Exkursion von Student-innen aus Berlin zum NSU-Prozess nach München

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Reihe: Ortstermin

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Beobachtungen im Gerichtssaal

von Projekttutorium der Humboldt Universität zu Berlin: „Der NSU – Komplex – Rassismus in Gesellschaft, Medien und Behörden“

10.06.2015, 209. Verhandlungstag

Nachdem der Prozess um kurz nach zehn mit der Ankunft des Senats wie meistens verspätet begann, bat Richter Götzl die Anwesenden, sich zu setzen und kontrollierte die Anwesenheit der Prozessbeteiligten. An diesem Prozesstag wurden zwei Zeugen erwartet: Zunächst einmal Tom T., ein Wegbegleiter Zschäpes aus den 90er Jahren in Jena (Kameradschaft Jena) und weiterhin Reiner Görlitz vom Verfassungsschutz Brandenburg, V-Mann-Führer von Carsten Szczepanski alias „Piatto“.

Jedoch wurde der Prozess – bevor er inhaltlich beginnen konnte – von Verteidiger Heer unterbrochen, welcher eine Pause für eine wichtige
Besprechung mit seiner Mandantin Zschäpe forderte. Richter Götzl gewährte ihm diese und unterbrach den Prozess für ungefähr eine Stunde.

Fortgesetzt wurde wieder mit Verspätung gegen halb zwölf. Sogleich meldete sich erneut Verteidiger Heer zu Wort und teilte mit, dass seine Mandantin Zschäpe einen Entbindungsantrag gegen ihre Verteidigerin Sturm gestellt habe und der Prozess so zunächst nicht fortgesetzt werden könne.

Nun durften weitere Prozessbeteiligte zu diesem Vorgang Stellung nehmen, darunter einige Anwält_innen der Nebenklage und die Bundesanwaltschaft. Ihre Meinungen gingen dahingehend auseinander, dass einige Sprecher_innen der Ansicht waren, der Prozess könne auch mit den zwei verbleibenden Verteidigern fortgesetzt werden, wohingegen andere Sprecher_innen bekundeten, dass eine Unterbrechung aus juristischen und prozesstechnischen Gründen sinnvoll sei. Ein Nebenklageanwalt wandte ein, dass die vorherige Pause von der Verteidigung nicht zur Besprechung mit ihrer Mandantin genutzt wurde, sondern dass er Heer, Sturm und Stahl in dieser Zeit beim Rauchen vor dem Gerichtsgebäude beobachtet hatte.

Richter Götzl und der Senat zogen sich nun zu einer weiteren kurzen Besprechung zurück und verkündeten dann, dass der Prozess wie gewünscht bis zur kommenden Woche unterbrochen werden soll.

Zschäpe und Sturm äußerten sich auch auf Nachfrage Götzls nicht mehr zu den Vorkommnissen. Der Verteidiger des Angeklagten Ralf Wohlleben meldete sich zu Wort und äußerte den Wunsch, einen Beweisantrag zu stellen. Hier intervenierten jedoch Zschäpes verbleibende Verteidiger und auch Götzl lehnte schließlich dieses Anliegen ab. Zu Ende hielt Richter Götzl noch fest, dass der Zeuge Tom Turner an diesem Tag unentschuldigt dem Gericht ferngeblieben sei.

Gegen viertel vor zwölf wurde der Prozesstag dann beendet.

Neben der geänderten Sitzordnung der Verteidigung (Sturm saß nicht wie gewohnt neben der Angeklagten Zschäpe) ist uns aufgefallen, dass die
Angeklagten abgelenkt und desinteressiert wirkten. Alle beschäftigten sich entweder mit ihren Handys, Laptops oder Printmedien.

Prozessbeteiligte

Die lange Wartezeit haben wir dafür genutzt, uns einen Überblick über die vielen Anwesenden im Gerichtssaal zu verschaffen – den vielen Gesichtern im Gerichtsaal Namen und Funktionen zuzuordnen.

Den Prozess gegen die fünf Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Andre Eminger, Carsten Schultze und Holger Gerlach leitet der Richter Manfred Götzl, der seit 2010 Vorsitzender am Oberlandesgericht München ist. Er führte bereits prominente Prozesse, wie beispielsweise gegen den Mörder des Modedesigners Rudolph Mooshammer oder den Kriegsverbrecher Josef Scheungraber.

Neben dem Richter sitzen sieben weitere Richter_innen, Ergänzungsrichter_innen und Beisitzer_innen.

Die Bundesanwaltschaft ist mit drei Personen des Bundesgerichtshofes aufgestellt, darunter Dr. Herbert Diemer (Leiter des Referats für Terrorermittlung in Karlsruhe, der bereits Mitglieder der Militanten Gruppe (MG) anklagte), Anette Greger (früher Richterin und Staatsanwältin in Weiden und Regensburg), Jochen Weingarten (erhob Anklage gegen den Attentäter vom Frankfurter Flughafen, der zwei US-Soldaten tötete) sowie Stefan Schmidt.

Die fünf Angeklagten lassen sich jeweils von mindestens zwei Anwält_innen vertreten.

Ralf Wohlleben ist der Einzige von ihnen, dessen Anwält_innen der rechten Szene zugerechnet werden können, weswegen im Folgenden nur auf sie eingegangen wird.

So ist Nicole Schneiders wie ihr Mandant Wohlleben in die Strukturen der NPD eingebunden gewesen und war früher seine Stellvertreterin, als er
Kreisvorsitzender in Jena war. Seit Jahren ist sie in der rechtsradikalen Kameradschaftsszene aktiv, engagierte sich bei der HNG („Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“) und wird unter anderem aufgrund dessen vom Verfassungsschutz der rechten Szene zugeordnet.

Olaf Klemke, der sich selbst als „Patriot” bezeichnet, vertrat bereits Neonazis der verbotenen Gruppe SSS („Skinheads Sächsische Schweiz“) und Beteiligte an der sogenannten „Gubener Hetzjagd”.

Der dritte Anwalt Wohllebens ist Wolfram Nahrath. Bis zum Verbot der „Wiking-Jugend“ 1994 war er deren Vorsitzender, danach engagierte er sich in der „Heimattreuen deutschen Jugend“ (HDJ) und ist NPD-Mitglied. Auch er verteidigte bisher mehrfach einschlägige Neonazis und stand der vor sechs Jahren verstorbenen Nazi-Ikone Jürgen Rieger nahe.

Die Nebenklage besteht aus mehr als 60 Anwält_innen, welche nicht jeden Prozesstag an der Verhandlung teilnehmen. Des Weiteren gibt es drei Rechtspfleger_innen (Beamte des gehobenen Justizdienstes) und zwei Gutachter_innen, welche jeweils mit einem psychologischen Gutachten für
Zschäpe und Schultze beauftragt sind. Im gesamten Prozessverlauf sollen mehr als 600 Zeug_innen gehört werden.

Tatvorwürfe

Zschäpe wird in eigenhändiger Tatbegehung das Anzünden der Zwickauer Wohnung, versuchter Mord in drei Fällen und besonders schwere Brandstiftung vorgeworfen. Als Mittäterin werden ihr 10-facher Mord, versuchte Morde, und 15 bewaffnete Raubüberfälle vorgeworfen.

Wohlleben und Schultze wird die Beschaffung der Česká mit Schalldämpfer und Beihilfe zum Mord in neun Fällen vorgeworfen. Eminger muss sich wegen Hilfe beim Verbergen der Identität von NSU-Mitgliedern, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen, dem Anmieten eines Tatfahrzeugs für Sprengstoffanschlag 2001 in Köln, der Beihilfe beim Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion mit Menschenschaden, dem Anmieten eines Tatfahrzeugs für zwei Raubüberfälle sowie Beihilfe zum Raub verantworten. Gerlach wird die Beteiligung an der Beschaffung einer Waffe im Jahr 2001, das Überlassen von Ausweisdokumenten und die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung indrei Fällen zur Last gelegt.

Der Entbindungsantrag und seine Konsequenzen

Letzten Sommer hatte Zschäpe bereits einmal versucht, ihre gesamte Anwaltschaft per Antrag zu entbinden: Nach einer Befragung Tino Brandts (V-Mann und Mitglied des Thüringer Heimatschutzes), während die Verteidigung eine besonders schlechte Figur machten (Spiegel), weigerte sich Zschäpe den Gerichtssaal wieder zu betreten. Auf die Frage eines Polizisten, was denn los sei, entgegnete sie, dass sie sich von ihrer Verteidigung nicht richtig vertreten fühle. Götzl gab ihr daraufhin die Möglichkeit, binnen einiger Tage einen formellen Entbindungsantrag zu formulieren. Dieser wurde wegen fehlender stichhaltiger Argumente aber abgelehnt.

Gleichwohl es einige Präsendenzfälle gibt, sieht die Strafprozessordnung als solche eine Entbindung von Pflichtverteidiger_innen aufgrund von Unstimmigkeiten in der Prozesstaktik oder mangelnden Vertrauens nicht vor. Die in der StPO aufgegführten Gründe, die zu einer Enthebung des Pflichtverteidigungsmandates führen können, so zum Beispiel die Vertuschung einer eigenen Straftat vonseiten der Verteidigung, oder das monatelange Ausbleiben eines Kontaktes zwischen Verteidiger_in und Mandant_in, lassen die von Zschäpe vorgebrachten Vorwürfen, selbst wenn sie der Realität entsprächen, marginal erscheinen.

Die endgültige Entscheidung über eine Entbindung der Pflichtverteidiger_innen hat, in diesem wie in jedem anderen Fall auch, der Vorsitzende Richter zu entscheiden, da die Strafprozessordnung keinen Automatismus vorsieht.

Auch am 10. Juni 2015 war Zschäpe angehalten binnen weniger Tage eine schriftliche Stellungnahme einzureichen. Laut Zeit online, erklärt Zschäpe in dieser, dass sie sich von Sturm unter Druck gesetzt fühle. Außerdem soll Sturm Aussagen, die vertraulich behandelt werden sollten, in den öffentlichen Gerichtsverhandlungen preisgegeben haben. In einem psychologischen Gutachten, welches Götzl im März angeordnet hatte, äußerte Zschäpe gegenüber dem Psychiater Norbert Nedopil ihre Skepsis gegenüber ihrer Anwaltschaft. Würde sie nicht selbst aufpassen, wäre es schon zu erheblichen Verteidigungsfehlern gekommen. Welche das seien führte sie nicht aus. Außerdem gäbe es zu wenig spontanen Einspruch
bei Verunglimpfung Zschäpes.

Inzwischen ist bekannt, dass Richter Götzl den Antrag abgelehnt hat, Zschäpe aber ein weiterer Pflichverteidiger zugewiesen wird. Das Gericht bezeichnet Zschäpes Vorwürfe als „pauschal“, ungerechtfertigt und unzureichend begründet. Zschäpes Anschuldigung, Sturm erpresse sie, indem sie drohe im Falle einer Aussage Zschäpe nicht weiter zu verteidigen, stuft das Gericht nicht als Erpressung ein.

Bei dem neuen Verteidiger handelt es sich um den Münchener Rechtsanwalt Mathias Grasel. Die Verteidigung einer Mandantin mit 4 Anwält_innen ist in Deutschland etwas sehr ungewöhnliches. Mit welchen Absichten Zschäpe den Entbindungsantrag gestellt hat, darüber äßt sich nur spekulieren. Das Schweigen könnte ihr erheblich zur Last fallen, die Aussicht auf lebenslange Haft mit besonderer Schwere der Schuld und Sicherungsverwahrung Panik auslösen. Außerdem sind derzeit Personen als Zeug_innen geladen, die Zschäpe vor allem in den 1990er Jahren in Jena nahe standen. Könnte durch deren Aussagen zuviel Beweismaterial zutage treten und Spuren aufgedeckt werden? Der offensichtliche Versuch den Prozess zu verzögern, würde Zschäpe keine Milderung im Urteil bringen. Zum jetzigen Zeitpunkt wurde genanntes psychologische Gutachten öffentlich und es erschien eine ZDF Dokumentation über Mundlos, Böhnhardt und Zschäpes Zusammenleben. Diese gegenwärtlichen Vorkommnisse und die Nichtverhinderung des Öffentlichmachen dieser Informationen könnten ein Beweggrund mehr für Zschäpes Antrag sein.

Beobachtungen und Überlegungen zur Rolle der Medien im NSU-Prozess

Als wir morgens in den Publikumsbereich des Münchener Oberlandesgerichtes eingelassen wurden, war noch nicht viel Presse anwesend und es wurden auch zum Verlauf der nächsten Stunde vor Sitzungsbeginn nicht mehr als ein gutes Dutzend Journalist_innen. Seitens der Medien wurden für diesen Prozesstag keine großen Neuigkeiten erwartet. Der Entbindungsantrag kam für alle überraschend und sorgte für allgemeine Aufregung im Publikum.

Unsere Eindrücke von der Medienberichterstattung über den Entbindungsantrag lassen sich wie folgt darstellen:

Der Fokus der Medien richtet sich vor allem auf die Angeklagte Beate Zschäpe, was die Konstruktion des NSU als eines bloßen Trios, von dem Zschäpe die Einzige noch lebende Beteiligte ist, unterstützt.

Der NSU bzw. der NSU-Prozess macht dieser Tage kaum noch Schlagzeilen – abgesehen von wenigen regelmäßigen Berichten (beispielsweise Chroniken im SZ-Magazin) sind Nachrichten diesbezüglich zunehmend aus dem Fokus des öffentlichen Interesse geraten.

Dass es sich beim NSU mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur um ein Trio, sondern um ein deutschlandweit operierendes rechtsradikales Netzwerk handelt und dass der Verfassungsschutz durch den Einsatz von V-Leuten terroristischen Verbrechen involviert zu sein scheint, findet skandalöser Weise ein geringes mediales Echo.

Gespräch mit Anwält_innen der Nebenklage

Nach Beendigung des Prozesstages traf sich unsere Projektgruppe zu einem Gespräch mit zwei Anwält_innen der Nebenklage. In zwei Gruppen wurden dabei inhaltliche und rechtliche Fragen diskutiert. Bezugnehmend auf den Verlauf des aktuellen Prozesstages wurden eventuelle taktische Vorgehensweisen seitens der Angeklagten, aber auch die Folgen, Bestimmungen und Konsequenzen, die mit einer Entbindung der Verteidigung einhergehen könnten, erläutert. Ebenfalls wurden die politischen und juristischen Vorgehensweisen seitens der Verteidigung besprochen und verzerrte Konfliktlinien zwischen den Akteur_innen aufgezeigt. Diese verlaufen im Regelfall zwischen Bundesanwaltschaft und Verteidigung. Im Fall des NSU-Prozesses jedoch fände sich eine Spannung vor allem zwischen den beiden genannten Parteien und den Nebenkläger_innen.

Ein weiteres, ausführlich besprochenes Thema waren die an diesem Tag geladenen Zeugen und ihr Verhältnis zum NSU. So wurden inhaltliche Fragen zu Reiner Görlitz, dem ehemaligen V-Mann-Führer Carsten Szczepanskis, zu Reaktionen und Verhalten aufgrund von Informationen zum Trio und mutmaßlichen Unterstützer_innen geklärt. Auch der Zeuge Tom Turner wurde in Bezug auf etwaige Erkenntnisse zur Kameradschaft Jena thematisiert sowie zu seinen aufschlussreichen Aussagen, die er beim BKA über Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, Holger Gerlach und Ralf Wohlleben getätigt haben soll.

Tom T.’s Nichterscheinen warf dabei die Frage nach Konsequenzen seitens des Vorsitzenden Richters Götzl und dessen allgemeinen Vorgehens- und Verfahrensweise auf, welche vielen Nebenkläger_innen als wenig konsequent und zu achtsam gegenüber den Angeklagten erscheine.

Zudem wurde ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ von den Anwält_innen thematisiert, das neben dem Prozess gegen die fünf Angeklagten im Hauptverfahren gegen „Unbekannt“ geführt wird. Die Bundesanwaltschaft hält sich mit Informationen zu diesem Verfahren gegenüber der Anwaltschaft der Nebenklage allerdings bedeckt, mit der Begründung, es handle sich um ein laufendes Gerichtsverfahren.

Als abschließende Erörterung wurde Beate Zschäpes Rolle im NSU beleuchtet und diskutiert, inwieweit von einer Mittäterschaft oder lediglich von Beihilfe gesprochen werden kann. Dies geschah vor allem in Bezug auf die angesetzte Auswertung einer CD mit NSU-Materialien des folgenden Prozesstages, an deren Entstehung Zschäpe maßgeblich beteiligt gewesen sein soll.