Parteitaktik und undemokratische Strukturen statt umfassender Aufklärung
von NSU-Watch Hessen
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NSU-Watch Hessen veröffentlicht anlässlich der Fortführung des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses nach der Sommerpause eine Zwischenbilanz. Kritisiert werden dabei die undemokratischen Strukturen des Ausschusses, parteipolitische Streitigkeiten, die die Arbeit des Ausschusses lahmlegen, die mangelnde kritische Befragung der Zeugen aus den Sicherheitsbehörden und insbesondere die bisherige Ausblendung des institutionellen Rassismus in den hessischen Ermittlungen zur Mordserie.
Der hessische Untersuchungsausschuss wurde vor rund eineinviertel Jahren gegen den Willen der Regierungsparteien CDU und Grüne eingesetzt. Diese waren davon überzeugt, dass die Ermittlungen in Bezug auf Hessen ausreichend statt gefunden hätten und eine parlamentarische Untersuchung überflüssig sei. Dieser Unwille zur Aufklärung prägt die Arbeit des Ausschusses bis heute, sodass von einer kritischen Aufarbeitung keine Rede sein kann. Im Gegenteil: Die Abgeordneten verharren in parteipolitischen Streitereien, weisen kaum Kompetenz in Bezug auf die rechte Szene auf und lassen sich die Verweigerungshaltung der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gefallen. Inhaltlich macht sich der Ausschuss durch eine nicht nachvollziehbare Aufteilung der Themen weitgehend arbeitsunfähig. Manche Zeugen_innen konnten so nur zu Sachverhalten bis vor dem Mord an Halit Yozgat befragt werden – und müssen unter Umständen erneut geladen werden. Weiterhin findet der Rassismus und seine Ausprägung in den staatlichen Ermittlungsstrukturen als wichtigster Faktor in der Mordserie keine Beachtung in der parlamentarischen Arbeit.
NSU-Watch Hessen begleitet den Ausschuss von Beginn an kritisch und hat jede Sitzung dokumentiert. Vor dem Hintergrund dieser Arbeit zieht die Initiative ein Resümee der bisherigen Ausschussarbeit und stellt Forderungen für die weitere Aufklärungsarbeit auf. Damit der NSU-Komplex in Hessen umfassend untersucht werden kann, fordert NSU-Watch:
1. Der institutionelle Rassismus in den hessischen Sicherheitsbehörden muss thematisiert werden, um die Behinderung der Aufklärung der Morde an Halit Yozgat und Enver Simsek umfassend zu beleuchten.
2. Die bisherigen parteipolitischen Streitereien im Ausschuss müssen aufhören. Sie behindern massiv die Aufklärungsarbeit.
3. Der Umgang mit den Mitarbeiter_innen der Sicherheitsbehörden muss sich ändern. Sie müssen deutlich stärker in die Verantwortung durch die Ausschussmitglieder genommen werden.
4. Die Beweisanträge müssen öffentlich werden, damit ein transparenter Einblick in die Arbeit des Ausschusses gewährleistet ist. In anderen Untersuchungsausschüssen, wie in Thüringen, waren diese öffentlich einsehbar. Die derzeitige hessische Praxis untergräbt die Transparenz parlamentarischer Arbeit als wichtige Säule der Demokratie.
5. Die Abgeordneten müssen ihr Wissen um die Neonaziszene in Nordhessen und deren Verbindungen in das militante rechte Spektrum deutlich vergrößern. Expert_innenwissen ist wesentlich um durch informierte Nachfragen Erkenntnisse zu gewinnen.
6. Dem Ausschuss müssen alle geforderten Akten sofort und ungeschwärzt zur Verfügung stehen. Bisherige Befragungen konnten durch fehlende Akteneinsicht nicht adäquat durchgeführt werden.
7. Die Opferfamilien erwarten vom Ausschuss eine lückenlose Aufklärung. Kanzlerin Angela Merkel hatte bei der Trauerfeier für die NSU-Mordopfer am 23. Februar 2012 deutlich gesagt: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“ Diese Worte sollten der Maßstab für die Arbeit des hessischen Untersuchungsausschusses sein.
I. Die undemokratischen Strukturen des hessischen Untersuchungsausschusses
Der NSU-Untersuchungsausschuss war von der Regierungskoalition aus CDU und Grünen, die eine Enquete-Kommission präferierten, nicht gewollt und konnte nur durch die Minderheit im Parlament eingesetzt werden. In Hessen gibt es die Besonderheit, dass kein eigenständiges Untersuchungsausschussgesetz existiert. Über die Verfahrensregeln wird zu Beginn mehrheitlich entschieden. Dies führt zu der problematischen Konsequenz, dass die Mehrheit der Regierungskoalition – die den Ausschuss nicht wollte – die Arbeitsfähigkeit wesentlich bestimmt. So entscheidet der Ausschussvorsitzende Hartmut Honka (CDU) vorab über die Relevanz und Geheimhaltungseinstufung aller Akten. Eine weitere problematische Verfahrensweise betrifft die Beweisanträge der Abgeordneten und Fraktionen im Ausschuss: Sie werden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht und es wird nicht davor zurückgeschreckt ihre Geheimhaltung mittels der Sicherheitsbehörden durchsetzen zu lassen, wie das aktuelle Geheimnisverrats-Verfahren bezüglich der Informationen über Verbindungen der hessischen Polizei in das Blood & Honour Umfeld zeigt. Im Gegensatz dazu waren die Beweisanträge in den Ausschüssen in Thüringen und auf Bundesebene öffentlich einsehbar. Insgesamt konterkarieren und unterhöhlen diese Verfahrensweisen den Grundgedanken eines Untersuchungsausschusses als ein Instrument des parlamentarischen Minderheitenschutzes und der Aufklärung sowohl im als auch außerhalb des Parlaments.
a) Zeugen der Sicherheitsbehörden: Aussageverweigerung und Missbilligung der Aufklärung im Ausschuss
In den Zeugenbefragungen schlägt sich diese problematische Grundstruktur der Ausschussarbeit nieder, insbesondere bei der Befragung von Vertretern der Sicherheitsbehörden. Bei den bisherigen Befragungen lagen den Abgeordneten viele Akten nicht oder nur geschwärzt vor, was eine Aufklärungsarbeit faktisch unmöglich macht. Vor diesem Hintergrund konnten die Vertreter des Verfassungsschutzes ihren offensichtlichen Unwillen zur Aufklärung des NSU-Komplexes ungehindert und unhinterfragt zur Schau stellen. Der ehemalige Geheimschutzbeauftragte des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen (LfV), Gerald Hasso Hess, sagte während der achten Ausschusssitzung in Bezug auf eine mögliche Tatschuld von Andreas Temme, er wisse aufgrund seines Bauchgefühls, dass Temme nicht der Mörder sei. In der elften Sitzung verlautbarte Peter Stark, ehemaliger Abteilungsleiter für Rechtsextremismus im LfV Hessen, dass er die Akten zur Vorbereitung auf die Sitzung nicht lesen wollte. Die teils haarsträubenden Aussagen der Sachverständigen und Zeugen wurden wiederholt unkommentiert und ohne kritische Nachfragen stehen gelassen. Hierbei zeigte sich auch das fragwürdige Amtsverständnis des Ausschussvorsitzenden Hartmut Honka (CDU): Er nahm die Zeugen der Staatsbehörden oft in Schutz, statt auf die Preisgabe von Informationen zu drängen. Gleichzeitig werden die Behinderungen durch die Regierungsmehrheit nicht öffentlich skandalisiert.
In aller Deutlichkeit muss feststehen: Die Zeugen der Sicherheitsbehörden sind Mitarbeiter des Staates. Alle wesentlichen Informationen über den Kasseler Mordfall müssen offengelegt werden. Aus dieser Verantwortung darf der Ausschuss die Sicherheitsbehörden nicht entlassen.
b) Die parteipolitische Lahmlegung der Aufklärungsarbeit
Mit großer Sorge beobachtet NSU-Watch Hessen, dass im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss parteipolitische Streitereien an der Tagesordnung sind. Immer wieder müssen Sitzungen unterbrochen und Fragen zurückgestellt werden, weil sich die Parlamentarier_innen über die Abläufe uneins sind. Diese verfahrenstechnischen Schattenfechtereien werden benutzt um parteipolitische Interessen auf Kosten einer umfassenden Aufklärung durchzusetzen. Eine parteiübergreifende Aufklärungsarbeit wie im Ausschuss des Bundestags oder im Thüringischen Landtag gibt es in Hessen nicht. Damit ignoriert der hessische Untersuchungsausschuss auf ganzer Linie die Ratschläge, die er von den geladenen Mitgliedern der anderen Untersuchungsausschüsse bekommen hat. Eine parteiübergreifende und an Aufklärung interessierte Zusammenarbeit wäre aber nötig, um entschlossen die blinden Flecken in den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden aufzudecken.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Regierungskoalition versucht den Ausschuss faktisch als ihre gescheiterte Enquete-Kommission fortzuführen, indem sie die Aufklärungsarbeit auf die Frage verkürzt, wie die Arbeit der Sicherheitsbehörden effektiver gestaltet werden kann. Die Opposition scheint bisher nicht in der Lage zu sein, politischen Druck aufzubauen, der diesem Ansinnen tatsächlich entgegenwirkt.
II. Institutioneller Rassismus bei den hessischen Ermittlungen
Die durch rassistische Perspektiven geprägten Ermittlungsmethoden von Staatsanwaltschaften, Polizei und Geheimdiensten nehmen im hessischen Untersuchungsausschuss keinen Platz ein. Allgemein besteht die Ansicht, es habe in Hessen keine strukturell rassistischen Ermittlungen gegeben, da nach dem Mord an Halit Yozgat zunächst der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme als Tatverdächtiger im Fokus der Polizei stand. Wir haben als Initiative NSU-Watch mit dem Artikel „Leerstelle Rassismus“i jedoch auf rassistische Praktiken und Annahmen aufmerksam gemacht, die auch in Hessen ihre Anwendung fanden. So gab es ohne konkrete Anhaltspunkte umfangreiche Ermittlungen im Umfeld der Familie Yozgat, die sogar bis in die Türkei reichten, obschon die Familie in Deutschland lebte. Es wurde zudem unterstellt, das Umfeld von Halit Yozgats Vater hätte diesen zur Blutrache an Andreas Temme aufgerufen, was jeglicher Grundlage entbehrte. Auch bei dem ersten Mordopfer, Enver Simsek, der zum Tatzeitpunkt mit seiner Familie im hessischen Schlüchtern lebte, gab es Verdächtigungen in der türkischen Community und den Vorwurf, diese würde die Unwahrheit sagen. Die Hinweise aus der Community und von den Opferfamilien, einen rassistischen Hintergrund zu prüfen, wurden jedoch durch die Sicherheitsbehörden ignoriert. Auch als 2006 eine Demonstration unter dem Motto “Kein 10. Opfer” mit mehreren tausend Menschen, maßgeblich aus den migrantischen Communities aus Kassel und Dortmund stattfand, die auf den rassistischen Hintergrund der Mordserie hinwies, wurde der Ermittlungsansatz nicht geändert. All diese Fakten hat der hessische Untersuchungsausschuss bislang nicht erörtert. Damit nimmt er die Weigerung der Sicherheitsbehörden, die eigenen Strukturen und Denkweisen kritisch zu hinterfragen und auf Rassismus hin zu überprüfen, hin. Die Thematisierung des Rassismus wäre aber unserer Einschätzung nach elementar, denn er hat nicht nur die TäterInnen zum Morden gebracht, sondern er war und ist der Grund, dass die Vermutungen zur Täterschaft seitens der Opferfamilien nicht gehört wurden und stattdessen sie selbst ins Zentrum der Ermittlungen gestellt wurden.
III. Das (fehlende) Wissen um die Naziszene
Schenkt man den Aussagen vieler Vertreter der Sicherheitsbehörden über ihr Wissen um rechte Strukturen und Naziterror tatsächlich Glauben, dann zeichnet sich in Hessen ein desaströses Bild ab. Mitarbeiter aus dem Verfassungsschutz oder dem Amt nahestehende Wissenschaftler gaben wiederholt vor dem Ausschuss zu Protokoll, von Organisation wie Blood & Honour, Combat 18 oder anderen Strukturen in Hessen keine Kenntnis zu haben. Dieses Unwissen wird durch die Ausschussmitglieder oft gebilligt und nicht hinterfragt.
Im Ausschuss wurde wiederholt die Frage erörtert, inwiefern die Sicherheitsbehörden von einer rechten Mordserie ausgehen konnten. Unisono sagten Staatsanwälte, Polizisten und Verfassungsschutzmitarbeiter, dass der NSU keine Bekennerschreiben veröffentlicht habe und es deswegen keine Hinweise gegeben hätte. Diese Aussagen konterkarieren das allgemein zugängliche Wissen um rechten Terror in Deutschlandii. Hier zeigt sich wieder die staatliche Extremismusdoktrin in den Analysen: Rechter Terror wird nicht als eigenständiges Phänomen gesehen. Auch bspw. beim Oktoberfestattentat 1980 oder der Hinrichtung von Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 in Erlangen gab es keine Bekennerschreiben: die Tat ist das Bekenntnis. Konzepte des „führerlosen Widerstands“ oder die Organisierung in Zellen waren durch rechte Publikationen wie den Turner Diaries oder dem Blood & Honour-Field-Manual den Inlandsgeheimdiensten bekannt, es folgten daraus jedoch keine Schlüsse.
Es ist eine Aufgabe des Untersuchungsausschusses herauszufinden, warum das Wissen um die Praktiken rechter Terrorgruppierungen in den Sicherheitsbehörden nicht genutzt wurde. Weiterhin müssen Erkenntnisse über mögliche Unterstützungsstrukturen in Hessen offen gelegt und geprüft werden, inwiefern die Sicherheitsbehörden involviert waren/sind. Hierzu hat der Ausschuss bislang keinerlei Erkenntnisse geliefert.
IV. Alles schon aufgeklärt?
Viele offene Fragen müssen im Ausschuss noch erörtert werden. Angedacht ist, ehemalige und aktuelle Angehörige der hessischen Nazi-Szene in den Ausschuss vorzuladen – eine Neuheit in der Aufklärungsarbeit der Untersuchungsausschüsse. Damit die Rechten den Ausschuss nicht als Plattform für ihre eigene Strategie nutzen können, müssen die Abgeordneten mit kritischen Nachfragen und Kenntnissen über die Strukturen der militanten Rechten aufwarten.
Aus unserer Sicht sind dabei die folgenden Fragen von besonderer Bedeutung:
Wie eng war die Zusammenarbeit zwischen den Nazi-Szenen aus Kassel und Dortmund und welche Rolle spielte die Band Oidoxie und die Oidoxie Streetfighting Crew? Gibt es Kontinuitäten zwischen den Waffenfunden der Nazi-Szene Dortmund von 2005/2006 und dem aktuell verhinderten Waffendeal eines ehemaligen Mitglieds der Oidoxie Streetfighting Crew? Welche anderen V-Leute aus der rechten Szene gab es, neben der Quelle Benjamin Gärtner, in Nordhessen?
Im Hinblick auf die Anwesenheit von Andreas Temme am Tatort in Kassel ist zu klären: Was wusste seine Quelle Benjamin Gärtner? Aus welchen Erwägungen wurden die Aussagen von Gärtner durch das Innenministerium verweigert? Was ist über das Umfeld von Benjamin Gärtner bekannt? Warum wurde er als Hochsicherheits-V-Mann gehandelt? Warum wurde er nach Aussagen des Verfassungsschutzes auf die Deutsche Partei angesetzt, obschon sein Stiefbruder Blood & Honour-Führer in Nordhessen war?
Bis zum Jahresende 2015 hat der Ausschuss nur vier weitere Termine bekannt gegeben. Aus der Sicht von NSU-Watch Hessen ist dies viel zu wenig, um diese Fragen und viele weitere adäquat aufzuklären.
Mehr Informationen unter: http://hessen.nsu-watch.info/
(i) http://hessen.nsu-watch.info/2015/06/10/leerstelle-rassismus/
(ii) Siehe zum Beispiel http://www.nsu-watch.info/2014/10/taten-und-worte-neonazistische-blaupausen-des-nsu/ sowie http://www.nsu-watch.info/2015/06/der-nsu-im-netz-von-blood-honour-und-combat-18-gesamtversion/