„Opfer und Überlebende sind die Hauptzeugen des Geschehenen, wir sind keine Statisten.“

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Vor 24 Jahcropped-moelln1-2_300ppi1ren, am 23.11.1992, wurde in Mölln das Haus der Familie Arslan von Neonazis mit Molotov-Cocktails angezündet. Die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yilmaz und die 51-jährige Bahide Arslan starben bei dem rassistischen Brandanschlag. Weitere Familienmitglieder wurden teilweise schwer verletzt. Das Gedenken in Mölln ist umkämpft. Unter dem Motto ‚Reclaim and Remember‘ findet seit 2013 die Möllner Rede im Exil statt. Am 20.11. wird die Möllner Rede im Exil 2016 in Köln stattfinden, mitorganisiert von der Initiative ‚Keupstraße ist überall‘. Dieses Jahr wird die Rede von dem Schriftsteller und Menschenrechtler Doğan Akhanlı gelesen. Caro Keller sprach für NSU-Watch mit Ibrahim Arslan, er ist Überlebender des Brandanschlags.

NSU-Watch: Wie ist die Möllner Rede im Exil entstanden?

Arslan: Die Möllner Rede war ein Bestandteil der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln. 2007, wenn ich mich recht entsinne, hat die Stadt Mölln für die offizielle Gedenkveranstaltung ein Programm ins Leben gerufen, das hieß die Möllner Rede und sie haben den Redner ausgesucht im ersten Jahr. Für das nächste Jahr haben wir gesagt, dass wir gern die Rednerinnen und Redner für die Möllner Rede stellen möchten. Dann hieß es erstmal: ‚Ja ist kein Problem, könnt ihr machen.‘ Dann haben diverse Leute die Möllner Rede gehalten und natürlich waren das antifaschistische, antirassistische Menschen, also Menschen, die sehr viel gegen Rassismus getan haben. 2012 hat Beate Klarsfeld die Möllner Rede gehalten. Dann hat die Stadt Mölln gesagt, wir wollen die Möllner Rede nicht mehr als Bestandteil der offiziellen Gedenkveranstaltungen haben. Zur Begründung haben sie nur gesagt, sie sei ihnen zu politisch, das sei nicht mehr denkbar in einer offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln. Und wir haben gesagt, wir werden das nicht akzeptieren, weil die Möllner Rede auch eine Wertschätzung für unsere Familie ist. Wir erheben für die Betroffenen unsere Stimme und wollen uns nicht mundtot machen lassen. Deswegen haben wir gesagt, wir wollen, dass die Möllner Rede fortgesetzt wird und die Stadt Mölln hat aber grundsätzlich Nein gesagt. Da haben wir uns entschlossen, die Möllner Rede ins Exil zu nehmen, also in andere Städte, die solidarisch mit den Betroffenen sind. So ist die Möllner Rede im Exil entstanden.

NSU-Watch: Wie war vorher die Geschichte des Gedenkens in Mölln?

Arslan: Die Stadt Mölln hat ziemlich am Anfang eine Gedenkveranstaltung organisiert, das war direkt nach dem Brandanschlag, am ersten Jahrestag. Die haben dann zehn Jahre lang eine Gedenkveranstaltung organisiert, ohne uns einzubeziehen in die Organisation. Wir haben uns immer wieder die Frage gestellt, warum unsere Forderungen, unsere Wünsche, wie Straßenumbenennungen, die Möllner Rede oder ein antifaschistisches Konzert in der Gedenkveranstaltung weder thematisiert noch berücksichtigt werden. Es gab einen Organisationstisch, zu dem haben sie uns allerdings nie eingeladen. Wir haben gefragt, ob wir einmal teilnehmen können, das wurde sehr gut aufgenommen. Ich war dann da alleine bei dem Organisationstisch und habe ihnen unsere Forderungen, unsere Wünsche aufgezählt und gefragt, warum das jedes Jahr nicht akzeptiert wird und warum die Möllner Rede nicht mehr Bestandteil der Organisation sein soll. Da haben die einfach gesagt, wir können das demokratisch abstimmen. Das waren 15 Menschen, die die Stadt Mölln vertreten haben und ich war alleine dort. Das war eine ganz komische Demokratie, die ich nicht kenne. Ich habe gesagt, ich werde an so einem demokratischen Tisch nicht mehr sitzen und werde unsere eigene Gedenkveranstaltung organisieren. Die haben wahrscheinlich gedacht, wir können das alleine nicht hin bekommen und haben einfach ihre Gedenkveranstaltungen durchgezogen. Aber wir haben unsere eigene Gedenkveranstaltung gemacht. Auch wenn es skurril klingt, gibt es in Mölln zwei Gedenkveranstaltungen. Eine ist eine inszenierte Gedenkveranstaltung von Institutionen und der Stadt Mölln, die nennt sich die ‚ Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln‘. Unsere ist die offizielle Gedenkveranstaltung der Betroffenen, also der Hauptzeugen des Geschehenen. Es ist immer ein göttliches Bild, der Bürgermeister kommt und legt seinen Kranz nieder vor unserem Haus und lädt uns zu seiner Gedenkveranstaltung ein und wir laden ihn zu unserer Gedenkveranstaltung ein. Die Leute, die da hinkommen, können sich entscheiden, ob sie sich die Gedenkveranstaltung der Hauptzeugen angucken, der Betroffenen oder der Stadt Mölln, die inszeniert ist.

NSU-Watch: Wie ist die Möllner Rede im Exil aufgenommen worden?

Arslan: Sehr positiv. Die Möllner Rede im Exil ist auch eine Reaktion von antifaschistischen, antirassistischen Menschen und auch von ganz normalen solidarischen Menschen gegenüber der Politik in Deutschland, der Gedenkpolitik und auch auf den Alltagsrassismus. Eine Reaktion, dass etwas schief läuft, dass sich etwas verbessern muss. Natürlich sprechen bei der Möllner Rede bewusst ausgewählte Menschen. Dass das Antifaschisten, Antirassisten sind, finden wir etwas ganz Normales, weil dieser Anschlag war ein rassistischer Brandanschlag. Deswegen kann man sich das gar nicht vorstellen, einen Nazi als Möllner Redner zu holen oder einen neutralen Menschen.

NSU-Watch: Wie kam es, dass die Möllner Rede dieses Jahr in Köln stattfindet?

Arslan: Es ist mittlerweile so, dass die Städte uns fragen. Das war so, dass wir am Anfang die Möllner Rede ins Exil genommen haben und Städte angefragt haben. Hamburg, Lüneburg und Bremen haben wir angefragt. Das wurde auch sehr gut aufgenommen, wir haben die Möllner Rede dort gemacht. Und jetzt sind wir soweit, dass Initiativen, die in den Städten arbeiten, uns fragen, ob wir die Möllner Rede dort machen können. Nächstes Jahr haben wir schon eine Anfrage aus Berlin und werden die Möllner Rede 25 Jahre nach dem Brandanschlag in Berlin machen.

NSU-Watch: Wie kam der Kontakt zur Initiative ‚Keupstraße ist überall‘ zustande?

Arslan: Die Initiative ‚Keupstraße ist überall‘ hat sich ja nach der Enttarnung des NSU ziemlich früh gebildet. Ich war auch sofort vor Ort und wollte mir den Ort angucken, wo der Nagelbombenanschlag passiert ist. Wir haben dann eine Veranstaltung zusammen gemacht, den Film ‚Nach dem Brand‘, den Dokumentationsfilm unserer Familie, gezeigt und hinterher eine Veranstaltung gemacht mit Betroffenen der Keupstraße. Wir wollten natürlich dadurch etwas bezwecken und zwar ein Betroffenennetzwerk erschaffen und mit den Betroffenen Erfahrungsaustausch machen. Wir wollten auch die Betroffenen empowern, ihre Geschichten zu erzählen, raus zu gehen, eigene Gedenkveranstaltungen zu organisieren. Das ist am Anfang sehr schwierig, weil die Betroffenen sind sehr zurückhaltend mit ihrer Geschichte. Das kann man auch verstehen, weil nicht jeder erzählt sofort, was geschehen ist. Bei den Holocaust-Überlebenden hat es 50 Jahre gedauert, einige sind gestorben, ohne zu sprechen. Deswegen liegt es an uns Betroffenen, die schon sprechen, die anderen Betroffenen zu motivieren, ihre Geschichten zu erzählen. Das war mein Hauptzweck, dahin zu gehen. Jetzt sind wir mittlerweile eine große Familie, die Initiativen arbeiten zusammen, ein großes Bündnis gegen Rassismus ist entstanden.

NSU-Watch: Hatte das Bekanntwerden des NSU Auswirkungen auf eure Arbeit?

Arslan: Ja definitiv. Als das raus kam, habe ich einen Riesenschock erlitten. Das war für mich so, als ob der Tag von Mölln neu wieder aufgetischt wird. Ich hatte sowieso wenig Vertrauen in diesen Staat und nach dem NSU ist dieses Vertrauen komplett erloschen. Ich als Deutscher habe mich geschämt, so was im Fernsehen zu sehen, dass mein Land dazu beigetragen hat, dass so viele Menschen sterben und auch dass Institutionen wie der Verfassungsschutz mit in der Organisation drin waren. Das hat mich zutiefst berührt und ich war total empört über das Ganze und war sofort solidarisch mit den Betroffenen. Ich habe gleich einen Brief geschrieben an alle Betroffenen des NSU. Um zu zeigen, dass unsere Familie solidarisch ist und dass wir so schnell wie möglich Hilfe leisten wollen und den Erfahrungsaustausch machen wollen. Das hat das Bekanntwerden des NSU bei mir aufgeweckt, das war genau der Zeitpunkt, an dem ich politisiert wurde.

NSU-Watch: Wie hat sich das Betroffenennetzwerk entwickelt?

Arslan: Mein Bedürfnis war immer etwas Nicht-staatliches zu organisieren, also keine staatliche Beratungsstelle beispielsweise. Sondern eine eigeninitiativ ergriffene Organisation, die den Betroffenen gehört. Ich habe es kaum geglaubt, dass so etwas passiert, aber tatsächlich ist es so, immer wenn ich Betroffene treffe, merke ich, dass wir das gleiche Bedürfnis haben. Wir haben das Bedürfnis, uns zu vernetzen, wir haben das Bedürfnis, Erfahrungsaustausch zu machen, wir haben das Bedürfnis zu sprechen, unsere Geschichten zu erzählen. Dadurch bekomme ich die Betroffenen auch in ein Boot und wir sind zusammen und sind zusammen stark und versuchen uns gegenseitig zu empowern und das klappt sehr gut. Das wichtigste in dem ganzen Kontext ist, dass keiner denken muss, dass wir nichts sind in diesen Geschehnissen, in diesen Gedenkveranstaltungen. Opfer und Überlebende sind die Hauptzeugen des Geschehenen, wir sind keine Statisten. Das muss immer und immer wieder erwähnt werden, das ist ganz wichtig für mich.

Weitere Informationen zur Möllner Rede im Exil sind hier zu finden.

Initiative Keupstraße ist überall.