Wo ansetzen? – Bericht aus dem BT-UA

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Bericht von der ersten öffentlichen Sitzung des NSU im Bundestag am 17.12. 2015 mit der Anhörung von fünf Sachverständigen

Die Sachverständigen John, Röpke, Laabs, Niehörster und Freier vor dem Ausschuss im Bundestag (c) Kilian Behrens

Die Sachverständigen John, Röpke, Laabs, Niehörster und Freier vor dem Ausschuss im Bundestag (c) Kilian Behrens

Sachverständige:

  • Barbara John (Ombudsfrau der Angehörigen der NSU-Opfer)
  • Andrea Röpke (Journalistin und Expertin für die extreme Rechte)
  • Dirk Laabs (Journalist, Autor des Buches „Heimatschutz“)
  • Burkhard Freier (Leiter des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen und Leiter des Arbeitskreises IV der Innenministerkonferenz, Verfassungsschutz)
  • Frank Niehörster (Ministerialdirigent des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern und Leiter des Arbeitskreis II der IMK, Polizei)

Am 17.12. 2015 fand die erste inhaltliche Sitzung des zweiten parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zum NSU im Bundestag statt. Geladen waren verschiedene Sachverständige. Inhaltlich ging es vor allem darum, was sich seit dem Abschlussbericht des letzten PUA getan hat und wo weiterhin offene Fragen im Komplex liegen. Die Einschätzungen zur Aufarbeitung seitens der Behörden gingen an diesem Tag weit auseinander.

Angehörige haben Kontrolle über ihr Leben zurückgewonnen

Barbara John schilderte vor dem Ausschuss zunächst die Situation der Angehörigen und Opfer. Deren soziale Lage habe sich stabilisiert und sie haben die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen können. Dennoch gäbe es weiterhin bürokratische Probleme unter anderem bei der Erlangung der doppelten Staatsbürgerschaft. Die Anreise zum Prozess in München gestalte sich aus finanziellen Gründen schwierig für die Familien. John forderte die Gründung eines Vereins, der dauerhaft die Interessen von Opfern rechter Gewalt und deren Angehörigen vertritt. Außerdem nannte sie eine Reihe ungeklärter Fragen, die für die Familien eine wichtige Rolle spielen. So zum Beispiel die Frage, was von den Behörden nach dem Auffinden von Sprengstoff 1998 in Jena unternommen wurde. Erfolgreiche Ermittlungen und Verhaftungen hätten die spätere Mordserie vermutlich verhindern können. Weiterhin nannte sie die Frage der Kriterien, nach denen die Opfer ausgesucht wurden. Diese sei zentral für die Angehörigen. Ebenfalls unklar sei das Tatmotiv für die Ermordung von Michèle Kiesewetter. Die Verstrickungen des Verfassungsschutzes seien nicht vollständig aufgeklärt. Konkret benannte sie in diesem Zusammenhang die Frage, warum der V-Mann-Führer beim Mord an Halit Yozgat in Kassel in dessen Internetcafé anwesend war.

Der Verfassungsschutz ein „Dienstleister der Gesellschaft“

Im weiteren Verlauf der Sitzung ging es um die Frage inwieweit die Behörden aus den Erfahrungen mit dem NSU gelernt haben und ob Empfehlungen des letzten Untersuchungsausschusses mittlerweile Anwendung in der Praxis finden. Dabei versuchten die Sachverständigen Freier (Verfassungsschutz) und Niehörster (Polizei) ein geschöntes Bild von vermeintlich geläuterten Ermittlungsbehörden zu zeichnen. Niehörster gab an, es habe einen Mentalitätswechsel bei der Polizei gegeben. Freier setzte in seinem Statement noch einen drauf und sprach von „selbstkritischer“ Aufarbeitung beim Verfassungsschutz. Seine Behörde sei ein „Dienstleister der Gesellschaft“, deren Informationen nicht „für den Panzerschrank“ bestimmt seien. Angesichts der vielen ungeklärten Fragen um die Rolle von V-Personen im Umfeld des NSU, den zahlreichen Aktenvernichtungen bei den Behörden und Beamten, die in Befragungen allzu gern mit „Das ist mir nicht erinnerlich“ antworten, kann von Selbstkritik keine Rede sein. Barbara John und Dirk Laabs warfen in diesem Zusammenhang ein, dass es in keinem einzigen Fall, egal ob Ermittlungsfehler oder Alktenschreddern, zu Disziplinarverfahren gekommen sei. Dies erwecke den Eindruck, dass es schlicht keine Regelverstöße gegeben habe.

Überhaupt ist die Auswahl von Freier als Sachverständigen kritisch zu sehen, da dieser eventuell in einer der folgenden Sitzungen auch als Zeuge vor den Ausschuss geladen werden könnte. Als Beweis, dass man in Sachen rechtem Terror nun sensibilisiert sei, nannte  er unterdessen die Ermittlungserfolge um die „Old School Society“ (OSS). Wirklich überzeugen kann auch das nicht, da rechte Terrorgruppen in der Regel nicht inklusive eigener Facebook-Präsenz agieren. In Zeiten, in denen jede Woche Brandanschläge auf Asylunterkünfte stattfinden, ist mehr als fraglich inwiefern die Gefahr rechten Terrors frühzeitig durch Polizei und Verfassungsschutz erkannt wird. Die Hemmschwelle zur Gewalt scheint jedenfalls enorm niedrig und auch Waffen dürfte es weiterhin in der Szene geben.

Militante Nazistrukturen reorganisieren sich unter dem Schutz des Parteiengesetzes

Karl-Heinz Statzberger und Matthias Fischer beim "Tag der deutschen Zukunft" am 6. Juni 2015 in Neuruppin. (c) Kilian Behrens

Karl-Heinz Statzberger und beim „Tag der deutschen Zukunft“ am 6. Juni 2015 in Neuruppin. (c) Kilian Behrens

Andrea Röpke, die Szene seit Jahrzehnten beobachtet, verwies in ihren Äußerungen vor dem Ausschuss auf aktuell agierende militante Strukturen, wie die Neonazi-Kleinstparteien Der III. Weg und DIE RECHTE. Diese führen unter dem Schutz des Parteigesetzes verbotene gewaltbereite Nazistrukturen fort. Vom Untersuchungsausschuss erwarte sie daher auf die Kontinuität innerhalb der Szene zuschauen. Es gelte Protagonisten wie den Neonazi Matthias Fischer genauer in den Blick zu nehmen. Fischer tauchte bereits 1998 auf der Telefonliste des NSU als Kontaktperson für die Stadt Nürnberg auf. Jener Stadt also, in der die Terrorgruppe einen Bombenanschlag und drei Morde verübte. Heute ist Fischer, der früher im Freien Netz Süd aktiv war, maßgeblich am Aufbau der Partei Der III. Weg beteiligt.

Ebenfalls in der Partei aktiv: Der Bruder des im Münchener NSU-Prozess Angeklagten André Eminger, Maik Eminger. Dieser sollte, so Röpke, ebenfalls im Fokus der Betrachtungen stehen.  Die Brüder Eminger waren jahrelang gemeinsam aktiv, gaben gemeinsam das Neonazi-Zine Aryan Law and Order heraus und gründeten zusammen die . Dass André mit seinem Bruder nicht über den NSU und seine Unterstützungsleistungen gesprochen haben soll, hält Röpke für völlig unglaubwürdig. Zusammen mit dem verurteilten Rechtsterroristen Karl-Heinz Statzberger reiste Eminger 2013 zum ersten Prozesstag nach München um seinen Bruder zu unterstützen.

Der Verurteilte Neonazi Karl-Heinz Statzberger, Kameradschaft München, und Maik E., Bruder des Angeklagten André E., versuchen am 1. Verhandlungstag Zuschauer_innen-Plätze zu bekommen. (c) nsu-watch

Der Verurteilte Neonazi Karl-Heinz Statzberger, Kameradschaft München, und Maik Eminger, Bruder des Angeklagten André Eminger, versuchen am 1. Verhandlungstag Zuschauer_innen-Plätze zu bekommen. (c) nsu-watch

Außerdem verwies Röpke in ihrem Statement auf andere Gruppen, die zeitlich parallel zum NSU existierten und sich zum Rechtsterrorismus bekannten. Konkret nannte die Journalistin die Combat-18 Zelle im Umfeld der Rechtsrockband und deren Sänger aus Dortmund, sowie die ehemalige Kameradschaft Süd um die Rechtsterroristen Martin Wiese und Karl-Heinz Statzberger in Bayern. Die Dortmunder C-18 Zelle rekrutierte sich aus Mitgliedern aus Dortmund und Kassel, jenen Städten, in denen im Jahr 2006 Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat innerhalb von drei Tagen erschossen wurden. Nirgends sonst mordete der NSU in so kurzem Abstand. Es sei davon auszugehen oder zumindest in Betracht zu ziehen, dass diese Zellen auch in Kontakt mit dem NSU standen. Nur drei Monate vor den Morden gab es 2016 ein Konzert von Oidoxie mit Beteiligung von Neonazis aus Thüringen, Dortmund und Kassel.

In Bezug auf den früheren hessischen V-Mann-Führer Andreas Temme und den von ihm betreuten Nazi-Spitzel Benjamin Gärtner sagte Röpke: „Temme lügt, wenn er sagt, sein V-Mann sei unbedeutend.“ Außerdem legte Röpke dem Ausschuss nahe sich mit dem kürzlich verstorbenen und V-Mann auseinanderzusetzen. Sokol war Leiter des Patria-Versands, dem einzigen rechten Versandhandel, bei dem eine NSU-Bekenner-DVD einging. Die Information über Sokols Spitzel-Tätigkeit wurde im vergangen Jahr kurz nach dessen Tod durch Recherchen der Autonomen Antifa Freiburg publik. Auch die Personalia Ralf Marschner alias V-Mann „Primus“ aus Zwickau und die von Johann H., einem V-Mann aus Köln, ließen weitere Fragen zu. Marschner will trotz bester Verbindungen innerhalb der Zwickauer Naziszene dreizehn Jahre lang nicht mitbekommen haben, dass die Mitglieder des NSU hier lebten.
Wichtig sei, so die Journalistin, vor allem das Umfeld des NSU weiter zu beleuchten. Eine Einzeltäter_innen-Strategie greife zu kurz und könne die Taten des NSU nicht ausreichend erklären. Dies zeige auch der aktuelle Fall des Attentats auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Um diese einordnen zu können, müsse man sich die gewaltbereiten Neonazigruppen der 90er Jahre ansehen, in denen der Attentäter aktiv war. Die Informationen darüber stammen einmal mehr nicht etwa vom Verfassungsschutz, sondern aus der Recherche antifaschistischer Gruppen vor Ort.

Staatliche Akteure tragen nicht ausreichend zur Aufklärung bei

Dirk Laabs, Journalist und Autor des Buches „Heimatschutz“, nannte als Grund für die weiterhin offenen Fragen neben dem Schweigen der Hauptakteure Defizite bei staatlichen Behörden. Diese trügen aus ungeklärten Gründen nicht ausreichend zur Aufklärung bei. Damit hebt sich Laabs Einschätzung deutlich von der des Verfassungsschützers Freier ab. Laabs legte dem Ausschuss nahe, sich erneut und umfassender als bisher mit der Frage zu beschäftigen, inwieweit die V-Leute des VS die Szene nicht nur unterwanderten, sondern auch kontrollierten. Gerade das Bundesland Sachsen sei bei der Aufarbeitung der V-Personen-Praxis noch weit zurück. Auch die Vernichtung von Akten müsse weiter aufgeklärt werden und somit erneut Thema im Ausschuss sein.

Dem Ausschuss wurden in der ersten Sitzung also folgende Arbeitsfelder durch die Sachverständigen nahegelegt: Das Netzwerk um den NSU bzw. dessen netzwerkartiger Charakter, die unzureichende Aufarbeitung seitens der Ermittlungsbehörden und das V-Leute-System im Umfeld des NSU, sowie die Überprüfung der tatsächlichen Umsetzung der Forderungen aus dem Abschlussbericht des letzten PUA. Erfreulich war das hohe Besucher_innenaufkommen während der Sitzung. Zu Beginn der Anhörung wurden fast alle Plätze auf der Empore belegt. Eine Entwicklung die sich hoffentlich bei der ersten Zeugenvernehmung am 18. Februar fortsetzt.

Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) tritt am 17.12.2015 vor die Presse. (c) Kilian Behrens

Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) tritt am 17.12.2015 vor die Presse. (c) Kilian Behrens

 

Tipps für den Besuch des UA finden sich hier: www.nsu-watch.info/2015/12/dem-untersuchungsausschuss-auf-die-finger-schauen/
Einen Artikel von NSU-Watch zum Untersuchungsauftrag des neuen UA im Bundestag gibt es hier: www.nsu-watch.info/2015/12/im-hamsterrad/