Von Bafta Sarbo
Es ist der 329ste Prozesstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München. Ich betrete das Gerichtsgebäude und gehe zur Sicherheitkontrolle. Das Prozedere kennt man ja vom Flughafen. Also gehe ich routiniert durch den Metalldetektor und werde für die Leibesvisitation zur Seite gebeten. Die Polizeibeamtin tastet mich sehr sorgfältig ab und fasst mir mehrmals an die Cornrows und drückt zu. Vielleicht vermutet sie darin ein eingeflochtenes Messer, vielleicht nutzt sie nur die Gelegenheit, um mir in die Haare zu fassen. Wir werden es nie erfahren.
Ich werde bei der Taschenabgabe gefragt, was ich denn mitnehmen wolle. Ich sage, ich wolle meine Brille, einen Stift und ein Heft zum Schreiben mitnehmen. Mir wurde vorher gesagt, dass dies zwar erlaubt sei, aber manchmal gebe es wohl junge PolizistInnen, die das aus vorauseilendem Pflichteifer untersagten. Mein Schreibheft wird durchsucht und unglücklicherweise habe ich darin einen Stapel „Black Lives Matter – Polizeigewalt stoppen“-Sticker, die mir jemand in die Hand gedrückt hatte. Ich hoffe, dass sie nicht beleidigt ist und das zum Anlass nimmt, mir zu sagen, ich dürfe meine Sachen nicht mit hoch nehmen. Die Polizeibeamtin starrt die Sticker nur sehr lange ausdruckslos an und sagt dann, das sei ok.
Die Publikumsreihen sind relativ leer und das wird an diesem Prozesstag auch so bleiben. Unter den ZuschauerInnen sitzt ein Mann, der, wie es heißt, in Zschäpe verliebt sei. Er war wohl lange nicht mehr hier, aber wird auch am nächsten Tag wieder da sein, diesmal mit einem Londoner „Underground“-T-Shirt.
Der Gerichtssaal unten füllt sich langsam und die Stimmung ist befremdlich. Die PolizeibeamtInnen und die Angeklagten mit ihren AnwältInnen kommen herein. Bis auf Zschäpe wirken alle relativ heiter, kauen Kaugummi, unterhalten sich, machen Witze. Vielleicht liegt es an der völligen Missachtung des Anlasses dieser „Zusammenkunft“, vielleicht geht einem nach 329 Prozesstagen die Pietät verloren. Für mich ist es aber der erste Tag und es fühlt sich sehr unangemessen an.
Ich beobachte die unten sitzenden Angeklagten und ihre Anwälte. Einige von ihnen namhaft in der rechten Szene. Daneben die drei früheren Anwälte von Zschäpe, die jetzt hier festsitzen: Sturm, Stahl und Heer. Trotz dieser Namen scheinen sie nicht Teil der Szene zu sein. Eher typische Karriereanwälte: Perfekte Frisuren, einwandfrei sitzende Anzüge, Macbooks.
Einer der Angeklagten ist André Eminger. Mir wird von seinen Tattoos erzählt. Eins davon ziert seinen Oberkörper und ist so antisemitisch, dass mir die Luft wegbleibt. Es wird mich den ganzen Tag nicht mehr loslassen, noch am Abend sitze ich da und recherchiere diese Tattoos. Ein anderes Tattoo sagt in Runen „Ich bin nichts, mein Volk ist alles“. Eins hat er zumindest richtig erkannt: Er ist nichts.
Richter Götzl betritt als letzter den Saal. Alle erheben sich. Er sagt, wir könnten wieder Platz nehmen, und alle setzen sich. Ich kenne das alles ja aus Gerichtsshows. Trotzdem eine verstörend sinnlose autoritäre Geste, über die ich mir noch nie viele Gedanken gemacht habe.
Zschäpe ist erstaunlich langweilig. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, wer sie ist und was ihr „zur Last gelegt“ wird. Sie hält den Kopf eher gesenkt und gibt sich unscheinbar. Ist das die Banalität des Bösen?
Ich versuche mich auf den Prozess zu konzentrieren, aber irgendwie wirkt das alles noch sehr befremdlich. Steril. Kalt. Ich frage mich die ganze Zeit, wie es den Opferfamilien wohl geht. Sie sind ja auch Nebenkläger und mussten sich das alles als Betroffene reinziehen, zumindest zu Beginn der Verhandlungen, als sie noch anwesend waren. Wie fühlt es sich an, mit Menschen so lange in einem Saal zu sitzen, die mutmaßlich ihre Angehörigen auf brutale Weise umgebracht haben oder zumindest Beihilfe dazu geleistet haben – und es mit ihnen am liebsten auch machen würden?
Ein Kriminaloberkomissar sagt aus. Ich muss mich sehr stark konzentrieren, um ihm zuzuhören. Ich frage mich, ob einer der Angeklagten oder einer ihrer Anwälte das Buch von Semiya Şimşek gelesen hat, der Tochter des ersten NSU-Mordopfers, Enver Şimşek, der im September 2000 in Nürnberg erschossen wurde. Es stünde der Verteidigung ja durchaus gut zu Gesicht. Das müsste allerdings auch bedeuten, dass es sie in keiner Weise berührt hat. Was nicht überraschend wäre.
Die Anwältin von Ralf Wohlleben, Nicole Schneiders, läuft selbstbewusst und aufrecht, dabei verschmitzt lächelnd, durch den Raum. Als ob ihr die Welt gehörte. Ein Freund, dem ich meine Gedanken mitteile, sagt, sie gehöre ihnen auch, es sei ihr Staat, ihr Land.
330ster Prozesstag.
Ein Nebenklageanwalt beschwert sich über mangelnde Informationsweitergabe durch die Bundesanwaltschaft. Erneut ein Beispiel für staatliche Institutionen, die nicht gerade zu einem reibungslosen Ablauf des Prozesses oder überhaupt zur Aufklärung der NSU-Verbrechen beitragen. „Es ist ihr Staat“, erinnere ich mich wieder.
Ich komme morgens in das Gerichtsgebäude. Die Sicherheitkontrolle ist mittlerweile fast schon Routine. Meine politischen Sticker habe ich aus meinem Heft rausgenommen und meine Haare trage ich offen. Die Polizeibeamtin heute ist sehr freundlich. Sie fasst meine Haare nicht an.
Das übliche Prozedere. Richter betritt Saal. Alle erheben sich. Er sagt: „Setzen“. Alle setzen sich. Die Geste stört mich noch viel mehr als am Vortag.
Heute spricht eine Zeugin, die eigentlich sogar einige interessante Dinge zu sagen hat, auch wenn sie sich ahnungslos gibt. Sie soll etwas über ein Foto aussagen, auf dem sie mutmaßlich mit einem Kontakt des NSU-Kerntrios in Berlin zu sehen ist. Das Foto zeigt unter Anderem eine blonde Frau und eine mit dunklen Haaren, vermutlich die Zeugin und ihre Zwillingsschwester, die zu der Zeit dunkel-gefärbte Haare gehabt haben soll. Das soll so Mitte des Jahres 2000 gewesen sein, weshalb sie angibt, sich an nichts zu erinnern, es sei ja schon so lange her. Sie habe zu der Zeit ihre Schwester in Berlin besucht und dort öfter mal durch ihre Schwester, die zwei Kinder mit den ehemaligen Blood-&-Honour-Chef, Stefan L. hat, Kontakt zur rechten Szene bekommen. Sie selbst, so sagt sie auf Nachfragen eines Nebenanwalts aus, gehöre der Szene nicht an und habe es auch nie. Ihren Sohn hat sie Thor Siegfried genannt.
Ein Sachverständiger sagt etwas über das Gewicht der Ceska 83, der Mordwaffe, aus: Sie wiegt 772 Gramm, der Schalldämpfer 236 Gramm.
Auch dieser Prozesstag endet noch am Vormittag. Der nächste wird abgsagt, wir können also einen Tag früher nach Berlin abreisen.
Was am Ende dieser zwei Tage bleibt, ist Frustration und Wut. Über die Grausamkeit, die den Opfern und ihren Familien widerfahren ist. Über das Ausbleiben einer gesamtgesellschaftlichen Reflexion über den NSU und rechte Gewalt, geschweige denn irgendwelcher realen Konsequenzen.
In dem Buch „Schmerzliche Heimat“ von Semiya Şimşek ist das letzte Kapitel von ihren Anwälten geschrieben. Sie schreiben, dass nach dem RAF-Terror und 9/11 von verschiedenen Seiten moralische und politische Positionierungen stattfanden. Viele Menschen wandten sich deutlich gegen diese Form der Gewalt, als etwas, das im Gegensatz zu den Werten dieser Gesellschaft stehe. Es gab einen Diskurs, der das Geschehene verurteilte und damit demokratische Werte affimierte. Das blieb hier aus. Was das über Deutschland aussagt, wussten viele Menschen, die in diesem Land von Rassismus betroffen sind, schon immer.
Meine Frustration gilt auch einem Großteil linker, antifaschistischer und antirassistischer Politik. Wir verbringen sehr viel Zeit damit, den alltäglichen Rassismus in der Gesellschaft zu thematisieren. Wie viel Zeit verbringen wir damit festzustellen, dass Nazis eben nur das Extrem einer Gesellschaft sind, die so ein Gedankengut bereits in der Mitte produziert. Das stimmt auch. Solche Morde sind nur möglich, weil es eine bürgerliche Gesellschaft gibt, für deren Funktionieren Rassismus materiell notwendig ist. Und trotzdem gibt es einen Unterschied in diesen Ebenen. Es gibt in dieser Gesellschaft Menschen, die andere Menschen hassen, und zwar auf eine Art, die sie dazu veranlasst, kalkuliert und über Jahre hinweg zu morden und dann damit anzugeben. Das ist ein Unterschied. Ein qualitativer.
Dabei müsste gerade der NSU-Komplex und seine Aufarbeitung politische Bündnisse möglich machen. Es gibt bereits viele Projekte, die sich, aus unterschiedlichen Perspektiven, um eine Verhandlung des NSU und rechter Gewalt in Deutschland bemühen. Dazu gehören NSU-Watch, das NSU-Tribunal und eine Vielzahl anderer Initiativen, die sehr wichtige Arbeit leisten. Doch eine größere Kampagne, die über längere Zeit öffentlichkeitswirksam das Thema verhandelt, bleibt aus.
Viele Entscheidungen in diesem Prozess, der nun seit 3 1/2 Jahren läuft, werden politisch gefällt. Politisch in dem Sinne, dass immer auch die Mehrheitsgesellschaft und das Vertrauen in die Werte dieses Staates und das Vertrauen in die Institutionen, diese Werte aufrecht zu erhalten, mit einbezogen wird.
Eine radikale Aufklärung des NSU-Komplexes müsste staatliches Versagen auf allen Ebenen nachweisen. Versagen, weil sie es nicht sahen, oder weil sie es sahen und geschehen ließen. Das greift die Stabilität dieser Gesellschaft, die auch auf dem Vertrauen in diese Institutionen basiert, natürlich an. Dem „deutschen Volk“ soll dieses Vertrauen erhalten bleiben. Wer hier im Stich gelassen wird, ist klar: die Opfer, ihre Angehörigen und alle von Rassismus und rechter Gewalt betroffenen Menschen in Deutschland. Wer „das deutsche Volk“ sein soll und wessen Sicherheit prioritär ist, wird hier deutlich.