Den Ermordeten eine Stimme – Rezension von „Urteile“

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von Caro Keller (NSU-Watch)

Fünf Jahre nach der Selbstaufdeckung des NSU gab es einige Versuche, die rassistische Mordserie kulturell aufzuarbeiten. Darunter fallen Filme, Romane und eben Theaterstücke. Ihnen ist gemeinsam: Wirklich überzeugen können eigentlich nur diejenigen, in denen die Stimme der Betroffenen, der Ermordeten und ihrer Angehörigen laut wird. In denen sich nicht in die Welt der Neonazis eingefühlt oder sich in Phantasien über das Tun des Verfassungsschutzes ergangen wird. In denen über Neonazis und Behörden gelacht wird, wo das Lachen vergehen sollte. Daran gemessen gehört das Theaterstück „Urteile“ zu den wegweisenden kulturellen Erzeugnissen der letzten Jahre.

Vom Konkreten auf das Allgemeine zeigen

Das Stück entstand durch zahlreiche Gespräche mit Verwandten, Freund_innen und Arbeitskolleg_innen der Ermordeten. Ergreifend und vielschichtig gibt „Urteile“ so Angehörigen der in München durch den NSU Ermordeten Habil Kılıç und Theodoros Boulgarides einen Ort. Gleichzeitig spielen aber Journalist_innen, Rechtsanwält_innen, Politiker_innen und die Polizei ihre Rolle in diesem Stück. Durch diese Zusammensetzung gelingt es dem Theaterstück zugleich, sich einfühlsam den konkreten Folgen der Morde in München zu nähern, und auf die allgemeinen rassistischen Strukturen in Deutschland zu verweisen. Zum einen lässt es sich so als Aussage über den gesamten NSU-Komplex lesen, zum Anderen erreicht es auch das selbstgesteckte Ziel, die strukturelle Gewalt auf der Bühne zu zeigen. Der gesamtgesellschaftliche Rassismus, den der NSU zum Hintergrund hat, wird hier deutlich: Durch die Erfahrungen, die Angehörige, Kolleg_innen der Ermordeten mit alltäglichem Rassismus machen und durch die Aussagen der Journalist_innen und der Polizei.

Über das Theater hinaus

Der Text des Theaterstücks „Urteile“ wurde nun in einem Buch mit begleiteten Texten festgehalten. Obwohl dies stets etwas anderes ist als ein Stück auf der Bühne zu sehen, gelingt es durch Gestaltung des Buches und eben den Text selbst, die Eindrücklichkeit zu transportieren. Doch dieser Band belässt es nicht bei der Veröffentlichung des Stückes selbst, er setzt sich auch eine Kontextualisierung als Ziel. So sind dem Theatertext elf weitere Texte zu Seite gestellt, die „Strukturen und Mechanismen zeigen sollen, die Ausübung und Nichtaufdeckung ermöglicht haben.“ Die Auswahl fiel größtenteils auf Texte, die im akadamisch-wissenschaftlichen Duktus verfasst sind, damit wird die Hürde der Lesbarkeit, im Gegensatz zu der des Stücks selbst, erhöht. Die Deutlichkeit des Theatertextes lassen sie zum Teil missen.

„Ich bin hier nur Gast. Engagiert für die Ausländerrolle.“

Für die Theaterwelt selbst kontextualisiert Azade Sharifi in ihrem Text „Institutioneller und struktureller Rassismus im Theater“ das Stück „Urteile“. Sie fragt nach der Repräsentation von Theatermacher_innen of Color. Und zeigt antwortend, wie diese immer wieder ausgeschlossen werden, ihnen ihre Kompetenzen abgesprochen werden. Die Beispiele machen greifbar, dass es sich hier um strukturellen Rassismus handelt. Dies lässt sofort an die Inszenierung von „Schmerzliche Heimat“ denken, die nur mit weißdeutschen Schauspieler_innen besetzt wurde, denn es gab wohl keine Schauspieler_innen of Color im Ensemble. Als ob dies als Begründung ausreichen würde. Das Stück „Urteile“ reflektiert dieses Verhältnis selbst, wenn eine Darsteller_in aus ihrer Rolle heraustritt und sagt: „Ich bin hier nur Gast. Engagiert für die Ausländerrolle. Ich bin fast schon wieder weg.“
Die Texte machen auch weitere Zusammenhänge, in denen der NSU-Komplex steht, sichtbar. So wird die Geschichte des rechten Terrors, der in der breiten Diskussion als geschichtslos erscheint, in dem Aufsatz „Terror mit Ansage“ beleuchtet. Gerade das Interview mit einer Betroffenenberatung hilft bei Einordnung und Skandalisierung des NSU und des Rassismus. Hier wird die Kontinuität der rassistischen Mobilisierung aufgezeigt, die menschenverachtende Praxis benannt, dass Opfer rassistischer Gewalt schneller abgeschoben werden. Mit Blick auf (potentielle) Täter_innen wird hier deutlich, dass es schwerwiegende Folgen hat, wenn diese nicht (juristisch) belangt werden.

Vorgenommen haben sich die Herausgeber_innen nicht weniger, als dass mit der „Veröffentlichung sich hoffentlich ein sehr wichtiger Teil jüngster Zeitgeschichte der Bundesrepublik in das kollektive Gedächtnis einschreibt.“ Dies ist im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex ein großes Anliegen, da sich immer wieder zeigt, dass es unter anderem am gesamtgesellschaftlichen Rassismus scheitert, wegen dem der NSU-Komplex nicht einmal annähernd entsprechend wahrgenommen wird. Jedoch ist durch das Herausholen des Textes aus dem Theater sicherlich das Erreichen einer breiteren Öffentlichkeit möglich. Auch Menschen, die das Stück in seiner ursprünglichen Form gesehen haben, können es hier noch einmal nacherleben.

Tunay Önder, Christine Umpfenbach, Azar Mortazavi (Hg.)
URTEILE – Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU. Mit Texten über alltäglichen und strukturellen Rassismus.
ISBN 978-3-89771-217-1
Unrast Verlag

Der Text aus dem Buch, „Institutioneller und struktureller Rassismus im Theater“ von Azadeh Sharifi, ist hier zu finden.