von Özge Pınar Sarp (NSU-Watch)
Heute erinnern wir an Enver Şimşek, der am 9. September 2000 von der rassistischen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) mit acht Schüssen niedergeschossen wurde. Zwei Tage später, am 11. September, starb er in der Klinik in Nürnberg. Erst nach elf Jahren wurde öffentlich bekannt, dass er das erste Opfer einer rassistischen Mordserie in Deutschland war, der insgesamt zehn Menschen zum Opfer fielen.
Die Suche nach Gerechtigkeit ist ein langer Weg. Die Grundlage für die Suche nach Gerechtigkeit liegt im Erinnern und Gedenken. Die Familien der Opfer und die Betroffenen der Anschläge müssen ein Trauma überwinden oder mit diesem weiterhin leben. Es ist wichtig für sie zu sehen, zu hören und zu wissen, dass die Suche nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft auch andere Menschen nicht loslässt. Für die Aufklärung dieser Verbrechen, für eine Gerechtigkeit, für unsere verlorenen Menschen erinnern wir heute an Enver Şimşek.
Ein Leben, zwei Nächte
Der 9. September 2000 ist ein Samstag. In der bayerischen Stadt Nürnberg in Deutschland ist es zwischen 12:45 Uhr und 14:15 Uhr, als acht Schüsse fallen. Schüsse, Blumen. Der Blumenduft mischt sich mit dem Geruch von Blut.
Der 4. Dezember 1960 in Şarkikaraağaç, einem Landkreis in der Provinz Isparta in der Südtürkei. Dort in Salur, einem Bauerndorf, ist Enver Şimşek geboren und aufgewachsen. [1] Auch später in seinem Leben verbringt er dort mit seiner Familie zusammen die Ferien. Das Dorf gehört auch in die Geschichte seiner Tochter Semiya. Sie erinnert sich so: „Die schöne Nacht im Urlaub, als ich mit Vater in seinem Heimatdorf in der Türkei nachts auf dem Balkon saß, als wir die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten und ich spürte, wie glücklich er in diesem Augenblick war.“ [2]
Im Jahr 1986: Seine Einwanderung aus seiner Heimat nach Deutschland (wie damals gesagt wurde: nach „Alamanya“). In diesem Jahren wurden die Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland als „Ausländer“ („gurbetçi“) bezeichnet, in der Heimat Türkei bezeichneten die dort lebenden Türken die in Deutschland lebenden Türken als „Deutschländer“ („Almancı”). Enver Şimşek findet wie viele andere zunächst Arbeit in einer Fabrik. Danach findet er eine saubere Arbeit, die im Türkischen „eine Arbeit wie eine Blume“ („çiçek gibi bir iş“) bezeichnet wird: nicht in der Fabrik. Er wird Blumenhändler. Er betreibt Blumenstände und einen Blumenladen. Es ist ein nach Blumen duftendes Leben mit seiner Frau und zwei Kindern. Im hessischen Schlüchtern.
Es ist ein Sonntag im Jahr 2000: In der Nacht vom 9. auf den 10. September. Es ist vier Uhr morgens. Ein vierzehnjähriges Mädchen wird aus dem Schlaf gerissen. „Semiya, du musst aufstehen“, sagte ihr eine Betreuerin des Internates. Semiya musste aufstehen, mitten in der Nacht. Sie musste noch ihre Sachen zusammenpacken, und auch ihren Pass musste sie mitnehmen. Sie verstand nicht, warum sie mitten in der Nacht los musste, und wohin. Vor dem Internat warteten Verwandte und ein Bekannter der Familie: „Dein Vater ist krank, wir fahren jetzt schnell nach Nürnberg, er liegt dort im Krankenhaus, deine Mutter hat uns geschickt.“ [3]
Der 10. September, um sieben Uhr morgens. Semiya ist in der Klinik, kurz davor wurde ihr gesagt, dass ihr Vater nicht krank sei sondern verletzt. Ihr Bruder und ihre Mutter würden auch bald da sein. Sie muss warten. Wie lange? Semiya geht „das Zeitgefühl verloren“. Sie ist „todmüde und beunruhigt zugleich“. Sie betet: „Bitte, bitte, mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte.“
Es vergeht eine lange Zeit. Wie lang genau? Vielleicht sehr lang, vielleicht auch nicht so lang. Für jeden im Krankenhaus wartenden Menschen ist die Zeit nie so lang, wie man denkt, wie man sie fühlt. Semiya beschreibt die Situation: „Irgendwann stand eine Schwester vor mir und nahm mich mit zur Intensivstation. Dort wartete ein Polizist auf mich: Bist du Semiya Şimşek? Ist Enver Şimşek dein Vater? Ob mein Vater für gewöhnlich eine Waffe bei sich trage, wollte der Mann wissen. Ob er zu Hause Waffen aufbewahre. Ob wir Feinde hätten. Ich verstand überhaupt nichts, ich wollte bloß zu meinem Vater, wünschte, dass meine Mutter endlich hier wäre, und wusste kaum etwas zu antworten. Waffen? (…) Was für Feinde denn?“ [4]
Um neun Uhr, 10. September. Die ersten Verwandten kommen im Krankenhaus in Nürnberg an. Sie warten mit Semiya vor der Intensivstation, in der Semiyas 38-jähriger Vater liegt. Als die Krankenschwester endlich zu ihr kommt, um sie zu ihrem Vater zur Intensivstation mitzunehmen, ist Semiyas Mutter immer noch nicht da. Semiya beschreibt den Moment: „In seinem Krankenzimmer war ich bei ihm und mit ihm alleine. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie immer, beinahe, als würde er schlafen. Nur, dass alles voller Kabel und Schläuche war. Ich wagte zunächst kaum, näher hinzugehen, eingeschüchtert von diesem fremden Raum mit all den Monitoren und Apparaten. (…) Dann sah ich Schwellungen an seinem Kopf. Ein Gerät piepste. (…) Ich ging um ihn herum, auf die andere Seite des Bettes, und der Anblick raubte mir die Fassung: Ich sah sein Auge, und mir wurde klar, er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Das Kopfkissen war voller Blut. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was passiert war, aber ich wusste: Es ist etwas richtig Schlimmes geschehen. Etwas Furchtbares. (…) Alles begann sich um mich zu drehen, der Raum, die Schläuche, das Bett, mein Vater, das blutige Kissen. Mir wurde schlecht, ich glaube, ich habe angefangen zu weinen und zu schreien. Irgendjemand hat mich dann aus dem Zimmer geholt.“ [5]
Gegen 13 Uhr im Krankenhaus. Der Bruder von Semiya kommt, zu dem Zeitpunkt ist er 13 Jahre alt. „Meine Kindheit endete genau eine Woche nach meinem 13. Geburtstag, am 9. September 2000. Das ist der Tag, an dem es passierte“, erinnert er. [6] Am Nachmittag sind Semiya, ihr Bruder, ihre Onkel, Verwandte, viele Bekannte und endlich auch ihre Mutter da. Semiya ist nicht mehr alleine, aber sie wusste nicht, wo war ihre Mutter gewesen?
„Mutter begann zu weinen, als die uns [Semiya und ihren Bruder] sah, sie war vollkommen aufgelöst“, erzählt Semiya über das erste Wiedersehen mit ihrer Mutter in der Klinik. [7] Die Mutter berichtet erst viel später, wo sie war: Sie wurde von der Nürnberger Kriminal Polizei vernommen, denn „die Polizei verdächtigt zunächst Şimşeks Ehefrau des Mordes aus Eifersucht.“ [8]
Irgendwann kommt ein Arzt zur Familie, sie dürften in das Zimmer gehen und ihn sehen. Mit ihm reden, aber sich keine Hoffnungen machen. „Wahrscheinlich überlebt er nicht,“ sagt ihnen der Arzt. Es sei an der Zeit, dass die ganze Familie sich von ihm verabschieden könne. „Können Sie sich vorstellen, wie das ist für ein Kind von 13 Jahren? Für mich war es einfach undenkbar, dass mein Vater nie wiederkommt. Ich glaubte, gleich würde er wieder aufstehen und alles wäre gut. So wie vorher. Dann würde ich wieder mit ihm angeln gehen oder ihm beim Grillen helfen“, erzählt der Sohn Enver Şimşeks über den Moment zwischen Leben und Tod seines Vaters. [9]
Am nächsten Tag, einem Montag, den 11. September 2000. Semiya erzählt den Moment vom erlöschenden Leben ihres Vaters später so: „Berieten sich die Ärzte, (…) ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht. Meine Mutter wartete mit uns Kindern und den Verwandten im Garten der Klinik, Onkel Hüseyin sprach oben mit den Medizinern. (…) Als mein Onkel in den Garten kam, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, er brach fast zusammen vor Schmerz. Sein Gesicht in dem Moment werde ich nie vergessen. Da wusste ich, was los war. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er weinte und kaum die Worte herausbrachte: Ich habe meinen Schwager verloren.“ [10]
Semiya, ihr Bruder, ihre Mutter, ihr Onkel, und alle, die da waren, alle verabschieden sich von ihrem Vater, von ihrem Lebensgefährten, von ihrem Schwager und Verwandten. Sie stehen um sein Bett und beten für ihn und seine Seele. Dann gehen sie nach Hause nach Schlüchtern.
„Heute habe ich keine Angst mehr, über all diese Geschehnisse zu schreiben. Über diese furchtbaren Tage, über die schwierigen Jahre danach und all die unbeschwerten Jahre davor. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, manches bringt mich immer noch an meine Grenzen, aber viele Bilder aus der Vergangenheit sind auch schön. Als ich anfing, über alles nachzudenken und mir zu überlegen, was es zu sagen gibt, fühlte ich mich schnell ziemlich erschöpft. Ich habe gemerkt: Die Vergangenheit tut mir weh (…) Mein Vater war ein guter Mensch. Umso mehr schmerzt es mich, daran zu denken, was ihm passiert ist“, schreibt Semiya viele Jahre später. [11]
* Semiya Şimşek beschreibt ihre Gefühle und ihre Erinnerungen an ihre „schlimmste Nacht“ so: „Ich habe gemerkt: Die Vergangenheit tut mir weh.“ in: Semiya Şimşek mit Peter Schwarz, Schmerzliche Heimat:- Deutschland und der Mord an meinem Vater, Rowohlt Berlin Verlag, 2013
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Fußnoten:
[1] Im Sommer 2012 kauften sich Semiya und ihr Ehemann eine Wohnung in Şarkikaraağaç, was auch ihre Ehemann herkommt. Sie renovierten das Haus von Semiyas Vater in Salur, dort, wo Semiya auch ihre Ferien verbracht hatte.
[2] Semiya Şimşek mit Peter Schwarz: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater, Rowohlt Berlin Verlag, 2013, S. 14
[3] Şimşek: Meine Schlimmste Nacht, Kapitel in Schmerzliche Heimat, S. 9 f.
[4] ebd.
[5] Şimşek, S. 10 f.
[6] Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, Herder Verlag Freiburg im Bresisgau, 2014, S. 31
[7] Şimşek, S. 12
[8] John, S. 30
[9] John, S. 31
[10] Şimşek, S. 13
[11] ebd.