Nach zweieinhalb Jahren zeichnet sich ein Ende im Münchner NSU-Prozess ab
Von Juliane Lang
zuerst veröffentlicht in der ak 609 vom 20.10.2015, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
Der NSU-Prozess gegen fünf Angeklagte vor dem Oberlandesgericht München (OLG) läuft mittlerweile im dritten Jahr. An 235 Verhandlungstagen wurden um die 500 Zeugen und Zeuginnen gehört, unter ihnen ehemals oder nach wie vor aktive Neonazis, Mitarbeiter_innen von Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten sowie Betroffene der Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) samt ihrer Angehörigen. Glaubt man den Entwicklungen der letzten Wochen, so ist dem Senat daran gelegen, den Prozess zu einem baldigen Ende zu führen.
In der Arbeit der bislang neun parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Ländern bestätigte sich die Feststellung unabhängiger Antifaschist_innen, bezüglich des NSU nicht von einer abgeschlossenen Drei-Personen-Zelle bestehend aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, zu sprechen, sondern einem breiten Netzwerk. Einzig die Bundesanwaltschaft hält bis heute an der Theorie einer Drei-Personen-Zelle fest und tritt regelmäßig Beweisanträgen der Nebenklage entgegen, die auf die politischen Hintergründe der Angeklagten oder auf weitere Beteiligte im breiten Netzwerk des NSU Bezug nehmen. So geschehen zuletzt, als ein Beweisantrag zur Ladung eines Dortmunder Neonazis abgelehnt wurde. Der Zeuge sollte zu Verbindungen des Jenaer Trios nach Kassel befragt werden und Zeugnis darüber geben, ob er den in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik persönlich kannte.
Das Gericht lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass es für eine »mögliche Schuld- und Straffrage der Angeklagten ohne jegliche Relevanz« sei, ob der möglicherweise in Verbindung zum Netzwerk des NSU stehende Neonazi das Mordopfer gekannt habe oder nicht. Der nun nicht zu ladende Zeuge wäre nicht der erste Neonazi im Zeugenstand gewesen: Etliche der etwa 50 bis heute vernommenen Neonazis müssen zum Unterstützernetzwerk des NSU gezählt werden. Auf Fragen antworteten sie in der Regel ausweichend und gaben an, es sei ihnen »nicht erinnerlich«. Anders als in anderen Verfahren üblich, wurde bislang gegen keinen der offensichtlich lügenden Neonazis mit Ordnungsmitteln vorgegangen. Einzig im August dieses Jahres zitierten Zeitungsmeldungen einen Behördensprecher, der von Vorermittlungen wegen des Verdachts uneidesstattlicher Falschaussagen gegen fünf Neonazis sprach.
Behördliches (Nicht-)Handeln
Auch diejenigen Neonazizeugen und -zeuginnen, die als V-Personen des Bundesamtes (BfV) und der Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) gearbeitet haben, erinnern sich nur unwillig und häufig erst auf Vorhalt von Aktenmaterial an einst getätigte Aussagen bezüglich des NSU gegenüber den jeweiligen Behörden. So erinnerte sich der ehemalige V-Mann des Brandenburger LfV, Carsten S., alias »Piatto«, in seiner Aussage vor Gericht erst auf Vorhalt an seine Angabe gegenüber seinem V-Mann-Führer aus dem Jahre 1998. Damals hatte er angegeben, drei sächsische Skinheads würden versuchen, sich ins Ausland abzusetzen. Dem Thüringer Kader von Blood & Honour Marcel Degner reichte dagegen selbst die dem Gericht vorliegende Aussagegenehmigung des LfV Thüringen nicht, um sich an seine Tätigkeit als V-Mann der Behörde zu erinnern, und er bestritt dies bis zuletzt in seiner Aussage.
Die Rolle der Geheimdienste wird jedoch nicht nur am Aussageblockadeverhalten ehemaliger V-Personen deutlich. Auch die Ämter selbst zeigen wenig Interesse, zu einer ernsthaften Aufklärung des NSU-Komplexes beizutragen. In einem umfassenden Beweisantrag forderten deshalb 29 Vertreter_innen der Nebenklage im August dieses Jahres die Herbeiziehung von rekonstruiertem Material aus Akten, die im BfV und dem Thüringer LfV im Anschluss an die Selbstenttarnung des NSU im November 2011 vernichtet worden waren.
Teile dieser Akten befinden sich angeblich in der Rekonstruktion – so konnten etwa 171 Deckblattmeldungen zum Thüringer V-Mann »Tarif« alias Michael See im vergangenen Jahr wiederhergestellt werden. Aufgrund der zeitlichen Nähe der Aktenvernichtung, so argumentiert der Beweisantrag, sei eine gezielte Vernichtung der Akten nicht auszuschließen. Im Rückgriff auf den im anglo-amerikanischen Raum verwendeten Begriff der »collusion« machen die Nebenkläger_innen damit das behördliche (Nicht-)Handeln zum Teil des Verfahrens: »Es finden sich wiederkehrende Muster des Verhaltens von Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten, die darauf schließen lassen, dass diese Behörden gezielt außerhalb des ihnen gesetzten Rahmens operiert haben, um das Wissen über oder die Beteiligung an Verbrechen zu vertuschen.«
Es sind immer wieder Vertreter_innen der Nebenklage, welche in gut recherchierten Beweisanträgen den politischen Hintergrund der Taten und der Täter und Täterinnen thematisieren und auf die gesellschaftliche Dimension des Verfahrens hinweisen. Dies steht dem Bild entgegen, das die Verteidigung und teilweise die Prozessberichterstattung aktuell von der Nebenklage zeichnen. Jene Berichterstatter_innen, die in den letzten Monaten so gern vom Gemütszustand Zschäpes oder der Bonbondose auf der Anklagebank berichteten, nutzen die Ungereimtheiten um die Zulassung einer »Phantomzeugin« für einen Pauschalangriff gegen die Nebenklage.
Die Initiative Keupstraße ist überall! schreibt hierzu: »In spektakulären Justizprozessen ist es nicht selten, dass Anwältinnen und Anwälte auch mit unerlaubten Mitteln versuchen, Mandate zu bekommen.« So auch im Fall einer Nebenklägerin, deren Anwalt ein gefälschtes Attest vorlegte, um als ihr Vertreter am Verfahren teilzunehmen. »Der Betrug, den es hier anscheinend gegeben hat, ändert nichts an der Tatsache der schweren Verletzungen und Traumatisierungen der Betroffenen des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße im Jahr 2004 und der weiterhin unvollständigen Aufklärung der Tatfolgen und -umstände. Ohne Zweifel ist die Notwendigkeit, dass diese Menschen im Prozess ihre Interessen durch Anwält_innen vertreten lassen können. Das Fehlverhalten Einzelner kann dies nicht in Frage stellen«, so die unabhängige Prozessbeobachtung NSU Watch zum Vorfall. Es ist einer engagierten Nebenklage zu verdanken, dass wir heute mehr über die Hintergründe des NSU wissen und dass unter anderem Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse in das Verfahren Eingang finden und dass die Betroffenen der Anschläge als Nebenkläger_innen aktiver Teil der Aufarbeitung des NSU-Komplexes sein können.
Die Aufklärung hat gerade erst angefangen
Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel einst versprochene »lückenlose Aufklärung« des NSU-Komplexes wird mit einem Urteil im Gerichtsverfahren vor dem OLG München nicht abgeschlossen sein. Zahlreiche Initiativen arbeiten daran, den NSU-Komplex nicht so schnell zu einem Kapitel in bundesdeutschen Geschichtsbüchern werden zu lassen, und verlangen Antworten auf die vielen offenen Fragen. Anlässlich des bundesweiten Aktionstages der Initiative Keupstraße ist überall! zogen am 20. Januar 2015 1.400 Menschen durch die Münchner Innenstadt und forderten »eine vollständige Aufklärung der Mord- und Anschlagsserie, die Aufdeckung des dahinter stehenden Neonazinetzwerks sowie die Offenlegung geheimdienstlicher Beteiligung«.
Die Berliner Naturfreunde starteten die Kampagne Blackbox VS und verwiesen am 8. April 2015 anlässlich des Jahrestages der Ermordung Halit Yozgats in dessen Kasseler Internetcafé auf die anhaltenden Ungereimtheiten in Bezug auf die Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme am Tatort. Nur kurze Zeit später gaben sie Gordian Meyer-Plath, ehemaliger V-Mann-Führer von »Piatto« und heutiger Präsident des LfV Sachsen, auf dem Vorplatz des OLG München den Rat, »so nah wie möglich« an der Wahrheit zu bleiben und zitierten damit den Dienstvorgesetzten Temmes aus einem abgehörten Telefonat.
Im Münchener Prozess zeichnet sich aktuell ab, dass der Senat ein Ende der Beweisaufnahme anstrebt. Die Ablehnung umfangreicher Beweisanträge zur Ladung von Zeug_innen und dem Einbezug weiterer Hintergründe des NSU-Netzwerks zeugt vom Ansinnen des Senats, nur die Sachverhalte zu behandeln, die er für ein Urteil gegen die fünf Angeklagten für relevant hält. Auf der Strecke bleiben dabei die ungeklärten Fragen zum Unterstützungsumfeld, den lokalen Verbindungen zu den Tatorten, und die Frage, wie und warum die Tatorte und Mordopfer ausgewählt wurden. Dabei ist ein zentrales Interesse der Angehörigen, Antworten auf die Frage zu bekommen, warum ausgerechnet ihr Mann und Vater umgebracht wurde.
Juliane Lang beobachtet den Prozess vor dem OLG München als Teil des bundesweiten Bündnisses NSU Watch.