An diesem Prozesstag ist zunächst eine Sachverständige geladen, die Holger Gerlach auf Urlaubsfotos des NSU identifiziert hat. Im Anschluss daran lehnt Götzl einen Beweisantrag von Nebenklage-Vertreter_innen zu Lothar Lingen und Michael See (alias V-Mann Tarif) ab.
Sachverständige:
- Elisabeth Pi. (KHK, BKA Wiesbaden, SV für Personenidentifizierung anhand von Lichtbildern, Identifizierung von Holger Gerlach auf einem Urlaubsfoto des NSU)
Der Verhandlungstag beginnt um 09:50 Uhr. Gehört wird die SV Elisabeth Pi. Götzl sagt, es gehe um Untersuchungen von Lichtbildern zum Zwecke der Identifizierung einer Person. Pi. berichtet, sie habe den Untersuchungsauftrag im April 2012 erhalten. Dieser habe sich auch auf den Vergleich einer PDF-Aufnahme einer männlichen Person, die eine Sonnenbrille trägt, mit ED-Aufnahmen des Holger Gerlach aus 2008 bezogen. Die Identitätsfeststellung beruhe auf dem Grundsatz der Individualität jedes Lebewesens, also auch des Menschen, es gebe bestimmte individuelle anatomische Merkmale im Kopf- und Gesichtsbereich.
Die Bereiche, die sie untersuchen würden, seien benannt und beschrieben und würden unterschiedliche Aussagekraft besitzen. Man könne Personen auch identifizieren, wenn zwischen den Aufnahmen längere Zeit liege. Die Untersuchung erstrecke sich auf einen allgemeinen und einen Detailvergleich. Beim allgemeinen Vergleich werde eine Person erstmal von weitem eingeordnet in Bezug auf grobe Strukturen, Ähnlichkeit, Übereinstimmungen, aber auch Abweichungen. Beim Detailvergleich gehe man näher an die Person heran, zoome heran, schaue sich das Gesicht an. Die anatomischen Merkmale, die man sich anschaue, führten zu einer Wahrscheinlichkeitsaussage: mit hoher Wahrscheinlichkeit, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Pi. führt dann aus, welche Merkmale sie festgestellt habe. Es hätten beim allgemeinen Vergleich Ähnlichkeiten und optische Übereinstimmungen bzgl. perspektivische Gesichtsumrissform, der Stirn-, Nasen-, Mund- und Kinnregion, der Wangenpartien, sowie bezüglich der Ohren und des Halses festgestellt werden können. Pi. sagt dann, dass sie insgesamt nach der Auswertung der Merkmale zu dem höchsten Untersuchungsergebnis gekommen seien, dem höchsten Prädikat, das vergeben werden kann: Dass es sich bei der unbekannten männlichen Person auf der einen Aufnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ein und dieselbe Person wie auf der anderen Aufnahme, also Holger Gerlach, handele.
Dann werden die Bilder „Urlaub 2006“ in Augenschein genommen. Es handelt sich um Urlaubsfotos von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Zu sehen ist z. B. Böhnhardt beim Kartenlesen, Zschäpe an einem Campingtisch, Zschäpe und Böhnhardt, wie sie über eine Straße laufen, Böhnhardt beim Spülen, Böhnhardt umarmt Zschäpe, Böhnhardt in einem Stockbett, drei Personen in einer Fußgängerzone, das Bild von Holger Gerlach, das die SV zum Vergleich benutzt hat, ein Bild, auf dem Böhnhardt und vermutlich Gerlach und Zschäpe zu sehen sind.
Es folgt dann die Verkündung eines Beschlusses durch Götzl, mit dem die Gegenvorstellung einiger NK-Vertreter_innen gegen die ablehnenden Beschlüsse zum Beweisantrag zu BfV-Akten zu Michael See und zur Ladung des Zeugen „Lothar Lingen“ (BfV) zurückgewiesen wird. Götzl nennt noch einmal die Beweistatsachen und sagt dann, dass es mit dem ablehnenden Beschluss „sein Bewenden“ habe. Dann sagt er, dass den im Rahmen der Begründung der Gegenvorstellung neu gestellten Anträgen, „Lingen“ zum Beweis der Tatsachen zu vernehmen, dass ihm bekannt war, dass eine oder mehrere VS-Behörden bereits vor dem 04.11.2011 Erkenntnisse zum Aufenthaltsort von Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos, zur Existenz des NSU bzw. zu den in der Anklage Mundlos und Böhnhardt zugeschriebenen und den Angeklagten Zschäpe, Wohlleben, Gerlach, Eminger, Schultze vorgeworfenen Taten hatten, nicht nachgekommen wird.
1. Die Gegenvorstellung geht davon aus, dass eine Wohnungsbeschaffung durch einen V-Mann den staatlichen Behörden eine Möglichkeit der Festnahme von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe eröffnet hätte. Aus dem Umstand, dass es zu keiner Wohnungsvermittlung durch den V-Mann kam, ergebe sich, so legt der Senat den Vortrag aus, eine staatliche Mitverantwortung für die angeklagten Taten. Bei dieser Schlussfolgerung wird aber von der Gegenvorstellung übersehen, dass die Behauptung, staatliche Stellen hätten die untergetauchten Personen nach einer Wohnungsvermittlung durch den V-Mann festnehmen können, eine rein spekulative Prognose ist. Es kann schon nicht als sicher angenommen werden, dass die untergetauchten Personen eine eventuell über den V-Mann vermittelte Wohnung auch tatsächlich bezogen hätten.
Ohne den Bezug der Wohnung hätte sich aber überhaupt kein Ansatzpunkt für eine Festnahme ergeben. Aber auch bei Bezug einer vermittelten Wohnung ist nicht sicher, dass es zu einer Festnahme der untergetauchten Personen gekommen wäre.
Durch Auffallen von Überwachungsmaßnahmen im Vorfeld oder unmittelbar vor einem Festnahmezugriff kann eine Festnahme jederzeit vereitelt werden. Eine staatliche Mitverantwortung an den angeklagten Taten kommt daher schon deshalb nicht in Betracht, weil es an der Kausalität staatlichen Verhaltens dafür fehlt. Zudem ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass staatlichen Stellen zum Zeitpunkt der Wohnungsanfrage durch André Kapke beim V-Mann [See] Kenntnis davon hatten, die untergetauchten Personen würden weitere Straftaten begehen. Somit fehlt es auch im Zusammenhang mit der behaupteten staatlichen Mitverantwortung an der Vorwerfbarkeit staatlichen Verhaltens.
Die Aufklärungspflicht drängt nicht dazu, den Zeugen „Lingen“ zu den beantragten Themenkomplexen zu hören: a. Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Zeuge „Lingen“ als Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz überhaupt Wahrnehmungen zu den behaupteten Umständen gemacht hat. Lediglich der Umstand, dass der Zeuge Behördenakten vernichten ließ, lässt nicht den Schluss zu, dass ihm – also dem Zeugen – bekannt war, dass allgemein die Verfassungsschutzbehörden „Erkenntnisse“ zum „Aufenthaltsort“ der geflohenen Personen, zur „Existenz des NSU“ bzw. zu den vorgeworfenen Taten hatten. Ein Zusammenhang zwischen der Vernichtung der Akten und diesen „Erkenntnissen“ der Verfassungsschutzbehörden ist reine Spekulation der Antragsteller. b. Die Antragsteller stellen weiter in den Raum, Motiv des Zeugen „Lingen“ für seine Handlungsweise bezüglich der Akten könnte gewesen sein, „Hinweise auf die Angeklagten und die angeklagten Taten zu vernichten“. Auch dies ist eine reine Vermutung. Umstände, die diese Motivation des Zeugen belegen würden, sind nicht vorhanden und werden auch von den Antragstellern nicht vorgetragen. Der Verhandlungstag endet um 11:25 Uhr.
Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.
Die vollständige Version des Protokoll ist hier zu finden.