierter Kriminalität, statt rechtsradikale Motive zu erkennen (vgl. Mair 2013). Ähnlich verhielt es sich bei der SoKo „Halbmond“: Der Name spielte auf die Flagge der Türkei an, obwohl die Opfer und ihre Angehörigen in Deutschland lebten. Währenddessen bezeichneten Medien die Morde der Serie, seien es FAZ, Welt, Bild oder Spiegel Online, als „Döner-Morde“.
Stigmatisierung und Nichtbeachtung
Ein Beispiel von vielen für rassistische Perspektiven auf die NSU-Mordopfer und ihre Familien ist der anfangs erwähnte Fall von Enver Şimşek. Nach seiner Ermordung wurde seine Frau Adile Şimşek in unzähligen Vernehmungen durch bayrische Beamte mit Behauptungen konfrontiert, die sich als falsch herausstellten: Enver Şimşek sei Drogenkurier gewesen und habe sich in mafiösen Strukturen bewegt. Selbst in einer Sitzung des bayrischen Untersuchungssausschusses im Februar 2013 wurden diese falschen Behauptungen von einem damaligen Ermittler des Polizeipräsidiums Mittelfranken wiederholt, als er sich auf eine Zeugenaussage bezog, in der behauptet wurde, Şimşek habe „Streckmittel für Heroin über die holländische Grenze transportiert“ (ebd.).
Semiya Şimşek, Tochter des Ermordeten, schreibt in ihrem Buch Schmerzliche Heimat u.a. über ihre Erfahrung der Kriminalisierung in den Ermittlungen und die traumatisierenden Folgen für die Familie. Einerseits erzählt sie von rassistischen Ermittlungen, andererseits vom Ausblenden des möglichen rassistischen Mordmotivs. Ihr Co-Autor zitiert einen Polizisten, der Şimşeks Familie und Umfeld auf rassistische Art beschreibt, indem er die Existenz so genannter „Parallelgesellschaften“ nahelegt: „Wir dringen in Gesellschaftsteile vor, die offensichtlich eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Polizei nicht gewohnt sind“ (Şimşek 2013: 164). Bei den Ermittlungen in Schlüchtern hätten die Beamten die gesamte türkische Community verdächtigt, die Unwahrheit zu sagen. Şimşek kritisiert vor allem, dass die Polizei einem möglichen rassistischen Mordmotiv nie gleichberechtigt nachgegangen sei. Früh habe ein Kollege von Enver Şimşek die Ermittler darauf hingewiesen, dass es schon zuvor Angriffe von Nazis auf Blumenhändler gegeben habe. Doch die Ermittler übergingen diesen Einwand: „Das fand der Vernehmungsbeamte aber uninteressant. Er wechselte das Thema und fragte weiter nach Kurdenbanden und PKK“ (ebd. 108). Die Familie habe sich immer wieder gefragt, ob auch Rassismus ein Motiv sein könnte, doch die Beamten hätten abgewiegelt – Neonazis würden eindeutige Zeichen hinterlassen (ebd. 159). Mit einem offenen Brief an den damaligen hessischen Innenminister Volker Bouffier und dem Schweigemarsch „Kein 10. Opfer“ in Kassel, an dem 4000 Menschen teilnahmen, versuchte Şimşek nach dem Mord an Halit Yozgat gemeinsam mit dessen Familie vergeblich, die Politik zum Handeln zu bringen (vgl. ebd. 164f). Ihre Stimmen wurden nie gehört.
In der Auseinandersetzung mit den NSU-Ermittlungen wird deutlich, dass institutioneller Rassismus eine zentrale Rolle spielte, auch in Hessen. Das bedeutet nicht, dass alle VS-Mitarbeiter_innen und Polizeibeamt_innen persönlich rassistische Absichten verfolgten (Vgl. Parallelbericht: S. 4). Es zeigt allerdings, dass der gesellschaftliche Rassismus sich auch in den Institutionen spiegelt und systematische Benachteiligungen, Stigmatisierungen und Verletzungen für die Betroffenen bedeutet. Für eine ernst gemeinte Aufklärungsarbeit ist es unerlässlich, sich mit diesem zentralen Motiv auseinanderzusetzen. Dazu gehört etwa, die Ermittlungen jeweils mit der Frage zu konfrontieren, ob im Umgang mit Angehörigen die gleichen Standards gegolten haben, wie es bei weißen Deutschen aus der Mittelschicht der Fall gewesen wäre. Für den hessischen Untersuchungsausschuss bedeutet das, sich einerseits mit den rassistischen Ermittlungen der Polizei und den rassistischen Behauptungen des VS zu beschäftigen – und sich andererseits nicht weiterhin aus parteipolitischen Gründen vor die (Polizei-)Behörden zu stellen. Daraus könnte resultieren, Reformen bezüglich Rassismus auf den Weg zu bringen und antirassistische Präventivarbeit zu unterstützen. Es bedeutet aber vor allem, die Perspektive der Betroffenen, der Angehörigen der Opfer, sichtbar zu machen. Das würde etwa heißen, Angehörige einzuladen, oder, falls sie nicht selbst kommen möchten, ihre Anwält_innen. Wenn der hessische Untersuchungsausschuss sich wie bisher nicht darum bemüht, die Betroffenenperspektive zu stärken, wird er scheitern. Aus antirassistischer Perspektive, aber auch an seinem eigenen Anspruch zur Aufklärung.
NSU-Watch Hessen beobachtet den NSU-Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag. Wir verfassen Berichte und übersetzen sie ins Türkische, schreiben Hintergrundtexte und halten Vorträge. Aus den Ausschusssitzungen twittern wir live: @nsuwatch_hessen. Wir sind auf Spenden und andere Unterstützung angewiesen, weitere Infos dazu gibt es unter hessen.nsu-watch.info
Fußnoten:
[1] Es gibt wenige Gegenbeispiele: Einige Ermittler_innen und Politiker_innen vermuteten einen rassistischen Hintergrund der Morde. Günther Beckstein etwa, damaliger bayrischer Innenminister, hielt das bereits nach dem ersten Mord an Enver Şimşek in Nürnberg für möglich.
[2] Wir sprechen von „Kerntrio“, weil Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe auf ein breites Unterstützer_innennetzwerk zurückgreifen konnte. Von einem „Trio“ zu sprechen bedeutet aus unserer Sicht eine Verharmlosung, weil deutlich wird, wie viel Hilfe die drei zentralen Personen bekommen haben – seien es angemietete Wohnungen oder Autos, Waffen oder falsche Papiere. Der Begriff „Trio“ ermöglicht es, den Fall NSU mit dem Tod der Uwes und der Anklage von Zschäpe ad acta zu legen. Die Gefahr durch neonazistische Netzwerke wirkt gebannt.
[3] Der letzte Mord des NSU war der an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn am 25. April 2007.
[4] Vgl. ebd. Die Telefonüberwachung fand über einen Monat lang statt, vom 3. August 2006 bis zum 8. September 2006.
Literatur
John, Barbara (Hg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Freiburg im Breisgau, 2014.
Mair, Birgit: „Ich hab noch nie einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen“. 2013. Url: http://www.nsu-watch.info/2013/06/ich-hab-noch-nie-einen-neonazi-auf-einem-fahrrad-gesehen/, aufgerufen am 28.05.2015
Şimşek, Semiya: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Berlin, 2013.
Berichte
Parallelbericht zum 19.-22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) : Institutioneller Rassismus am Beispiel des Falls der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und notwendige Schritte, um Einzelne und Gruppen vor rassistischer Diskriminierung zu schützen. 2015. Url: http://hlcmr.de/wp-content/uploads/2015/04/NSU_RassismusParallelbericht.pdf, aufgerufen am 20.05.2015
Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses 2013. Url: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/146/1714600.pdf, aufgerufen am 30.05.2015