Bericht aus dem Untersuchungsausschuss des Bundestages vom 20.Oktober 2016
Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. am 25. April 2007 wirft bis heute viele Fragen auf. Im Untersuchungsausschuss ging es nun um die Frage nach möglichen weiteren TäterInnen, sowie die Kontakte des NSU nach Baden-Württemberg. Wenige Stunden vor Beginn der Sitzung verstarb in Bayern ein Polizist, nachdem am Vortag ein sogenannter Reichsbürger auf ihn und drei weitere Kollegen geschossen hatte.
von NSU-Watch
Zeug_innen:
- Heike Hißlinger (ehem. LKA Baden-Württemberg, 2013-2014 Leiterin der „EG Umfeld“)
- C.O. (LfV Baden-Württemberg, arbeitete der „EG Umfeld“ zu)
- Wolfgang Fink (LKA Baden-Württemberg, Mobildatenauswertung im Fall Kiesewetter)
- Klaus Brand (LKA Baden-Württemberg, Auswertung Zeug_innenaussagen zu flüchtenden Personen am Tatort in Heilbronn)
- nicht öffentlich: A.W. (BfV, Betreung des ehemaligen V-Mannes Thomas Richter alias „Corelli“)
Die „EG Umfeld“ war ein Papiertiger
Die erste Zeugin an diesem Tag war Heike Hißlinger, die ehemalige Leiterin der „Ermittlungsgruppe Umfeld“ (EG). Diese war im Jahr 2013 nach politischen Druck auf die baden-württembergische Landesregierung geschaffen worden und bestand bis 2014. Aufgabe der EG war es, mögliche NSU-Bezüge in Baden-Württemberg aufzuarbeiten. Damit sollte zunächst ein eigener parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag verhindert werden. Die Ergebnisse der EG waren jedoch mehr als dürftig. Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) fasste zusammen, die Kernaussagen der Ermittlungsgruppe seien mehrheitlich, man habe nichts rausgefunden. Fragen, die ihn interessieren, hätten nicht beantwortet werden können, da von Hißlinger immer wieder zu hören war: „Das durften wir nicht. Das sollten wir nicht. Da mussten wir vorher erst fragen.“, so Binninger in einem Pressestatement.
Hißlinger betonte gleich zu Beginn, dass ihre Arbeit einzig und allein auf polizeirechtlicher Basis stattgefunden habe. Das bedeutet, dass vorgeladene Zeug_innen nicht gezwungen werden können auch tatsächlich zu erscheinen. Im Bericht der EG heißt es: „Die Befragungen […] setzen regelmäßig die Mitwirkungsbereitschaft der Befragten voraus.“ Außerdem, so Hißlinger, habe man keine Parallel-Ermittlungen zur Generalbundesanwaltschaft (GBA) und zum BKA führen wollen. Dies schließt den Mordfall Kiesewetter mit ein. Ohne diesen genauer zu untersuchen dürfte es auch nicht mögllich sein, sich ein umfassendes Bild des Rechtsterrorismus im Bundesland zu machen. Man habe hier jedoch darauf vertraut, dass die zuständigen Stellen beim BKA und GBA richtig arbeiten. So wurden auch seitens der EG nicht die Phantombilder aus Heilbronn mit den 52 bekannnten NSU-Kontakten nach Baden-Württemberg, die die EG ermittelte, abgeglichen. Relevante Hinweise habe man stets ans BKA weitergeleitet, deren Verfolgung dann aber nicht weiter überprüft.
Der Abschlussbericht der EG liest sich dann auch ernüchternd: NSU-Kontakte nach Baden-Württemberg? Ja. Konkrete Unterstützungshandlungen, gar ein NSU-Unterstützungsnetzwerk? Nein. Kontakte zwischen Ku Klux Klan (KKK) und dem NSU konnten nicht nachgewiesen werden. (Abschlussbericht der „EG-Umfeld“ – Dokument auf im.baden-wuerttemberg.de) Ob im Zuge einer von Hißlinger veranlassten Befragung aller bekannten KKK-Mitglieder auch die fünf Polizisten nochmals befragt wurden, die zeitweise Mitglieder ein Klan-Struktur waren, konnte die Zeugin nicht sagen.
Nach der Leiterin der EG sagte der Zeuge C.O. vom LfV Baden-Württemberg aus. Dieser arbeitete der Ermittlungsgruppe seitens des Verfassungsschutzes zu. Auch er konnte kaum Neues beitragen. Wie zuvor schon Hißlinger, beschrieb er die Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und EG als harmonisch.
Waffenparadies Baden-Württemberg
Bei vielen der Waffen des NSU, welche sich im Brandschutt der Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße und im Wohnmobil in Eisenach-Stregda fanden, ist die Herkunft bis lang unbekannt. Gerade weil Neonazis in Baden-Württemberg jede Menge Waffen besaßen, standen diese beim NSU-Kerntrio hoch im Kurs. So schwärmte Mundlos in den 1990er Jahren in einem Brief über die Waffensammlung von H.J.S., einem Ludwigsburger Neonazi. Mit Bezug auf die Neonazi-Szene in der Stadt sprach der Rechtsterrorist von einem regelrechten „Waffenladen“. Dabei spielte Ludigsburg ein wichtige Rolle im Netz des NSU. Seit 1993 besuchten Zschäpe und Mundlos, später auch Böhnhardt regelmäßig ihre Nazifreunde im Süden. Bis 2001 soll es zu mindestens 30 Besuchen gekommen sein.
Waffen in der extremen Rechten – oftmals keine rechtliche Handhabe
Alle Beteiligten standen an diesem Donnerstag unter den Eindrücken der Nachricht vom Tode eines Polizisten nur wenige Stunden zuvor. Am Vortag war dieser eingesetzt gewesen, um im bayrischen Georgensmünd bei einem sogenannten Reichsbürger diverse Waffen zu beschlagnahmen. Dem Mann war zuvor die Waffenbesitzkarte entzogen worden. Im Laufe des Einsatzes schoss er auf insgesamt vier Polizisten.
Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 1947 Waffen in der extrem rechten Szene beschlagnahmt. Dies stellt im Vergleich zum Vorjahr mehr als eine Verdoppelung dar (2014: 868). Die Statistik exisiert seit 2008. Damals belief sich die Zahl der beschlagnahmten Waffen noch auf 348. Valide Zahlen darüber, wie viele Neonazis im Besitz von Waffen sind, gibt es bislang nicht.
Dass diese Waffen auch für Straftaten nutzen, ist seit Jahrzehnten bekannt. Eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE ergab, dass im Jahr 2013 bei 265 Straftaten aus dem Bereich PMK-Rechts Waffen eingesetzt oder diese zur Bedrohung genutzt wurden. Im Jahr 2014 waren es mit 536 mehr als doppelt so viele Straftaten. Für das Jahr 2015 lagen zum Zeitpunkt der Beantwortung durch die Bundesregierung noch keine Zahlen vor. (Bundestagsdrucksache 18/7846 – Dokument auf bundestag.de)
Oftmals gibt es keine rechtliche Handhabe, den Waffenbesitz von Neonazis zu unterbinden. Dieser Umstand wurde von verschiedenen Ausschussmitgliedern kritisiert. Petra Pau (DIE LINKE) fragte: „Was muss eigentlich noch passieren, um gegen Nazis, die Waffen, Sprengstoff horten, legal oder illegal, vorzugehen und hier den Boden auszutrocknen?“. Auch Uli Grötsch (SPD) forderte „amtsbekannten Neonazis und Rechtsextremisten“ die Waffenbesitzkarte grundsätzlich zu entziehen. In der Sitzung war zuvor auch von einem Angehörigen der extrem rechten Szene Baden-Württembergs die Rede, welcher im Rahmen der Ermittlungen der EG-Umfeld überprüft worden war. Dabei handelt es sich um S. J., einen Bekannten des zuvor erwähnten S., dieser ist weiterhin im Besitz diverser Waffen und verfügt bis heute über eine Erlaubnis zum Umgang mit Sprengstoff. Ein Möglichkeit ihm die Waffen zu entziehen sah das LKA nicht.
Ermittlungen zum Tatort Heilbronn – ungenügende Telefondatenauswertung
Der Zeuge Wolfgang Fink vom LKA Baden-Württemberg sagte zur Mobildatenauswertung im Mordfall Kiesewetter und dem Mordversuch an ihrem Kollegen aus. Erneut wurde deutlich, dass trotz immer wieder geäußerter Skepsis zur Theorie von Kiesewetter als Zufallsopfer und einer alleinigen Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt, die Vorgänge noch immer nicht vollständig ausermittelt wurden. Die erhobenen Telefondaten wurden nicht auf mögliche Kreuztreffer hinsichtlich der Frage, welche Geräte sowohl morgens als auch nachmittags am Tatort ins Telefonnetz eingebucht waren, überprüft. Denkbar wäre hierdurch Informationen über ein mögliches Ausspähen des Tatortes zu erhalten. Auch eine Überprüfung der erhobenen Daten mit bekannten Mobilnummern aus dem NSU-Unterstützungsumfeld scheint nur äußerst mangelhaft durchgeführt worden zu sein. Fink selbst sprach von drei bis vier Rufnummern, die ihm in diesem Zusammenhang vorlagen. Von einem Abgleich mit allen bekannten Kontakten des NSU in Baden-Württemberg wüsste er nichts. Auf Nachfrage gab Fink an, dass die Suchparameter womöglich anders ausgesehen hätten, wenn man nicht von einer Zufallstat ausgegangen wäre.
Zeug_innen sahen flüchtende Personen in der Nähe des Tatorts
Der letzte Zeuge in öffentlicher Sitzung, Klaus Brand, wertete Zeug_innenaussagen nach der Tat in Heilbronn aus. Unmittelbare Augenzeug_innen des Tatgeschehens sind nicht bekannt. Jedoch gaben mehrere Personen an, im direkten Umfeld der Theresienwiese mehrere, fliehende, teils blutverschmierte Personen gesehen zu haben. Die Aussagen widersprechen der These von einer alleinigen Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt. Die unterschiedlichen Angaben der Zeug_innen zu Ablauf und Zeit (beispielsweise zum genauen Typ des Fluchtfahrzeugs) passen jedoch nicht hundertprozentig zusammen. Dennoch gab Brand an, die Zeug_innen grundsätzlich für glaubwürdig zu halten. Zumindest bei einigen Zeug_innen wurde diese Glaubwürdigkeit auch psychologisch bestätigt. Würde man alle Aussagen zusammenaddieren, müssten an der Tat nicht zwei sondern insgesamt sechs Personen beteiligt gewesen sein.
Mit Klaus Brand endete der öffentliche Teil der Sitzung. In nichtöffentlicher Sitzung wurde anschließend mit A.W. eine Mitarbeiterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz gehört, welche für die Betreuung des ehemaligen V-Mannes Thomas Richter alias „Corelli“ nach dessen Enttarnung befasst war.
Der Fall Peggy zunächst kein Thema für den Ausschuss
Nachdem in den vergangen Wochen im Zusammenhang mit der Leiche der 2001 entführten Peggy K. auch DNA des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt entdeckt wurde, werden derzeit in verschiedenen Bundesländern alte, ähnlich gelagerte Fälle noch einmal überprüft. Der Untersuchungsausschuss im Bundestag wird in seine nächste Beratungssitzung die Ermittler_innen aus Thüringen und Bayern einladen, um sich über den aktuellen Ermittlungsstand informieren zu lassen. Zunächst liegt die Arbeit jedoch bei den ermittelnden Polizeibehörden. Sollte sich der Verdacht eines NSU-Bezugs jedoch konkretisieren, werde sich auch der Ausschuss damit befassen, so Clemens Binninger (CDU).
Jede Menge Nachholbedarf
Neue Erkenntnisse zum Mordfall Kiesewetter und zum Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. lieferte die Ausschusssitzung nicht. Vielmehr diente der Tag der Evaluierung der bisherigen Aufarbeitung in Baden-Württemberg. Diese muss als ungenügend gelten. Nach deutlicher Kritik seitens der Ob-Leute bleibt zu hoffen, dass der nun eingesetzte zweite Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag weiter zur Aufklärung beiträgt.
Eine Überarbeitung des Waffenrechts im Zusammenhang mit dem Waffenbesitz in der extremen Rechten ist geboten. Dass Neonazis, Reichsbürger und andere extreme Rechte Waffen nicht nur horten, sondern auch nicht davor zurückschrecken, diese zu benutzen, ist längst bekannt. Ausschussmitglieder, die ihre eigenen Erkenntnisse ernst nehmen, müssen hier im ausstehenden Abschlussbericht deutlich Stellung beziehen.