von Özge Pınar Sarp
Meine allererste Begegnung
Istanbul, April 2013.
Kurz vor dem Prozessbeginn gegen die rechtsextreme Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU): Elif Kubaşık, die Witwe von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 in Dortmund ermordet wurde, ihr Anwalt Carsten Ilius und der Journalist und Buchautor Maik Baumgärtner [1] fliegen in die Türkei, um die Öffentlichkeit auf die schrecklichen Ereignisse aufmerksam zu machen und das Interesse an dem bald beginnenden Strafverfahren zu wecken. Ich traf sie im Flughafen von Istanbul. Das war meine allererste Begegnung mit Frau Kubaşık. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte: Mein Beileid mitteilen? Welches Wort kann da ausreichen? Oder sollte ich darüber gar nicht reden? Vielleicht erst einmal schweigen und über praktische Dinge, etwa über Ankara oder das Hotel reden? Oder sollte ich abwarten, bis sie mich zum Fragen auffordert?
Ich begleitete sie alle drei und wir flogen zusammen zur Veranstaltung nach Ankara, wo ich früher studiert hatte. Gerade vor zweieinhalb Jahren hatte ich Ankara verlassen, um in Berlin zu promovieren. Jetzt war ich wieder in meiner Uni-Stadt, aber diesmal war alles anders.
Zuerst berichteten Rechtsanwalt Ilius und ich den versammelten Studenten der Universität Ankara vom weit verbreiteten Rassismus in Deutschland.
Am selben Abend fand die Veranstaltung unter dem Titel „Neonazistische Morde und tiefer Staat in Deutschland“ an der dortigen Mülkiyeliler Birliği statt. [2] Der Politikwissenschaftler Tanıl Bora moderierte und machte darauf aufmerksam, dass es Verbindungen zwischen rechtsextremen Gruppen und staatlichen Stellen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei gäbe. Sowohl der Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink in der Türkei wie auch die Verbrechen des NSU machen deutlich, dass es Verstrickungen des türkischen bzw. des deutschen Staates mit diesen Morden gegeben haben muss. Hätten ein Rechtsstaat, ein Inland-Geheimdienst (Verfassungsschutz) mit seinen Beamten und Vertrauens-Leuten im direkten Umfeld des NSU nicht diese Mord- und Anschlagsserie verhindern oder stoppen können?! Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Sie könnten mit ihren Familien und ihren Freunden noch leben.
Trotz der belastenden Erkenntnis, dass Mehmet Kubaşık noch leben könnte, wagte ich es jetzt, Elif Kubaşık Fragen zu stellen. Ich habe gefragt: „Wie geht ihr jetzt damit um? Habt ihr noch ein Gefühl von Sicherheit? Habt ihr euch Gedanken gemacht, Deutschland zu verlassen und in die Türkei zurückzukehren?“ Ich wusste, dass die Antworten nicht leicht waren. Wie konnte man damit umgehen, wenn ein Lebensgefährte, ein dreifacher Vater, von Nazis umgebracht wurde? Wie könnte man das Land verlassen, in dem man Jahrzehnte gelebt und sein Leben aufgebaut hat? Und wie könnte man in die Türkei zurückkehren, wo man in den 1990er Jahren als Alevit und Kurde verfolgt und unterdrückt wurde? Frau Kubaşık hatte ihre klare Antwort: Sie will endlich Aufklärung, sie fordert, dass alle Beschuldigten verurteilt werden. Sie ist wütend und sie will selbstverständlich weiterhin in Deutschland bleiben. Sie lebt mit ihren drei Kindern immer noch in Dortmund, ganz in der Nähe von dem Kiosk, in dem ihr Mann erschossen wurde. Dennoch hat sie Angst. Sie hat Angst um ihre Kinder; denn Nazis und Rechte marschieren auf der Straße und rechter Terror und rechte Gewalt kosten Menschenleben. Davor hat sie große Angst. Noch stärker sind die Trauer und Müdigkeit vom Erzählen und Erinnern und wieder Erinnern und Erzählen.
Ihre Erinnerungen, ihre Beschreibungen damals in Ankara haben mich so sehr getroffen, dass ich begann, über mein weiteres Leben in Berlin neu nachzudenken. Wie sollte ich mich zu diesen Bedrohungen stellen? Wie sollte ich mich engagieren? Oder wäre es nicht sicherer, mich zu ducken?
Was haben die Verbrechen des NSU mit dem Geschehen in Solingen und Mölln zu tun?!
Der NSU-Prozess begann am 6. Mai 2013 in München, also einen Monat nach meiner Begegnung mit Elif Kubaşık. Das mediale und öffentliche Interesse an dem Prozess war sehr groß. Die Opferfamilien und Betroffenen waren mit ihren Anwälten als Nebenkläger vertreten. Im Jahr 2000 war Enver Şimşek ermordet worden. Erst jetzt, dreizehn Jahre später, durfte Semiya Şimşek, seine Tochter, in einem Gerichtssaal für ihren Vater Aufklärung und für ihre verlorenen Jahre Gerechtigkeit fordern; so wie viele andere Familienangehörigen, die für ihre verstorbenen Ehemänner, Väter, Brüder, Söhne und Freunde nach München gekommen waren.
Zu diesem Zeitpunkt verfolgte ich die aktuellen Entwicklungen in dem Prozess nicht intensiv. Die deutschsprachige Presse berichtete darüber. Es schien mir so, als ob alle sehr erschrocken waren. Die gängigen Fragen lauteten: Wie kann so etwas in Deutschland passieren, in einem demokratischen Rechtsstaat?
Das war schon 2011 so, also zwei Jahre zuvor: Erst nach dem öffentlichen Bekanntwerden der NSU-Verbrechen bildeten sich vermehrt Initiativen und Bündnisse gegen Rassismus und fanden Demonstrationen für die Aufklärung der Morde statt. Hat der Rassismus in diesem Land nach der Zeit des deutschen Faschismus keine Spuren hinterlassen? In den vergangenen Jahrzehnten hat es wiederkehrend tödliche Gewalt von Nazis gegeben. In den 1980er und 90er Jahren wurden in diesem Land, in Deutschland, Menschen von Nazis ermordet, totgeschlagen, verbrannt. „Kanacken raus“, „Türken raus“, „Ausländer raus!“ wurde gerufen. Häuser, Straßenbahnhaltestellen, Moscheen wurden mit Hakenkreuzen beschmiert. Hass und Ausgrenzung wurden verbreitet. Die Parole lautete: „Deutschland den Deutschen!“. Das Asylgesetz wurde verschärft: Zunehmend wurde mit Abschiebung gedroht. Die Pogrome in Rostock und Hoyerswerda waren Höhepunkt in dieser Entwicklung.
Hatte man ursprünglich die Mordserie und Anschläge ab 2000 noch als einen internen türkischen Bandenkrieg interpretiert, in den man sich von deutscher staatlicher Seite erst gar nicht einmischen wollte, so wurden die Verbrechen jetzt als böses Rowdytum abgetan!
Dass es sich aber um rassistische Taten handelte, wollte man nicht wahrhaben. Die Täter wurden nicht ernst genommen. Die Taten wurden verharmlost.
Am 6. November 2013, dem 52. Verhandlungstag des NSU-Prozesses, fragte Rechtsanwalt Erdal den als Zeugen geladenen leitenden Ermittler der Mordkommission Dortmund, ob die Auswahl und Zahl der Opfer kein Anlass gewesen sei, in der Naziszene zu ermitteln. Der Ermittler: „Das ist wohl richtig.“ Rechtsanwalt Erdals Frage, ob ihm die Brandanschläge in Mölln und Solingen bekannt seien, beanstandet der Verteidiger des Angeklagten Wohlleben, Rechtsanwalt Klemke. Erdal ändert seine Frage und will von dem Ermittler wissen, ob ihm bekannt sei, dass in Deutschland Neonazis Anschläge auf Ausländer verüben. Das sei ihm bekannt, man rede hier aber von unterschiedlichen Taten. [3]
Offenkundig hatte die Justiz den eindeutig politischen, rechtsextremen Hintergrund für all diese verbrecherischen Taten ausgeblendet.
Im Gedächtnis der türkeistämmigen Community haben die schrecklichen Ereignisse seit den 1980er Jahren allerdings den Erfahrungshintergrund abgegeben, unter dem dann auch die NSU-Morde verstanden wurden. In den 1980er und 90er Jahren reagierte die Community stark auf rassistische Morde. Man organisierte sich, es gab Demonstrationen. Anfang Januar 1986, kurz nach der Ermordung von Ramazan Avcı in Hamburg, demonstrierten 15.000 Menschen auf der Straße und zeigten ihre Empörung. Innerhalb von kurzer Zeit waren in dieser Stadt zwei türkeistämmige Migranten, Mehmet Kaymakçı und Ramazan Avcı, von „Skinheads“ brutal totgeschlagen worden. Der tödliche Rassismus und die fehlende Reaktion in den Medien, in der Gesellschaft und seitens der politisch Verantwortlichen empörte die türkeistämmige Community und brachte sie auf die Straße. Die Demonstranten zeigten in aller Öffentlichkeit ihre Trauer und ihre Wut.
Es war nicht nur ein Protest gegen die Bedrohungen, sondern es wurden auch Forderungen gestellt nach gleichen Rechten, nach Bleiberecht, Wahlrecht und dem Recht auf eine doppelte Staatsbürgerschaft:
„Yerleşme Hakkı İstiyoruz / Wir wollen Bleiberecht“, „Kahrolsun Irkçı ve Yabancı Düşmanlığı / „Nieder mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, „Haklıyız, Güçlüyüz/Wir sind im Recht, wir sind stark“, „Seçim Hakkı İstiyoruz / Wir fordern das Wahlrecht“, „Ramazan Avcı’yı Anıyoruz / Wir gedenken Ramazan Avcı“ , „Eşit Haklar İstiyoruz / Wir wollen gleiche Rechte“. [4] Ganz entscheidend war, dass sich die einzelnen Forderungen nicht nur in den Auseinandersetzungen in der türkeistämmigen Community herausbildeten, sondern dass jetzt auch eine solidarische politische Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkeistämmigen Antifaschist_innen entstand mit allen ihren Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten.
Aber: Sehr bald war diese entschlossene Zusammenarbeit wieder eingeschlafen.
Erst anlässlich der NSU-Verbrechen lebten diese antifaschistischen und antirassistischen Initiativen wieder auf. Der Rechtsanwalt Ünal Zeran hatte 1986 als 14-Jähriger an den Hamburger Demonstrationen teilgenommen. Jetzt war er Mitbegründer der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı. In einem Interview antwortet er auf die Frage „Was hat die Ermordung von Ramazan Avcı 1985 für euch bedeutet?“ das Folgende: „Ganz konkret sah ich eine Bedrohung und ich weiß, dass alle sich gegenseitig warnten, an bestimmte Orte zu gehen oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. (…) Die Ermordung von Ramazan Avcı war aus meiner Sicht ein Wendepunkt in der Migrationsgeschichte. (…) Deutschland wurde bis dahin stets als ein sicherer Ort wahrgenommen, wo Menschenrechte und staatlicher Schutz gewährt wurden.“ [5] Jetzt entstand auch wieder eine Zusammenarbeit mit den migrantischen Communities.
Meine Prozessbeobachtung
In Berlin existierte seit 20 Jahren das antifaschistische Pressearchiv. Anlässlich des NSU-Prozesses wurde unter Beteiligung dieses Archivs ein bundesweites Bündnis unter dem Motto „NSU-Watch: Aufklären und Einmischen“ geschlossen. Unter anderem galt es, die Informationen zum NSU-Strafprozess zu dokumentieren und der türkischsprachigen Community zugänglich zu machen. Letztere Aufgabe sollte ich übernehmen. Auch sollte ich die migrantische Perspektive in die deutsche antirassistische Arbeit einbringen, so nahm ich es wahr. Zu diesem Zeitpunkt hatte auch ich begonnen, mich intensiv mit den NSU-Verbrechen und seinen Folgen für die Betroffenen sowie die betroffene Community zu beschäftigen.
Es erstaunte mich, dass ich die erste Migrantin im Archiv war und auch, dass ich als einzige diese Stimme repräsentieren sollte.
In den vergangenen drei Jahren habe ich nicht nur sehr viele Protokolle [6] des NSU-Prozesses gelesen, sondern auch unzählige Meldungen aus dem NSU-Prozess sowie zu dem Geschehen außerhalb des Gerichtssaals auf Türkisch in die sozialen Medien gebracht. Ich traf in vielen Städten antirassistische Gruppen und Initiativen. Bemerkenswert war: Auch hier gab es ganz wenige türkeistämmige Aktive. Ich war nicht die einzige, aber eine der wenigen Migranten in der antirassistischen Arbeit. Es überraschte mich nicht mehr, aber ich war frustriert.
Inzwischen hat dieser Prozess 290 Verhandlungstage gedauert. Eine möglichst umfassende Aufklärung hat es nicht gegeben. Während dieses endlosen Prozesses waren fast täglich neue Akten aufgetaucht; die Medien veröffentlichten immer mehr Details, die im Normalfall in einem demokratischen Rechtsstaat die Menschen erschüttern und eine Gegenreaktion der Gesellschaft bewirken sollten.
Akten sind geschreddert worden. Akten wurden zurückgehalten. Zeugen sind gestorben. Aus einem großen Terror- und Unterstützungsnetz sind gerade mal fünf mutmaßliche Terroristen oder Unterstützer angeklagt worden. Und nur zwei von ihnen sind in Untersuchungshaft. Hunderte von Zeugen wurden verhört: Einer schweigt, einer verweigert die Aussage, einer erinnert sich nicht mehr, einer lügt. Beweisanträge, von den Anwälten der Opferfamilien gestellt, werden abgelehnt, weil angeblich nicht schlüssig. Unklar bleibt, welche Rolle der Verfassungsschutz gespielt hat.
Der bereits 2013 veröffentlichte Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschusses des Bundestages zum NSU-Verbrechen sagt, es habe „keine Anhaltspunkte einer Zusammenarbeit zwischen Behörden und NSU“ gegeben und es sei „nicht absichtlich weggeschaut“ worden. Auf der anderen Seite erkennt der Bericht an, dass die Morde hätten verhindert werden können! Es ist selbstverständlich eine schmerzhafte Erkenntnis vor allem für die Angehörigen der Mordopfer, dass sich die zuständigen staatlichen Institutionen bedeckt halten, dass sie angeblich in keiner Weise verantwortlich sind. Das bedeutet aber auch, dass damit für uns alle die Gefahr rassistischer und neonazistischer Gewalt weiter besteht. Es kann wieder passieren! [7]
Heute beschäftigen sich viele Menschen kontinuierlich mit den NSU-Verbrechen. Sie verfolgen aufmerksam den NSU-Prozess. Es ist viel die Rede von den Lehren aus dem Versagen, von dem Versagen des Staates, der Politik, der Medien. Aber es fehlt ein gesamtgesellschaftlicher Aufschrei in der Debatte um den Rassismus. Das Eingestehen des Versagens allein kann die Schmerzen der Hinterbliebenen und Betroffenen der Bombenanschläge nicht abmildern. Wie sollen die tiefen Wunden geheilt werden?
Von staatlicher Seite kommen Entschuldigungen. Entschuldigung wegen der Morde. Entschuldigung wegen der Verdächtigungen. Entschuldigung wegen des Versagens. Entschuldigung wegen der mehrfachen Traumatisierung.
Danke für eure Entschuldigung, für unsere Rehabilitierung. Uns wurde die schonungslose Aufklärung versprochen. Wir wollen eine Aufklärung, die diesen Namen verdient. Und wir wollen Gerechtigkeit. Wie bekämpft ihr Rassismus und verhindert mögliche weitere Morde? Bis heute wird hierzu geschwiegen.
Kein Thema. Bin ich hier zu Hause?
„Bin ich zu Hause in Deutschland?“ [8]
Wenn ich mich mit türkeistämmigen Migranten unterhalte und nach ihren Gedanken zum NSU-Verbrechen frage, bin ich häufig mit einer Darstellung konfrontiert, die sich auf die Gewalt Anfang der 1990er Jahre bezieht: „Wir haben Solingen und Mölln erlebt; wir haben brennende Häuser und Flüchtlingsheime gesehen; wir haben viel Rassismus erlebt, auf der Straße, am Arbeitsplatz; ebenso unsere Kinder in den Schulen.“ Der Brandanschlag von Solingen symbolisiert den größten Schmerz und bleibt im kollektiven Gedächtnis der türkeistämmigen Migranten. Jeder denkt an Solingen, wenn es in unseren Häusern wieder einmal brennt. Wenn seither bei Bränden in von Migranten und Flüchtlingen bewohnten Häusern die Ermittler bei der Untersuchung von Brandursachen ein rassistisches Tatmotiv nicht erkennen können, und die Fälle unaufgeklärt bleiben, beunruhigt das die Community aufgrund dieser schmerzhaften Vergangenheit.
Diese Morde, einschließlich derer des NSU, sollten einschüchtern, Angst verbreiten und letztendlich aus Deutschland vertreiben.
2012 gab es in Berlin eine zentrale Gedenkveranstaltung. Hier sprach Semiya Şimşek, deren Vater im September 2000 heimtückisch ermordet worden war: „In diesem Land geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt, hatte ich mir über Integration noch nie Gedanken gemacht. Heute stehe ich hier, trauere nicht nur um meinen Vater, ich quäle mich jetzt auch mit der Frage, bin ich in Deutschland zu Hause? Ja klar, bin ich das.“[9]
Klar, das Gefühl von „zu Hause“ wird verschieden wahrgenommen. Deshalb reagiert man auch unterschiedlich, wenn dieses sichere Gefühl plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist. Hinterbliebene, die ihre Angehörigen durch Rassismus verloren haben, gehen damit unterschiedlich um. Manche verlassen ihr Zuhause, wechseln den Wohnort und finden ein neues Zuhause, wie Semiya Şimşek. Sie ist inzwischen in die Türkei zurückgekehrt, denn dort, so sagt sie, sei sie zumindest willkommen. In Deutschland konnte sie sich nicht mehr wieder einleben. Immer wieder hoffte sie auf eine Aufklärung durch die Justiz. Sie wartete und es geschah nichts. Stattdessen brennen Flüchtlingsheime, die rechte AfD wirkt bedrohlich. [10]
Andere sind zwar geblieben, aber sie haben sich völlig zurückgezogen. So Leyla Kellecioğlu. Sie verlor ihre Mutter Fatma, ihren Vater Osman und ihren Bruder Mehmet Can sowie ihren Nachbarn Jürgen Hübener bei einem rassistischen Brandanschlag in Schwandorf 1988. „Ich habe keine Angst. Ich habe das Schlimmste schon erlebt.“ beschreibt sie ihr Gefühl, als der zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilte Nazi-Täter entlassen wurde. Ihre Wunden seien verheilt, sagt sie, sie hätte das geschafft. Sie wohnt nicht mehr in dem früheren Haus, aber sie lebt immer noch in der selben Stadt und sagt: „Wir sind glücklich hier.“ [11]
Wieder andere, so etwa Gülistan Avcı, waren nicht imstande, am Ort des Verbrechens auch nur vorbeizukommen. Frau Avcı fühlte sich sehr allein gelassen und zwang sich mehr als zwei Jahrzehnte lang zu weiträumigen Umwegen. Erst als 27 Jahre nach dem Mord an ihrem Mann der Platz vor dem S-Bahnhof Landwehr nach Ramazan Avcı umbenannt wurde, konnte sie an dieser Stelle trauern und gedenken. [12]
Gamze Kubaşık sagte 2012 in einem Interview auf die Frage, wie sie jetzt mit dem Eingeständnis, dass ihr Vater von Faschisten ermordet worden ist, umgehen könne: „Wir wussten nicht warum. Jetzt wissen wir warum, und das tut natürlich noch mehr weh.“ [13] So beschreibt sie, wie es ihr mit einer solchen „Wahrheit“ geht. Bis heute grübelt sie und fragt sich, warum genau ihr Vater sterben musste. Der NSU-Prozessverlauf lässt ihr kaum noch Hoffnung, eine Wahrheit, die diesen Namen verdient, zu erfahren. Auch das tut weh.
Aber es gibt bei den Hinterbliebenen auch Hoffnungen in ihrem Leben in Deutschland. Solche Hoffnungen hat heute Mustafa Turgut, der jüngere Bruder des am 25. Februar 2004 in Rostock vom NSU ermordeten Mehmet Turgut: „Für meinen Bruder Mehmet war Deutschland das Land der Hoffnung. Heute kann ich ihn verstehen. Jetzt würde ich gern den Traum, den Mehmet hatte, erfüllen und meine Eltern unterstützen. Das ist wie ein Vermächtnis. Nach vielen Anstrengungen habe ich nun endlich auch für die Zeit meines Aufenthaltes hier in Deutschland eine Arbeitserlaubnis bekommen und bin nicht mehr auf die Unterstützung von anderen angewiesen. Ich arbeite in einem Imbiss – ganz so wie Memo. (…) Jeden Abend, wenn ich den Kopf auf mein Kissen lege, bete ich für Memo. Aber wenn ich heute in die Zukunft schaue, glaube ich, dass ich meine Wünsche erfüllen kann, vielleicht in zwei oder drei Jahren. Ja, ich sehe eine sonnige Zukunft vor mir.“ [14]
Heute frage ich mich selbst, wie es mir mit dieser Wirklichkeit und den Zukunftsaussichten geht; wenn ich die Erfahrungen der Hinterbliebenen der Attentate bedenke. Ich fühle mich ihren unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Zuhause in Deutschland nahe. Ich trage sie auch in mir. Bis heute sage ich mir: „Ich will mit meinem Kind hier bleiben.“
Von den unzähligen Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Deutschland, deren Namen wir kennen (allein 184 Opfer seit 1990), sind viele auch aus der türkeistämmigen Community. In Gedenken an alle Menschen, die seit den 1980er Jahren rassistischer und rechter Gewalt zum Opfer gefallen sind:
Seydi Battal Koparan, 45 Jahre, 31. Dezember 1981, Ludwigsburg
Tevfik Gürel, 26 Jahre, Juni 1982, Hamburg
Mehmet Kaymakçı, 29 Jahre. 24. Juli 1985, Hamburg
Ramazan Avcı, 26 Jahre, 24. Dezember 1985, Hamburg
Osman Can, 50 Jahre, 17. Dezember 1988, Schwandorf. Brandanschlag
Fatma Can, 44 Jahre, 17. Dezember 1988, Schwandorf. Brandanschlag
Mehmet Can, 12 Jahre, 17. Dezember 1988, Schwandorf. Brandanschlag
Ufuk Şahin, 24 Jahre, 12. Mai 1989, Berlin
Nihad Yusufoğlu, 17 Jahre, 28. Dezember 1990, Hachenburg
Mete Ekşi, 19 Jahre, 27. Oktober 1991, Berlin
Bahide Arslan, 51 Jahre, 23. November 1992, Mölln. Brandanschlag
Ayşe Yılmaz, 14 Jahre, 23. November 1992, Mölln. Brandanschlag
Yeliz Arslan, 10 Jahre, 23. November 1992, Mölln. Brandanschlag
Şahin Çalışır, 20 Jahre, 27. Dezember 1992, Nordhein-Westfalen.
Mustafa Demiral, 56 Jahre, 9. März 1993, Mülheim
Abdi Atalan, 41 Jahre, 17. Juni 1993, Dülmen [Aufgrund eines Leserhinweises haben wir uns nach Absprache mit der Autorin entschlossen, den Todesfall von Abdi Atalan aus Dülmen aus dieser Liste zu nehmen. Die Ermittlungen und Verfahren gegen die Täter haben einen anfangs vermuteten rechten Hintergrund der Tat widerlegt. Für mehr Informationen: http://www.stadtarchiv-duelmen.de/2739.html
Die Redaktion von NSU-Watch]
Gürsün İnce, 27 Jahre, 29. Mai 1993, Solingen. Brandanschlag
Hatice Genç, 18 Jahre, 29. Mai 1993, Solingen. Brandanschlag
Hülya Genç, 9 Jahre, 29. Mai 1993, Solingen. Brandanschlag
Saime Genç, 4 Jahre, 29. Mai 1993, Solingen. Brandanschlag
Gülüstan Öztürk, 12 Jahre, 29. Mai 1993, Solingen. Brandanschlag
Ali Bayram, 50 Jahre, 18. Februar 1994, Darmstadt
Ahmet Şarlak, 19 Jahre, 9. August 2002, Sulzbach
Opfer des NSU-Terrors: vgl. Aufzählung im Vorwort
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Literatur
„Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre“, Dostluk Sinemasi (Hrsg.), Berlin 2014.
Solingen Dosyası, Metin Gür / Alaverdi Turhan, Patmos Verlag, Düsseldorf, 1996.
– Semiya Şimşek mit Peter Schwarz: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater, Rowohlt Berlin Verlag, 2013.
– Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, Herder Verlag Freiburg im Breisgau, 2014.
– Hamburg damals: Angriff auf Ramazan Avci, Hamburg Journal, 22.11.2015
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Hamburg-damals-Angriff-auf-Ramazan-Avci,hamj44542.html
Film
„Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin – Die Opfer der Rechtsterroristen“, Ein Film von Matthias Deiß, Eva Müller und Anne Kathrin Thüringer, ARD 1/rbb, 2012.
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Fußnoten:
[1] Das Zwickauer Terror-Trio: Ereignisse, Szene, Hintergründe, Maik Baumgärtner u. Marcus Böttcher (Hg.), Berlin 2012. Drehbuchautor mit Andreas Maus vom Dokumentarfilm „Der Kuaför aus der Keupstraße“
[2] http://cerideimulkiye.com/?p=30929
[3] https://www.nsu-watch.info/2013/11/protokoll-52-verhandlungstag-6-november-2013/
[4] Hamburg damals: Angriff auf Ramazan Avci, Hamburg Journal, 22.11.2015 https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Hamburg-damals-Angriff-auf-Ramazan-Avci,hamj44542.html
[5] “Die Ermordung von Ramazan Avci war ein Wendepunkt in der Migrationsgeschichte”. Interview mit Perihan Zeran und Ünal Zeran von der “Initiative zum Gedenken an Ramazan Avci” in ZAG Nr. 58/2011. http://www.zag-berlin.de/antirassismus/archiv/58ramazanavci.html
[6] Mitarbeiter_innen von NSU-Watch sind an jedem Prozesstag in München vor Ort und protokollieren detailliert alles, was im Gerichtssaal passiert und verhandelt wird. https://www.nsu-watch.info/
[7] Rede von NSU-Watch vor dem Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhaus, September 2014. https://www.nsu-watch.info/2014/09/wenn-die-gesamtanalyse-lueckenhaft-ist-helfen-auch-reformen-nicht/
[8] Semiya Şimşek stellte diese Frage bei der Gedenkveranstaltung für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU in Berlin 2012, http://www.sueddeutsche.de/politik/die-reden-der-hinterbliebenen-im-wortlaut-jeder-muss-sich-frei-entfalten-koennen-1.1292165 Reden der Hinterbliebenen im Wortlaut „Jeder muss sich frei entfalten können“, 23.2.2012.
[9] ebd.
[10] http://www.welt.de/vermischtes/article153964459/In-der-Tuerkei-sind-wir-wenigstens-willkommen.html „In der Türkei sind wir wenigstens willkommen“, 4.4.2016.
[11] http://www.migazin.de/2013/12/17/hoert-der-hass-nie-auf/ 25 Jahre Schwandorf – „Hört der Hass nie auf?“, 17.12.2013.
[12] https://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=na&dig=2012%2F12%2F19%2Fa0025&cHash=12318e759b7e708688649e99988dd539 „Es hat mich krank gemacht“, 19.12.2012.
[13] Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin – Die Opfer der Rechtsterroristen, veröffentlicht am 11.09.2012.
[14] Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, Herder Verlag Freiburg im Breisgau, 2014, S. 81
Zuerst veröffentlicht in:
Bozay, Kemal / Aslan, Bahar / Mangitay, Orhan / Özfirat, Funda (Hg.):
Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus
Neue Kleine Bibliothek 228, 293 Seiten
ISBN 978-3-89438-614-6
PapyRossa Verlag