Reihe: Ortstermin
von Niklas Prenzel
zuerst erschienen auf dem Blog antifra*
Eine Stunde vor Prozessbeginn teile ich mir die Zuschauerreihen mit nur einem weiteren Besucher. Auf seiner Glatze spiegelt sich grelles Neonlicht, das von kühlen Betonwänden herabstrahlt. Er könnte Hauptdarsteller in einem um Aufklärung bemühten, öffentlich-rechtlichen Fernsehfilm zu Neonazismus sein. Hier verkörperte er einen dumpfen und liebenswerten, aber bedingungslos ergebenen Mitläufer. Wie ein vergessener Aquariumsbesucher blickt der blasse Koloß durch die dicke, bis zwei Meter unter die Decke reichende Glasscheibe nach unten in den Gerichtssaal. Als warte er darauf, dass ein großer, ganz besonderer Fisch sich bald zeigen möge. Um einen besseren Blick zu erhaschen, gehe ich die wenigen Stufen hinunter und presse meine Nase gegen die Scheibe. Nun kann ich die Pappaufsteller lesen, die anzeigen, wo die Angeklagten, die Bundesanwaltschaft und die Nebenkläger sitzen werden. Sofort kommt ein Justizbeamter herangeeilt und fordert mich auf, meinen Platz einzunehmen.
Es ist der zweite Kontakt an diesem Morgen mit der ordnenden Staatsmacht. Selbstbewusst war ich vor einer halben Stunde durch die gläserne Schiebetür des Oberlandesgerichts getreten, wurde jedoch von einem Beamten zurechtgewiesen, dass ich draußen zu warten hätte. Pflichtbewusst hatte ich mich also in das weiße, menschenleere Großzelt auf dem Vorplatz gestellt, in dem gelbe Plastikgatter verschiedene Reihen voneinander abtrennen. Ursprünglich als Provisorium für die Ordnung der Zuschauermassen gedacht, steht es nun schon seit drei Jahren an diesem Ort. Zwecklos, als habe jemand vergessen, nach einer Gartenparty den Wind– und Wetterschutz abzubauen. Nach wenigen Minuten hatte man mir umständlich eines der Gatter einen Spalt breit geöffnet und mich zur Durchsuchung ins Gerichtsgebäude gebeten. Akkurat und routiniert forderte mich einer der in 70er-Jahre-Beigegrün gekleideten Polizisten auf, sämtliches Gepäck abzugeben. Als „normaler“ Besucher darf ich immerhin Kugelschreiber und Heft mitnehmen. Nach dem er diese beiden analogen Utensilien ausgiebig untersucht hatte, beschrieb er mir irritierend kumpelhaft den Weg zum Gerichtssaal.
Hier stehe ich nun an der Glasscheibe, durch die aus der Nähe durchzugucken nicht gestattet ist. Beim Zurückgehen auf meinen Platz kann ich jenen korpulenten, kahlgeschorenen Zuschauerkollegen von vorne betrachten. Auf seinem T-Shirt ist das Logo der Londoner U-Bahn aufgedruckt. Der bekannte Schriftzug „Underground“ auf einem blauen Balken vor rotem Kreis lässt erahnen, für welche Seite der Krimileser in diesem Prozess Sympathien hegt. Passend zum T-Shirt hat er seine Lektüre ausgewählt: Neben ihm liegt aufgeschlagen das Buch „Himmel über London“ von Håkan Nesser. Später erhasche ich einen Blick auf den Klappentext. In dem Buch treibt ein Serienmörder sein Unwesen: „Es braut sich etwas zusammen unter dem Himmel von London“, steht da weiter.
In diesem grauen Gerichtssaal fühle ich mich merkwürdig weit der Wirklichkeit entrückt. Vielleicht ist es vergleichbar dem Gefühl, an einem Sommertag als Tourist in einer mediterranen Stadt das Innere einer alten, kühlen Kathedrale zu betreten. Alles Bombastische, Farbenfrohe ist hier kahlem Beton gewichen, kein Fenster erlaubt einen Blick nach draußen, Nadelfliesboden schluckt jedes Geräusch. Schneidende Vernunft und Pragmatismus regieren diesen Raum. Dort, wo eigentlich die Orgel stehen müsste, befinden sich die Zuschauerreihen, in drei Meter Höhe thronen sie über dem Verhandlungssaal. Von hier oben sind nur die fünf Richterstühle uneingeschränkt zu sehen.
Mit einiger Verzögerung beginnt endlich der Prozesstag. Es ist der zweihundertdreiundsiebzigste. Heute dürfen Kamerateams den Einzug der Angeklagten begleiten. Aus einer anderen Perspektive sehe ich das, was sich wohl schon ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt hat. Beate Zschäpe betritt unter Blitzlichtgewitter den Gerichtssaal. Seit knapp einem halben Jahr zeigt sie der Öffentlichkeit statt ihres Rückens ein geübtes Lächeln. Fotografen knien wie zur Anbetung bereit vor ihr. Aus der Froschperspektive scheinen sie Zschäpe in Szene setzen zu wollen. Hinter ihr betritt Carsten S., der die lange Kapuze seines Pullovers zur Unkenntlichkeit übers Gesicht gezogen hat, den Saal. André Eminger, ein weiterer mutmaßlicher Helfer des Trios und rein äußerlich eine Mischform aus Biker und Bär, nimmt selbstbewusst seinen Platz ein. Mitangeklagter Holger G. hält sich eine Kladde vor das Gesicht. Wie ein Finanzbeamter an den morgendlichen Schreibtisch setzt sich Ralf Wohlleben, der zweite Hauptangeklagte, an seinen Platz und verkabelt gründlich seinen Laptop. Von hier oben, abgetrennt durch die Scheibe, sieht das alles so unglaublich profan und einstudiert aus.
Was folgt sind die Mühen der Ebene eines stinknormalen Gerichtstages. Immer wieder muss ich mir in Erinnerung rufen, dass es nicht irgendeine Verhandlung, sondern einer der wichtigsten Strafprozesse der bundesrepublikanischen Geschichte ist. Aber dadurch, dass es selbstverständlich ein Strafprozess und kein Schau– oder Gesinnungsprozess ist, überwiegt – zumindest heute – das Zähe, das Bürokratische. Alle Affekte scheinen ausgesperrt aus diesem Saal.
In den vier Stunden, bis der Verhandlungstag beendet und der darauffolgende abgesetzt wird, geht es um ein Beweisstück, das die Bundesanwaltschaft der Verteidigerseite angeblich nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt hat. Wohlleben hatte sich bei seiner Aussage vor Gericht als der bürgerliche, gesetzestreue und gegen Gewalt eingestellte NPD-Politiker präsentiert. Ich denke darüber nach, dass sein Nachname jemanden bezeichnet, der ein gutes, angenehmes, wohles Leben führt. Ist diese Bedeutung tatsächlich in ihm zum Selbstentwurf geronnen? Nun hatte sich jedoch eine Zeugin daran erinnert, dass bei der Hausdurchsuchung ein T-Shirt in seinem Bett gefunden wurde. Darauf ein abscheuliches Arrangement gedruckt: Die Bahnschienen, die auf das Eingangstor von Auschwitz zulaufen, darüber in gotischen Buchstaben das Wort „Eisenbahnromantik“. Dieses Beweisstück, das Wohllebens Einstellung in ein etwas anderes Licht rückt, sei nun von der Bundesanwaltschaft nicht ausgedruckt, sondern lediglich als Datei auf einem USB-Stick zu den Akten gelegt worden. Die Verteidiger Wohllebens, allesamt so genannte rechte Szeneanwälte, sehen dies am heutigen Verhandlungstag als Anlass, einen Aussetzungsantrag zu stellen. Richter, Bundesanwaltschaft und Nebenklage nehmen dazu Stellung. Das könnte schnell erledigt sein, denke ich. Doch die verschiedenen Seiten bekommen immer wieder Zeit sich zu beraten. Am Ende werde ich insgesamt drei Stunden mit Warten verbracht haben, immer wieder unterbrochen von kurzen Statements der Beteiligten. Nachdem die Wohlleben-Verteidigung gesprochen hat, kann ich den Blick nicht von dem Angeklagten abwenden. Zufrieden lächelt er in sich hinein, raunt seinem sich wieder neben ihn setzenden Anwalt ein paar Worte der Anerkennung zu.
Der Prozess wird bis zur folgenden Woche ausgesetzt, schon zur Mittagszeit entlässt Richter Götzl alle Anwesenden. Vor mir geht der Beobachter mit dem London-Faible die enge Treppe hinunter. Angeblich ist er einer der häufigsten Prozess-Zuschauer. Man berichtet mir, dass er bereitwillig von seiner Verehrung und Liebe zu Zschäpe erzählt. Mir hingegen ist nur in Erinnerung, wie er mich im Nebenraum während einer der Pausen fragt, ob ich im Brötchenhaufen eine Leberwurstsemmel sehen würde. Ich ärgere mich, dass mir diese Gestalt noch immer im Kopf herum spukt und ich genötigt wurde an diesem Prozesstag über Leberwurstsemmeln nachzudenken.
Draußen auf dem Vorplatz des Gerichts stehen viele Menschen, die ebenfalls im Saal A101 gewesen sind. Sie saßen unterhalb der Zuschauertribüne, waren von dort nicht zu sehen. Es sind etwa 50 Nebenklageanwälte und ein paar Nebenkläger, also Angehörige der Mordopfer, die zu diesem 273. Verhandlungstag aus ganz Deutschland angereist sind und nun in kleinen Grüppchen in der Münchener Frühlingssonne stehen. Am Vortag jährte sich zum zehnten Mal der Mord an dem 39jährigen Mehmet Kubaşık. Der folgende Tag wird der zehnte Todestag des 21jährigen Halit Yozgat, dem neunten Opfer des NSU, sein. Diesen, von zwei traurigen Jahrestagen umrahmten Prozesstag miterlebt zu haben, muss für sie ernüchternd sein. Erneut sind sie Zeugen kleinlichen juristischen Gezerres geworden. Man kann nur hoffen, dass sich in ihre Wunden und die Trauer nicht irgendwann das Gefühl einschreibt, vergeblich und zu lange auf Gerechtigkeit gewartet zu haben.