Protokoll 337. Verhandlungstag – 18. Januar 2017

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Am heutigen Verhandlungstag schließt Prof. Dr. Saß die Erstattung seines Gutachtens über die Angeklagte Beate Zschäpe ab.

Sachverständiger:

  • Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte Beate Zschäpe)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:47 Uhr. Die Zschäpe-Verteidiger RA Stahl und RA Borchert sind heute anwesend. Götzl sagt in Richtung der Zschäpe-Verteidiger_innen Sturm und Heer: „Dann waren wir gestern stehengeblieben bei der Anhörung des Sachverständigen Prof. Saß. Wir hatten gestern am Ende noch eine Erklärung von Ihnen beiden gehört. Da hatten Sie auch ausgeführt, dass es letztlich nicht um die Geschwindigkeit des Vortrags geht. Deswegen schon meine Nachfrage jetzt an Sie, sofern hier Lücken bestehen, ob Sie die durch Nachfrage sogleich beim Sachverständigen schließen wollen. Sie haben auch angekündigt, sich gestern zusammenzusetzen.“ Heer, Stahl und Sturm beraten sich. Dann sagt Heer: „Herr Vorsitzender, in Beantwortung Ihrer Frage: Es gibt schon Probleme mit der Geschwindigkeit des Vortrags. Wie angekündigt haben Frau Sturm und ich unsere Mitschriften gestern durchgesehen. Dazu erklären wir beide folgendes: Der Inhalt der Mitschriften ist nicht geeignet, dem von uns hinzugezogenen Sachverständigen die Anknüpfungspunkte für ein methodenkritisches Gutachten zu vermitteln.“ Heer sagt, sie könnten dies nur gewährleisten, wenn sie wörtlich mitschrieben. [phon.] Heer: „Wir haben es versucht, es funktioniert nicht. Wir haben daher eine neue Beurteilungsgrundlage und wiederholen unsere Anträge.“

Götzl: „Nun ist das leider nicht substantiiert. Ich hatte ja gestern anknüpfend an Ihre Äußerungen – das ging etwas auseinander, Ihre und Frau Sturms Äußerung-, ich hatte ja nachgefragt und ein eindeutiges Nicken als Antwort von Ihrer Kollegin bekommen. Ich habe an das angeknüpft, was Sie mir gesagt hatten. Deswegen ist es nicht damit getan, dass Sie pauschal auf Ihre Anträge wieder verweisen. Welche Entscheidungsgrundlage sollen wir denn jetzt haben?“ Heer: „Die etwaige Divergenz zu meiner Kollegin Sturm, die haben Sie angesprochen, ist die nicht gestern von Frau Sturm ausgeräumt worden? Ich hatte es so wahrgenommen. „Götzl: „Sie hatten drauf hingewiesen, dass es Lücken gibt, und ich habe Ihnen hiermit Gelegenheit gegeben, sogleich nachzufragen. Sie wollen sie offensichtlich nicht wahrnehmen, denn Sie beziehen sich auf Ihre Anträge. Die Grundlage ist das, was Sie gestern als Erklärung abgegeben haben und was Sie heute ergänzt haben, sehe ich das richtig?“ Heer: „Nein, das ist eben nicht richtig. Die etwaige Differenz wurde aufgeklärt. Wenn Sie uns heute Gelegenheit geben, Lücken durch Nachfragen aufzufüllen, dann setzt das denklogisch voraus, dass wir wissen, wo diese Lücken liegen.“

Wenn er mitschreibe und er schreibe schon ziemlich schnell, so Heer, dann bekomme er bestimmte Dinge, insbesondere Fachbegriffe nicht so mit, dass er das jemandem erklären könne, der hier nicht sitzt. [phon.] Heer wendet sich in Richtung der NK, wo offenbar jemand etwas gesagt hat: „Wenn Sie sich äußern wollen, liebe Kollegen, dann machen Sie das doch, aber bitte öffentlich!“ Götzl: „Momentan reden Sie mit mir. Wer hat den Zwischenruf gemacht? Dann würde ich Sie bitten, den Vortrag von Rechtsanwalt Heer nicht zu stören!“ Heer sagt, das Problem bestehe nicht nur darin, dass Sturm und er selbst markiert hätten, dass was fehlt, es handele sich um eine Materie, die nicht seine eigene Fachmaterie ist. [phon.] Heer: „Auch das von Ihnen vorgeschlagene Prozedere wird so nicht funktionieren.“ Götzl: „Ja, wir sind ja noch gar nicht im Bereich der Beurteilung, sondern wir sind momentan in dem Bereich, dass er uns das Material präsentiert, das er verwendet. Und mir ist jetzt nicht klar, wo die Schwierigkeiten liegen sollen. Dann bitte ich Sie ggf. zu ergänzen.“

RA Stahl: „Wir haben das intern auch nochmal besprochen Die Schwierigkeiten liegen schlicht und ergreifend darin, dass Ihr Vorschlag in dem den Tonbandantrag ablehnenden Beschluss, dass man das ja als erfahrener Verteidiger schon zumindest sinngemäß zusammenfassen kann, das funktioniert so nicht. Weil wir müssen in dem Moment, wo wir das Gutachten mitschreiben, entscheiden, was notieren wir, was lassen wir aus. Und die Frage, was lassen wir aus, setzt letztlich voraus, dass wir das beurteilen können. Also: Kommt es drauf an oder nicht, für den von uns beauftragten Gutachter Prof. Dr. Faustmann? Und das ist die Besonderheit, auf die ja auch in der Gegenvorstellung gestern hingewiesen worden ist: Die Notizen sind nicht für uns da, sondern die sind dafür da, dass ein weiterer Gutachter, Prof. Dr. Faustmann, in die Lage versetzt wird, das, was er begonnen hat hier, auch lege artis zu Ende zu führen. Diese Zuarbeit müssen wir leisten und die Kollegen waren gestern nicht in der Lage, wortgetreu mitzuschreiben. Und dass Sie heute sagen: ‚Naja, dann stellen Sie dem Sachverständigen doch die Fragen, wo Sie Auslassungen bemerkt haben‘, das ist geschickt.“

Götzl: „Es geht nicht um ‚geschickt‘.“ Stahl: „Bin ja noch nicht am Ende. Das könnte man so praktisch machen, die Mitschriften Wort für Wort mit Prof. Saß durchzugehen. Aber ein entscheidender Aspekt fällt unter den Tisch: Dass die Verteidiger, jeder für sich, verpflichtet sind, den Ausführungen des Sachverständigen zu folgen und nicht nur stenografischen Dienst zu leisten für eine Mitschrift, die man dann weitergeben kann. Und das fällt dann hier auch aus. Und das waren die Ausführungen, von denen wir ausgegangen sind, dass Sie im Tonbandantrag auch sinnvoll vermittelt worden sind.“

Bundesanwalt Diemer: „Ich sehe keine neuen Gesichtspunkte bei dem Vorbringen der Verteidigung, die nicht schon gestern durch die Entscheidung des Senats entschieden worden sind. Letztlich beklagen sich die Verteidiger Heer, Stahl und Sturm über die Folgen des Beschlusses. Es ist kein neuer Antrag und es ist auch keine erneute Gegenvorstellung. Sie haben sie nicht so bezeichnet sondern als Erklärung, so dass eine neue Entscheidung des Gerichts nicht erforderlich ist. Wenn Sie auf die Besonderheit des Verfahrens eingehen: Der Senat hat ausdrücklich gesagt, die Besonderheiten des Verfahrens liegen in der öffentlichen Aufmerksamkeit, im Verfahrensumfang, psychischen Belastungen auch des Sachverständigen [phon.]. Und gerade deswegen hat der Senat in seinen ausgewogenen Entscheidungen gesagt, dass eine Tonaufnahme nicht stattfindet, weil sie die psychische Belastung des Sachverständigen in verfahrensfremder Weise verstärken würde. Deswegen ist die Rechtslage ausgewogen [phon.], so dass man jetzt mit der Vernehmung fortsetzen sollte. Irgendwann muss man sich auch mal mit Dingen abfinden, die entschieden worden sind.“

NK-Vertreter RA Scharmer: „Ich kann das verstehen, dass man am liebsten ein Wortprotokoll hätte. Aber die StPO sieht kein Wortprotokoll vor, das gibt es nun mal nicht, und deswegen gehört es zum Standardrepertoire vor Schwurgerichten, der Vernehmung eines Sachverständigen zu folgen. Das ist in jedem Verfahren so. Wenn die Verteidiger von Frau Zschäpe sagen, sie wollen sich externe Expertise eines anderen Sachverständigen einholen, dann können sie das tun.“ Ein Recht, dass hier im Verfahren alles so organisiert werde, dass sie dies machen können, gebe es aber nicht. [phon.] Faustmann sei nicht vom Gericht bestellt, die Verteidigung müsse die Grundlage schaffen. [phon.] Scharmer: „Wenn Prof. Faustmann meint, er braucht wörtliche Mitschriften, dann hätte ich methodenkritisch ein paar Fragen, aber dann ist es Ihr Problem und nicht das Problem des Prozesses. Wir müssen auch aus Beschleunigungsgründen jetzt mal vorankommen.“

NK-Vertreter RA Reinecke: „Ich vermag nicht zu sehen, warum das Verhältnis zwischen Verteidigung und ihrem Gutachter ein anderes sein soll als bei der Leitung durch den Senat. Ich vermag nicht zu erkennen, warum Sie überhaupt nicht erkennen können sollten [phon.], wo der Ansatz für eine Methodenkritik liegt. Wenn man davon ausgeht, dass auch die Verteidiger ihren Sachverständigen zu leiten haben, dann ist das kein größeres Problem ausgehend von der Methodenkritik, die vorliegt. Also so zu tun, als könne man überhaupt nicht erahnen, was im Vortrag für Herrn Faustmann wichtig sein könnte und was nicht, das entspricht nicht dem Verhältnis von Verteidiger und Sachverständigen.“ RA Behnke sagt, er wolle sich Scharmer anschließen und beantragen, dass die Gutachtenerstattung fortgesetzt wird: „Ich sehe keinen Grund noch zu warten.“

RAin Sturm: „Herr Vorsitzender, gestatten Sie mir kurz auf die verschiedenen Stellungnahmen zu erwidern. Herr Bundesanwalt Diemer, Sie haben selbstverständlich recht mit Ihrem Ausführungen, dass wir mit den faktischen Folgen dieses Beschlusses zu kämpfen haben. Aber insofern ist das die neue Situation, denn im Beschluss ist ausgeführt, dass die hohe Qualität der Mitschriften dadurch sicherzustellen sei, indem man sich zusammensetze und ergänze. Das haben wir versucht, redlich, es ist nicht vernünftig gelungen in einer Art und Weise, die geeignet ist. Insofern ist das eine neue Tatsache, die aus unserer Sicht vom Senat neu zu berücksichtigen ist. Insofern passen die Ausführungen des Kollegen Reinecke gleich dazu, dass wir analog unseren Sachverständigen zu leiten hätten und wenn gesagt wird, dass wir aufgrund des methodenkritischen Vorgutachtens wissen würden, worauf es ankommt. Ich darf daran erinnern, womit Prof. Dr. Saß gestern begann: Dass sein schriftliches Gutachten zu hohem Teil zu ergänzen sein wird und jedenfalls eine ganz Reihe von Änderungen da sind. So dass die Kenntnis des schriftlichen Vorgutachtens wie auch des methodenkritischen Gutachtens nicht behilflich ist. Man kann nicht in Gedanken darauf rekurrieren, sondern man muss aktuell mitschrieben, was ausgeführt wird. Und gestatten Sie mir an Sie, Herr Scharmer: Es berührt mich persönlich. Sie sind, soweit ich weiß, Mitglied im Vorstand der Berliner Strafverteidiger [phon.] und es ist kein Geheimnis, dass alle daran arbeiten, eine Protokollierung des Strafverfahrens zu erwirken. Und dass Sie jetzt hier dagegen reden, jetzt einfach mal zu sagen, wir sind auf jeden Fall dagegen, was die Verteidigung will und eine schwache Verteidigung ist uns lieber, das befremdet mich jetzt. [phon.]“

Götzl: „Da muss ich Herrn Scharmer aber insoweit in Schutz nehmen, dass er eingangs schon etwas anderes gesagt hat.“ Scharmer: „Ich würde auch gerne selber. Also, ich habe eingangs gesagt, dass ich mir eine Protokollierung wünschen würde und ich würde mir auch eine Gesetzesänderung [phon.] wünschen. Ich stehe da auch rechtspolitisch voll dahinter. Im Übrigen bin ich seit drei Jahren nicht mehr im Vorstand der Berliner Strafverteidiger [phon.]. Aber das ändert doch nichts daran, dass wir aktuell eine StPO haben, mit der wir umgehen müssen. Und das Beschleunigungsgebot ist auch etwas, was ich unterstütze. Und stellen Sie doch mal bitte Ihr Licht nicht unter den Scheffel: Das lernt man doch als Verteidiger, nicht nur die StPO, sondern auch den Umgang mit Sachverständigen. Man kann sich externen Sachverstand holen, aber da braucht man doch kein Wortprotokoll.“

Stahl: „Ich möchte auch noch ganz kurz auf Herrn Kollegen Scharmer zurückkommen. Ich finde schon, dass es prozessuale Konstellationen geben kann, in denen Verfahrensbeteiligte einen Anspruch darauf haben können, dass einer Protokollierung entsprochen wird. Und zwar weil es eine Ermessensentscheidung ist. Und wir wissen alle, dass sich eine Ermessensentscheidung in Richtung Null reduzieren kann, dass sie irgendwann zu einer gebundenen Entscheidung wird. [phon.] Und warum wir einen Anspruch haben, dass der Senat dafür Sorge trägt, dass wir eine Aufzeichnung oder ein Surrogat davon bekommen, ist darin begründet, dass wir sehr wohl der Auffassung sind, dass in dem Fall, dass ein methodenkritisches Gutachten beauftragt ist, dass ein anderer Gutachter damit beauftragt wird, ein in mündlicher Hauptverhandlung erstattetes Gutachten zu bewerten, – und das ist ein Beweisantragsrecht, ein Recht, das die StPO hergibt – dass dieser Gutachter in den Stand versetzt werden muss, das auch zu tun. [phon.] Das ginge am ehesten, wenn der Gutachter heute anwesend wäre, aber da gibt es eine Menge Imponderabilien [phon.].“

Stahl sagt, der Senat habe eine Planung, Prof. Faustmann habe eine Planung und das habe sich nicht in Übereinstimmung bringen lassen. Das ändere aber nichts daran, dass Prof. Faustmann detailliert in den Stand zu versetzen sei, das methodenkritische Gutachten zu erstellen, dass Faustmann erhalte, was Saß hier angegeben [phon.] habe, auch indirekte Bemerkungen etc. Stahl sagt, als Verteidiger mit dem Gutachten umzugehen, für den Schlussvortrag, für die eigene Bewertung, das könnten sie. Für ein methodenkritisches Gutachten, für die fachliche Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe mit Prof. Dr. Saß sei das aber anders, da könnten sie nicht entscheiden, was wichtig ist oder nicht. Stahl: „Und da ich das nicht entscheiden kann, sondern in unserem Fall Prof. Dr. Faustmann das entscheiden soll, kann ich nicht etwas weglassen. Denn dann setze ich mich am Ende des Tags einer Beliebigkeit aus. Um diesen Fehler nicht zu machen und um der Verteidigung das Recht einzuräumen, den Beweisantrag zu stellen und umzusetzen, sind wir der Meinung, dass das Ermessen sich hier reduzieren kann. Und wenn man sich anschaut, wie weit das gediehen ist: Es ist ja kein Antrag, der ins Blaue gestellt worden ist, so war es ja nicht. Es gibt ein vorbereitendes Gutachten. Dieses ist von einem Fachmann bewertet worden. Der ist zum Ergebnis gekommen, dass es methodische Zweifel an der Kunstfertigkeit [phon.] des Gutachtens gibt und das ist ein Hürde, die bereits genommen wurde, und die ist bereits eingeführt in gewisser Weise in dieses Verfahren. Und deswegen spricht viel dafür, dass man den Weg zu Ende geht und Prof. Dr. Faustmann das beurteilen lässt. Deswegen müssen Sie die Basis dafür schaffen, wahrscheinlich schon von Amts wegen. Und vor dem Hintergrund denken wir auch, dass sich das Ermessen verschiebt. [phon.]“

RA Behnke: „Erster Punkt: Ich glaube, seit sechs Wochen versuchen wir, den Herrn Faustmann hierher zu bekommen. Wir haben keine Hinweise, wann er kann und wann nicht. Ich muss die Verteidigung doch mal nachdrücklich fragen, ob es da keine Koordination gibt. Sechs Wochen. Zweiter Punkt: Protokollierung wird gefordert in Bezug auf Zeugenaussagen, nicht zu Sachverständigengutachten. An dem Punkt wird derzeit strafprozessual nachgearbeitet. Es geht nicht um die wörtliche Protokollierung oder Tonaufzeichnung von Sachverständigengutachten, denn das ist ein ganz anderes Spielfeld. Denn dort wird insgesamt vorgetragen, ggf. auch schriftlich ein Gutachten vorgelegt. Frau Kollegin Sturm wollte ich noch bitten, keine persönlichen Hinweise einzuflechten. Das ist gerade passiert mit dem Kollegen Scharmer, das passt da nicht hinein. Ich danke Ihnen.“

RAin Lunnebach: „Die wohlgesetzten Formulierungen von Kollegen Stahl können nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine neuen Tatsachen gibt. Ich finde es gut, wenn die Verteidigung kämpft, aber es gibt keine neuen Anhaltspunkte. [phon.] Es ist beschieden worden, negativ, vom Senat. Zweitens: Wörtliche Protokollierung: Ich darf daran erinnern, dass wir beantragt hatten von Nebenklageseite, die Hauptverhandlung wörtlich zu protokollieren. Da ist auch abgelehnt worden. Also wir kämpfen dafür, da stehen wir alle dahinter. Aber Herr Behnke hat recht, da geht es v.a. um Zeugenaussagen, nicht um Sachverständige. Und kurz zusammengefasst: Prof. Faustmann ist nicht Verfahrensbeteiligter. Punkt.“ RAin Dierbach: „Es geht darum, jemandem der nicht Verfahrensbeteiligter ist bislang, den Verfahrensgang nahezubringen. Herr Faustmann soll ein methodenkritisches Gutachten machen. Das ist ja nichts, was nicht jeder andere forensische Gutachter machen könnte. Denn auch Herr Faustmann hat ja Frau Zschäpe nicht exploriert, sondern es steht eine Methodenkritik des Gutachtens im Raum. Das kann im Prinzip jeder forensische Psychiater. Wenn sich die Verteidigung entscheidet, einen Sachverständigen zu beauftragen, der offenkundig keine Zeit hat, dann ist das die Konsequenz der eigenen Auswahl.“

Stahl: „Nochmal in aller Deutlichkeit, auch an Herrn Diemer und Frau Lunnebach: Dass also keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen worden wären, dass eine neue Entscheidungsgrundlage da wäre, aufgrund derer die Tonbandanträge neu zu bescheiden sind, ist doch nicht zutreffend. Die Erwägung, die der Senat im ablehnenden Beschluss aufgestellt hat, dass die Verteidigung in der Lage sei, das Gutachten mit zu dokumentieren und zu verschriften, das hat die Verteidigung so angenommen und den Versuch unternommen, die Passagen, die Saß hier vorgetragen hat, hier zu dokumentieren. Und bereits gestern ist den Kollegen aufgefallen, dass die Mitschriften für das, was beabsichtigt ist, Herrn Prof. Faustmann die Anknüpfungstatsachen zu geben, das Gutachten von Prof. Saß zu beurteilen, dass das insuffizient ist. Und deswegen gab es die Erklärung, die Sie bekommen haben. Das sind die neuen Tatsachen. Es funktioniert nicht. Und das müssen Sie einstellen, denn Sie sind beim Beschluss davon ausgegangen: es wird schon gehen. Und an Frau Kollegin Dierbach: Ich meine, man kann hier immer versuchen im Rahmen einer Stellungnahme einen Standpunkt einzunehmen, aber bei so viel erfahrenen Rechtsanwälten sich hier hinzustellen und zu sagen, es sei sein Problem, wenn man einen Gutachter auswählt, der keine Zeit hat, das ist lebensfremd. [phon.]“ Stahl sagt, es sei schon schwer genug, überhaupt einen Gutachter zu finden, der kritisiert, was der Kollege gemacht hat. [phon.] Stahl: „Und natürlich sind Gutachter schwer beschäftigt. Und der Senat hat einen Fahrplan. Und wenn Herr Faustmann keine Zeit hat, im Januar jedenfalls nicht, dann geht es nicht. [phon.] Dann können wir hilfsweise den Antrag stellen: Stellen Sie das Gutachten von Prof. Saß bis in den Februar zurück. Das werden wir aber nicht tun.“ Götzl: „Dann werden wir unterbrechen und setzen um 11 Uhr fort.“ Um 10:58 Uhr kommt die Durchsage, dass die Hauptverhandlung um 11:10 Uhr fortgesetzt wird.

Um 11:12 Uhr geht es weiter..Götzl: „Dann setzen wir fort. Sie hatten angekündigt, dass Sie noch einen Hilfsantrag stellen wollen, bevor wir entscheiden?“ Heer sagt, dass Stahl, Sturm und er selbst am 20.12. angekündigt hätten, dass sie beabsichtigten, den SV Prof. Dr. Faustmann notfalls selbst zu laden. Jetzt stellt er „in Ergänzung der auch heute morgen nochmal gestellten Anträge“ den Hilfsantrag, dass der Vorsitzende beim Erscheinen von Prof. Dr. Faustmann in der Hauptverhandlung ihm die notwendigen Anknüpfungstatsachen im Wege eines Sachberichts vermitteln solle. Götzl: „Soll dazu Stellung genommen werden?“

OStA Weingarten sagt, dass dazu kein Anlass bestehe. Die Verteidigung beabsichtige, den SV als präsentes Beweismittel ins Verfahren zu bringen. Der Unterschied sei hier, dass der präsente SV als aufgedrängte Bereicherung nicht vom Gericht bestellt sei und das Gericht den SV gleichwohl hören müsse. [phon.] Weingarten: „Vor diesem Hintergrund besteht kein Anlass, das Gericht sozusagen von hinten durch die Brust zu verpflichten, ihn in die Lage zu versetzen, als Beweismittel zu fungieren. Das ist systematisch und mit der Struktur des präsenten Beweismittels nicht in Einklang zu bringen. [phon.] Wenn das Gericht selbst einen Anlass hat, Herrn Faustmann zu laden, mag die Lage eine andere sein, nicht aber bei präsenten Beweismitteln.“ NK-Vertreter RA Bliwier: „Den Hilfsantrag kann man zurückstellen, das muss jetzt nicht entschieden werden. Und ich denke, wir sollten jetzt mit der Erstattung des Gutachtens durch Prof. Dr. Saß fortsetzen.“ Götzl: „Weitere Stellungnahmen?“ Niemand meldet sich. Götzl unterbricht erneut.

Um 11:32 Uhr geht es weiter. Götzl verkündet den Beschluss, dass es bei den Beschlüssen des Senats von gestern sein Bewenden hat. Heer, Stahl und Sturm hätten ihre Anträge, die abschlägig beschieden worden seien, wiederholt, dies lege der Senat als erneute Gegenvorstellung aus. Nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage unter besonderer Berücksichtigung des Vortrags der Gegenvorstellung könne der Senat keine Umstände erkennen, die es rechtfertigen würden, die angefochtenen Beschlüsse abzuändern. Zur Begründung der Gegenvorstellung hätten Heer, Stahl, Sturm zusammengefasst vorgetragen, den Beschlüssen des Senats von gestern sei die Grundlage entzogen, da der gestrige Hauptverhandlungstag gezeigt habe, dass Mitschriften der mündlichen Gutachtenserstattung von Prof. Dr. Saß für die von ihnen geplanten Zwecke „insuffizient“ seien.
Hierfür seien Heer, Stahl, Sturm allerdings selbst verantwortlich:

1. Der Vorsitzende hat den Antragstellern heute Gelegenheit gegeben, behauptete Lücken bzw. fehlende Fachbegriffe in ihren Mitschriften durch Nachfrage beim Sachverständigen zu klären. Diese Möglichkeit haben die Antragsteller nicht wahrgenommen.
2. Sollte die Mitschriften – wie die Antragsteller vortragen – „insuffizient“ für ihre Zwecke sein, so obliegt es den Antragstellern bei der mündlichen Gutachtenserstattung darauf zu dringen, dass Prof. Dr. Saß Ausführungen wiederholt bzw. langsamer vorträgt.
Zudem wird zur Vorbereitung der Befragung des Sachverständigen durch den Senat und die Prozessbeteiligten dessen Vernehmung unterbrochen werden.

Götzl: „Die Entscheidung über den Hilfsantrag, das wollte ich noch ergänzen, wird zurückgestellt.“ Heer: „Frau Sturm, Herr Stahl und ich beantragen erstens die Aushändigung einer Kopie und zweitens die Hauptverhandlung zur internen Beratung zu unterbrechen bis 12:10 Uhr.“ Götzl: „Dann empfiehlt es sich gleich die Mittagspause einzulegen, dann unterbrechen wir und setzen um 12:35 Uhr fort.“

Um 12:41 Uhr geht es weiter. RA Stahl: „Herr Vorsitzender, auch wenn wir nach erneuter Beratung der Begründung Ihres Beschlusses ein wenig den Eindruck erlangt haben, dass der Umstand, dass Sie keine Umstände erkennen mögen, die es rechtfertigen würden, die angefochtenen Beschlüsse anzufechten, ein wenig den Eindruck erlangt haben, dass Sie sich unseren Argumenten verschließen, nehmen wir doch entgegen, dass Sie anerkennen, dass wir Unterbrechungen und Wiederholungen verlangen können. Wir werden Sie allerdings dann beim Wort nehmen müssen. Die Begründung, das Sie uns heute ernstlich Gelegenheit gegeben haben, dass wir durch Nachfragen die Lücken ausfüllen können, das hätte dazu geführt, dass sich die Hauptverhandlung heute und morgen damit befasst hätte, was die Kollegen gestern da mitgeschrieben haben, das glauben wir nicht, dass Sie das ernst gemeint haben. [phon.] Aber wir stellen hier insofern keinen weiteren Antrag.“

Götzl: „Dann setzen wir fort, Herr Prof. Dr. Saß. Mir geht es zunächst nochmal um einen Punkt, wo ich nachfragen will zur Klarstellung. Da ging es um die Angaben der Zeugen [Rainer] B. und Le., Stichwort ‚Meisterin im Verdrängen‘ und ‚Faktenmensch‘. Da hatte ich darauf hingewiesen, dass insofern ein Widerspruch erhoben worden ist von der Verteidigung, und Sie hatten ausgeführt, dass es nicht entscheidend wäre,weil sie sich ja da selbst geäußert hätte. Ich will drauf verweisen, dass gerade widersprochen wurde im Hinblick darauf, wie sich Frau Zschäpe gegenüber den beiden Zeugen geäußert hat.“ Saß: „Habe ich richtig verstanden, dass er sich nicht gegen die Verwertung richtet?“ Götzl: „Doch, doch.“ Saß: „Ich habe Bezug genommen auf ihre eigenen Angaben.“ Götzl: „Also Sie haben Bezug genommen auf die Angaben in der Einlassung?“ Saß: „Nein, auf die Angaben im Brief an Robin S.“ Götzl: „Da gibt es ja auch einen eigenen Widerspruch. Müssten wir noch drauf eingehen. Ich will es nur ansprechen, dass es nicht aus dem Blick gerät.“

Dann setzt Saß mit der Erstattung seines Gutachtens fort: „Gestern hatte ich zunächst Vorbemerkungen zur Methodik gemacht und mich mit der so genannten Methodenkritik im Schriftsatz auseinandergesetzt. Dann habe ich begonnen, die Zusammenstellung der relevanten Informationen vorzutragen, gesundheitliche Vorgeschichte, Biographie und frühere Entwicklung, dann Entwicklung der Angeklagten im Untergrund und dann aus Informationen zu den verfahrensgegenständlichen Vorfällen. Und ich würde jetzt fortsetzen, indem ich zur Entwicklung der Angeklagten seit der Verhaftung ausführe. In ihrer Erklärung vom 09.12.2015 schilderte Frau Zschäpe, wie sie nach dem Tod der Partner, der für eine Entdeckungssituation vorgeplant gewesen sei, …“ Götzl: „Langsamer!“ Saß: „Wie sie danach also die Wohnung in der durch den Brand und die Explosion [phon.] zerstört habe. Dies sei nach ihrer Darstellung ebenfalls so besprochen gewesen. Sie hat auch ausgeführt, das Ende des Lebens im Untergrund habe bei aller Erschütterung für sie auch eine gewisse Erleichterung gebracht. Wenn sie die DVDs versendet hat, wobei ihr deren Inhalt ihr nach ihren Angaben nicht bekannt war, habe sie damit frühere Zusagen an die Partner erfüllt.“

Götzl: „Herr Rechtsanwalt Heer weist darauf hin, dass er Schwierigkeiten mit dem Mitschreiben hat.“ Heer sagt etwas ohne Mikrofonverstärkung. Götzl: „Was soll denn das, Herr Heer? Ich habe bereits darauf hingewiesen. Das steht Ihnen nicht zu. Sie müssen nicht den Sachverständigen belehren.“ Heer: „Sie haben mich ganz offensichtlich falsch verstanden.“ Götzl: „Auf wen haben Sie Bezug genommen? Auf Herrn Weingarten? Sie müssen jetzt nicht mit Herrn Weingarten, ohne dass Sie das Wort haben, diskutieren. Es ist eine klare Sache, dass es nicht ums Widersprechen mit Herrn Weingarten geht? [phon.] Dann lassen Sie es!“ Stahl: „Ich bitte kurz ums Wort.“ Götzl: „Im Hinblick worauf?“ Stahl: „Das was eben gesagt wurde. Das ist genau das, was wir vorhergesehen haben. Wir haben gesagt, wir nehmen Sie beim Wort, dass wir den Sachverständigen wiederholen lassen [phon.]. Schon beim ersten Mal, wenn wir das erbitten, geht das Verdrehen der Augen los. Ich habe schon Kollegin Lunnebach gesehen, die empört zur Decke geschaut hat.“ Götzl: „Nein, ich habe auf eine Geste reagiert von Herrn Heer. Es war alles gemacht und getan, was notwendig war. Und dann hat sich Herr Heer an Herrn Weingarten gewandt und das ist nicht vorgesehen.“

Stahl: „Nein, was nicht vorgesehen ist, ist, wenn insbesondere ein Vertreter der Bundesanwaltschaft die Augen verdreht. Uns wird auf dieser subkutanen Ebene zugeschoben, dass wir das Verfahren verzögern, das tun wir nicht. Und das regt mich auf.“ Götzl: „Dann machen wir weiter, das verzögert das Verfahren am allerwenigsten.“ Saß sagt, er habe ausgeführt, dass das Ende des Ende des Lebens im Untergrund auch eine gewisse Erleichterung gebracht habe und dann habe er ausgeführt, die DVDs, deren Inhalt ihr nicht bekannt gewesen sei, habe sie versandt. RA Heer sagt ohne Mikrofonverstärkung: „Das funktioniert nicht.“ Götzl: „Ich schreibe es auch mit. Das übliche Schreibtempo bestimmt schon den Vortrag. [phon.] Was machbar ist, das sollten Sie auch machen.“ Heer: „Was machbar ist, da seien Sie versichert, das machen wir.“ Saß: „Mein Vortragstempo ist etwa halb so schnell, wie ich es üblicherweise mache bei Gutachtenserstattungen.“ Götzl: „Tragen Sie vor, die Diskussion kostet uns auch Zeit!“

Saß setzt mit dem Vortrag fort: „Also die Versendung der DVDs, deren Inhalt ihr nicht bekannt gewesen sei, habe sie gemacht, um frühere Zusagen an die Partner zu erfüllen. Gleiches gilt für die telefonische Benachrichtigung der beiden Mütter am 05.11.2011. Sodann ist nach ihren Angaben auf einige Tagen eines als ziellos angegebenen Umherirrens in der Bundesrepublik die Selbstgestellung am 08.11.2011 erfolgt, wobei das auch eine Abkehr von einem zwischenzeitlich ebenfalls erwogenen Suizid dargestellt habe. Anfängliche Überlegungen, Angaben zu machen und Rechenschaft abzulegen, dies auch, wie sie gesagt haben soll, vor der Großmutter, wurden offenbar nicht umgesetzt. Zunächst soll es noch ein gewisses Schwanken in der Aussagefrage gegeben haben, wie es von frühen Kontakten einiger Kriminalbeamter mit Frau Zschäpe berichtet wurde, nämlich den Zeugen P., Le. und [Rainer] B. Danach folgte die über lange Zeit konsequent durchgehaltene Schweigestrategie, die ihr nach ihren Angaben von der Verteidigung anempfohlen worden sei.“ Götzl sagt, es gebe in Bezug auf die Aussagen der genannten Beamten Verwertungswidersprüche.

Saß setzt fort: „Dass ihr diese Schweigestrategie in der ersten Prozessphase auch bemerkenswert gut gelungen ist, lässt sich aus dem Ausdrucksverhalten von Frau Zschäpe und ihrer Interaktion innerhalb der Hauptverhandlung entnehmen. Hier komme ich also zu den Beobachtungen, um die es, soweit ich sehe, in den Ausführungen der Verteidigung und im Senatsbeschluss ging. Ich sage nochmal, dass sich die Beobachtung beschränkt auf Beobachtungen innerhalb der Hauptverhandlung und ich werde am Ende alternativ mit diesen Beobachtungen umgehen. Insgesamt haben die Wahrnehmungen keine besonderen Auffälligkeiten oder Hinweise für Störungen ergeben. Vorherrschend war der Eindruck, wie sehr Frau Zschäpe um Selbstkontrolle und sachlich-kühles Verhalten bemüht war, während über Gefühlsregungen, tiefere Empfindungen und inneres Erleben nahezu nichts offenbar wurde. Es gab allerdings auch immer wieder Passagen mit einer gewissen Lockerheit und Erheiterung bei entsprechenden Gelegenheiten. Eine durchgängige Bedrücktheit durch die Gesamtsituation ließ sich nicht beobachten. All dies spricht für ein
breites Repertoire von situativ angepassten, kontrollierten und variierenden Verhaltensweisen.

Offen blieb für den Beobachter, ob die von Frau Zschäpe konsequent gewahrte Zurückhaltung, die sicher auch mit Anstrengung und Anspannung verbunden war, tatsächlich nur auf das Befolgen von Ratschlägen zurückgeht, wie sie sagt. Hingewiesen sei etwa auf ihre vom Zeugen [Rainer] B. angegebenen Äußerungen, so einen Fall wie ihren habe es noch nie gegeben, sowie ferner, es interessiere sie sehr, was andere über sie dächten. Hiermit korrespondierte auch das Verhalten in der Hauptverhandlung. Offenbar hatte Frau Zschäpe das Ziel, sich nach außen beherrscht zu geben und so die Situation zu kontrollieren, was zu dem Eindruck von Unpersönlichkeit und fehlender Gemüthaftigkeit beitragen kann. Ein starkes Bestreben, das Bild, das von ihr entsteht, genau zu kontrollieren, taucht übrigens in fast wörtlicher Formulierung auch im Brief an Herrn Robin S. [Schmiemann] auf, auf den ich noch eingehen werde. Andere Facetten in der Persönlichkeit der Angeklagten wurden im Prozessverlauf am Umgang mit den fünf Verteidigern deutlich. Dabei ist dieser Komplex, wenn ich richtig sehe, noch einmal gesondert von den sonstigen Wahrnehmungen in der Hauptverhandlung zu betrachten, weil es dafür ja auch einen Widerspruch gab. Darauf werde ich ebenfalls alternativ eingehen. Im Übrigen sind die in den Akten enthaltenen Schreiben der Angeklagten hierzu, soweit ich das sehe, nicht eingeführt, so dass ich sie auch nicht berücksichtigen werde.

Nun also zum Verhalten: Auch ohne Kenntnis der inhaltlichen Aspekte ließ sich beobachten, dass über viele Monate die von Frau Zschäpe ausgehenden Interaktionen mit den drei anfänglichen Verteidigern nicht nur sachlich-kooperativ erschienen, sondern darüber hinaus auch betont freundlich und zuweilen geradezu heiter. Sollte es, wie es im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung und auch in den schriftlichen Erklärungen von Frau Zschäpe anklang, also schon damals im Hintergrund Meinungsverschiedenheiten über die Verteidigungsstrategie und das Aussageverhalten gegeben haben, so wären diese über lange Zeit gut verborgen geblieben. Das Ausmaß der Anspannung für Frau Zschäpe kam im Frühjahr 2014 eher indirekt zum Vorschein mit möglicherweise als psychovegetativ einzuordnenden Schwankungen im gesundheitlichen Befinden, was zu einer externen psychiatrischen Untersuchung zur Frage der Verhandlungsfähigkeit und für einige Monate zu einer reduzierten Frequenz der Verhandlungstage führte.

Man wird insoweit von einer Belastungsreaktion sprechen können, auch wenn ich die Ausführungen von Frau Zschäpe in ihrer Erklärung vom 10.01.2017 berücksichtige. Erstmals nach außen zutage trat eine profunde Erschütterung der bisherigen Verhältnisse mit der Mitteilung der Angeklagten vom 16.07.2014, sie habe kein Vertrauen mehr in die Verteidigung. Danach haben sich allerdings, jedenfalls in der Wirkung nach außen, zumindest teilweise die früheren Verhältnisse wieder eingestellt. Erneut wurden Mitte 2015 für alle Verfahrensbeteiligten im Gerichtssaal massive Spannungen und Konflikte erkennbar, was schließlich in mehr oder weniger offen in der Hauptverhandlung ausgetragene Auseinandersetzungen um Fragen des Vertrauensverlustes, der Entpflichtung und des Wechsels von Verteidigern mündete. Bemerkenswert daran erschien, erneut abgesehen von inhaltlichen Aspekten, mit welcher Vehemenz, Entschlossenheit und Konsequenz sie auf Seiten der Angeklagten geführt wurden, was auch mehrfach Thema von Erörterungen in der Hauptverhandlung war, bis hin zu heftigen Vorwürfen, der Strafanzeige und dem wiederholten Durchsetzen von ihr gewünschter Sitzordnungen zur auch räumlichen Distanzierung von der initialen Verteidigergruppe.

Es gab dann allerdings, als in der zweiten Jahreshälfte von 2015 die Umstellungen in der Verteidigerkonstellation eingetreten waren und ein Aufgeben der Schweigestrategie angedeutet wurde, keine wesentlichen Änderungen im Verhalten der Angeklagten in der Hauptverhandlung. Zwar war deutlich zu beobachten, wie es mit den beiden neuen Vertrauensverteidigern zu einer Entlastung, einer Zufriedenheit und einer Stabilisierung in der psychischen Verfassung von Frau Zschäpe kam, so dass man regelrecht den Eindruck gewinnen konnte, die Auseinandersetzungen und das Verwirklichen ihrer Vorstellungen hätten ihr einen psychischen Auftrieb gegeben. Auch dies hat Frau Zschäpe in ihrer Erklärung vom 10.01.2017 bestätigt. Dennoch blieb es in dieser Zeit unverändert bei ihrem Bemühen um ein sehr beherrschtes Ausdrucksverhalten, ohne dass etwa empathische Reaktionen auf potenziell bewegende Zeugenaussagen erkennbar wurden. Dies hat sich auch noch im Jahr 2016 fortgesetzt, also nachdem mit der Erklärung vom Dezember 2015 die Verteidigungslinie geändert worden war.

Aus psychopathologischer Perspektive von Interesse sind diese skizzierten Beobachtungen aus der Prozesszeit, weil sie Rückschlüsse erlauben auf die Fähigkeit und Bereitschaft von Frau Zschäpe zum Vertreten und Durchsetzen der eigenen Position, zur kämpferischen Selbstbehauptung, zu einer nahezu feindselig durchgehaltenen Beharrlichkeit und zum erfolgreichen Durchstehen massiver zwischenmenschlicher Konfliktlagen. Setzt man dieses Verhalten in Beziehung zu den Angaben von Frau Zschäpe über die Differenzen mit den beiden Uwes, etwa in Hinblick auf das Sich-Stellen und vor allem auf die Tötungshandlungen, so bleibt die Frage, wie plausibel die Schilderungen von Frau Zschäpe sind, wenn sie sich für die damalige Zeit als abhängig und quasi ohnmächtig resignierend beschreibt.

Ich verlasse jetzt den Teil, der sich auf persönliche Beobachtungen stützt. Auch aus den Beobachtungen etwa der langjährigen Wohnungsnachbarn oder der vielen z.T. intensiven Urlaubsbekanntschaften entstand keinesfalls ein Bild, wie es Frau Zschäpe von sich selbst gezeichnet hat, nämlich dass sie sich ab Ende 2000 durchgängig in einer emotionalen Bedrücktheit, in einer Konfliktsituation und in einer Lage, die sie subjektiv geradezu als ausweglos darstellt, befunden hätte. Sollte eine mit den Tötungshandlungen verbundene Gewissenslast in einem Ausmaß vorhanden gewesen sein, wie sie es in ihren Erklärungen angab, so wäre das schwerlich mit den Eindrücken zu vereinbaren, die ihr Verhalten in der damaligen Zeit auf die verschiedenen Zeugen gemacht hat.

Sicherlich ist dabei, wenn man die Beobachtungen in der Hauptverhandlung heranziehen darf, als möglicher Einwand zu berücksichtigen, dass seither eine ganze Reihe von Jahren vergangen ist und dass Weiterentwicklungen in der Persönlichkeit von Frau Zschäpe stattgefunden haben können. Allerdings sind die heutigen Beobachtungen von Selbstbehauptungswillen, sozialer Kompetenz und Durchsetzungsstärke im Verfahrensablauf keineswegs neu, sondern sie entsprechen genau dem, wie Frau Zschäpe von vielen Zeugen schon für die Zeit vor dem Untertauchen sowie während der Jahre im Untergrund geschildert worden ist. Schließlich ist in Ergänzung auch noch auf den zwischenzeitlich eingeführten Brief der Frau Zschäpe an Herrn Robin S. [Schmiemann] vom 02.03.2013 einzugehen. Er hat 26 handschriftliche Seiten, einschließlich Zeichnungen. Ich benutze die Reinschriftübertragung in N23. Auch hinsichtlich dieses Briefes bin ich mir bewusst, dass er möglicherweise außer Acht zu lassen ist und werde das berücksichtigen. Hinsichtlich der Form zeigt der Brief, dass die Autorin sich um einen lockeren, unterhaltenden, interessanten Schreibstil bemüht, kenntlich z.B. an ironischen, sarkastischen, mit Andeutungen spielenden, schillernden und recht kritikfreudigen Formulierungen. Dabei gibt es durchaus Wortwitz und fantasievolle Bilder sowie ein Streben nach ungewöhnlicher Wortwahl, die offenbar Aufmerksamkeit erregen soll: ‚Wortfindungskunst‘, ‚Schreibgerät‘, ‚Zeit und Muße‘, ‚auf Krawall gebürstet‘, ‚Sonnenscheinchen‘, ‚Schokoschnäuzchen‘. [phon.] Einfallsreich gestaltet erscheint auch eine recht lustige Anekdote mit lockerer Assoziationskette von Einzelzelle über Einzelstück und Einzeller zu Amöbe. Soviel zur Form.

Inhaltlich soll auf einige Passagen eingegangen werden, die psychopathologisch von Interesse sind, wobei psychopathologisch erneut im erläuterten Sinne zu verstehen ist und nicht bedeutet, dass pathologische Phänomene zum Ausdruck kommen. Eingangs werden deutliche Stimmungsschwankungen berichtet, wobei an anderer Stelle auch Wutanfälle erwähnt werden. Recht ausführlich geht Frau Zschäpe auf die Medikamentenfrage ein, Seite 79. Dabei wird deutlich ein starker Wunsch nach Kontrolle – ’nichts aufdrängen lassen‘, ‚keinen Realitätsverlust‘ -, aber auch ein Bemühen um Beherrschung …“ RAin Sturm bittet ohne Mikrofonverstärkung darum, dass Saß langsamer vorträgt. Saß beginnt wieder etwas weiter vorne: „Eingangs werden deutliche Stimmungsschwankungen berichtet, wobei an anderer Stelle auch Wutanfälle erwähnt werden. Recht ausführlich geht Frau Zschäpe auf die Medikamentenfrage ein, Seite 79. Dabei wird deutlich ein starker Wunsch nach Kontrolle – ’nichts aufdrängen lassen‘, ‚keinen Realitätsverlust‘ -, aber auch ein Bemühen um Beherrschung, etwa wenn es heißt, sie würde bei eventueller Depressivität ‚ums Verrecken Willen‘ keinen daran teilhaben lassen. Käme es unter bestimmten Umständen doch zum Akzeptieren von Medikamenten und der Kontrolle ihrer Einnahme, so sähe sie das als Verlust der Selbstachtung an.

Zusätzlich werden in dieser Passage energische, kämpferische, durchsetzungsstarke Eigenschaften deutlich, immer noch Seite 79: ‚dreiste Person hat es gewagt, mich um Abgabe zu bitten. Das hat sie kein weiteres Mal getan.‘ ‚Abgabe‘ bezieht sich dann auf Medikamente. Erkennbar werden im Brief ein hoher, perfektionistischer Anspruch an sich sowie das Streben nach Autonomie. So etwa, als sie auf Seite 84 über eine Vernehmungssituation und die Rolle des Anwaltes schreibt, dass sie sich selbst verteidigt hätte. Dann hätte sie diesen Karren zwar gründlich gegen die Wand gefahren, wäre aber wenigstens die Fahrerin gewesen. Dies sind ähnliche Themen, wie sie später im Prozess während der Verteidigerkrise virulent gewesen sein mögen. Ein Beispiel für einen gewissen Witz ist die wohl ironische Bemerkung im Anschluss an das Zerreißen von Geschriebenem, ja, auch sie könne schreddern, Aktenseite 83. Andere Äußerungen betreffen die Empathiefrage, wobei der Eindruck entsteht, dass es in bestimmten Situationen durchaus Empathie gibt, aber offenbar auch die Fähigkeit, diese abzuschalten oder zu kontrollieren.

Hinsichtlich des Verhältnisses zu Männern gibt sie sich überlegen, etwa wenn sie den jüngeren Briefpartner als ihren kleinen Gockel bezeichnet. An anderer Stelle nennt sie sich selbst die ‚Emanze Beate‘. Im Übrigen wird zum Ausdruck gebracht, dass sie ehrgeizige Männer schätze, etwa, wenn es heißt, bei einem Mann törne es sie ab, wenn er alles wolle, aber nichts könne und, am schlimmsten, nichts dagegen tue. Resümierend erweist sich die Autorin des Briefes m.E. als sprachkompetent, durchaus intelligent und um Witz und Originalität bemüht. Deutlich wird auch, dass sie im zwischenmenschlichen Bereich erfahren ist, mit zuweilen gut nachvollziehbaren Einschätzungen von sich selbst und ihrer Umwelt. Ferner gibt es im Brief Hinweise auf eine emotionale Labilität, Verstimmbarkeit und Impulsivität. Andererseits betont sie aber auch ihr Bemühen um Beherrschung, Kontrolle und Autonomie und das Sich-Wehren gegen Fremdbestimmung. In ihrer Selbstdarstellung erscheint sie als selbstbewusst, autark, stolz, unbeugsam, auch schreibt sie sich Zuverlässigkeit und Fairness gegenüber echten Freunden zu.

Erkennbar werden Tendenzen zu Dominanz, Härte, Durchsetzungsfähigkeit und Diskussionsfreude. Schließlich gibt es ein Spielen mit Rollen und offenbar eine Freude daran, ein interessantes, schillerndes Bild von sich zu zeichnen. Dagegen gibt es im Brief keine Hinweise für eine psychische Erkrankung mit schwerwiegenden Verstimmungen oder Störungen der Realitätskontrolle, ebenso keine Hinweise auf eine massive Persönlichkeitsstörung. Das aus dem Schreiben entstehende Bild spricht gegen die Hypothese einer schwachen, abhängigen, fremdbestimmten und sich resignierend unterordnenden Person. Hinweise für Brüche in der Entwicklung, eine persönliche Erschütterung oder eine innere Umkehr lassen sich aus dem Brief nicht entnehmen. Allerdings ist dabei natürlich zu berücksichtigen, dass der Brief vor dem Prozess und im Wissen um eine mögliche Kontrolle verfasst wurde. Würde man den Brief weglassen, so ergäbe sich kein gänzlich anderes Bild von der Angeklagten. Vielmehr entspricht das Schreiben der Charakterisierung der Persönlichkeit, wie sie sich aus den Zeugenschilderungen und auch den Beobachtungen in der Hauptverhandlung ergibt. Von daher reiht der Brief sich schlüssig und ergänzend in die übrigen Informationen ein. Das spricht für eine Kontinuität der wesentlichen Persönlichkeitszüge von Beginn der Berichtszeit Mitte der 90er Jahre bis in die Gegenwart.“ Dann sagt Saß: „Jetzt käme ein gewisser Einschnitt, weil ich mit der Beurteilung beginnen würde.“ Götzl: „Ja, wir machen eine Pause bis 13:50 Uhr.“ Es folgt eine Pause bis 13:53 Uhr.

Danach sagt Götzl: „Wir setzen fort und setzen auch mit der Gutachtenserstattung fort.“ Saß: „Ich komme zur Beurteilung.“ RA Stahl: „Herr Vorsitzender, uns ist bei der zurückliegenden Gutachtenserstattung durch Prof. Dr. Saß aufgefallen, dass er doch weitestgehend verliest, wahrscheinlich ein modifiziertes ergänzendes Gutachten. Aus Praktikabilitätserwägungen rege ich an, dass dieses ergänzende Gutachten, wenn wir das haben könnten, würde das die Situation für uns erheblich entzerren. Das rege ich an, ob man das so machen könnte, denn es scheint ja vorhanden zu sein.“ Stahl sagt, als Saß in der Vergangenheit bereit gewesen sei sein Gutachten zu erstatten, habe er viele handschriftliche Dinge um sich herum gehabt, das sehe jetzt aber nicht so aus. Götzl fragt Saß: „Wie sieht es aus mit der Unterlage, die Sie verwenden?“ Saß: „Ich habe ein ausgearbeitetes Manuskript, das allerdings – je nachdem, was hier so vor sich geht [phon.] – Ergänzungen, Modifikationen enthält und ich habe die exakt vermerkt.“ Götzl: „Wären Sie bereit, das auch den Verfahrensbeteiligten zur Verfügung zu stellen?“ Saß: „Ich hatte mich auf ein mündliches Gutachten eingestellt. Ich müsste allerdings die handschriftlichen Ergänzungen, die genau das darstellen, was ich gesagt habe, noch einfügen. [phon.]“ Götzl: „Maßgeblich wäre natürlich, was Sie gesagt haben, aber das wäre die Grundlage.“

Stahl sagt, dann müsse das auch nicht mehr so langsam vorgetragen werden. Götzl sagt, es seien ja Abweichungen vom Konzept da, deswegen müsse er schon darum bitten, dass mitgeschrieben und sich nicht auf das schriftliche Konzept verlassen wird. Saß: „Ich kann auch versuchen, da, wo es in meinen Augen Veränderungen gibt, darauf hinzuweisen, dass ich das vermerke.“ Götzl: „Möglicherweise können Sie es einfügen und zur Verfügung stellen.“ Saß: „Ich kann das heute Abend einfügen und auf einem Stick zur Verfügung stellen.“ Saß sagt er komme jetzt zur Beurteilung. Zunächst bekommt aber erneut RA Stahl das Wort und sagt, dass die Praktikabilitätserwägungen natürlich nur dann greifen würden, wenn das, was Saß zur Verfügung stellt, auch mitgelesen werden könne, wenn es vorliege. Götzl entgegnet, dass eine mündliche Gutachtenserstattung vorgesehen sei. Er werde auch mal dazwischen fragen, so Götzl, und es sei kein Wortprotokoll [phon.]: „Insofern wird Ihnen trotzdem nichts übrig bleiben als dem Sachvortrag zu folgen und es mitzuschreiben.“ Stahl: „Wir hatten ja auch das vorbereitende Gutachten und das ließ sich in der Tat mitlesen, die Passagen, die er da vorgetragen hat. Die Passage war neu, die musste man komplett mitschreiben.“ Götzl: „Es wird uns ja nichts anderes übrig bleiben. Aber in Aussicht steht das Konzept, das das ganze erleichtert. Aber vorgesehen ist der mündliche Vortrag.“ Saß: „Ich werde keine Änderungen gegenüber dem Manuskript jetzt machen und wenn, dann werde ich drauf hinweisen.“ Götzl: „Dann können wir es auch so machen. Ich möchte jetzt zur mündlichen Gutachtenserstattung kommen. Sie können ja auch mitschreiben, vielleicht verkürzt, wie Sie das für nötig erachten.“ [phon.]

Saß: „Also, ich komme, nachdem die Materialien jetzt dargelegt sind, zur Beurteilung und beginne mit dem Alkohol. Zunächst ist auf rein medizinischem Gebiet festzustellen, dass bei der Angeklagten Anhaltspunkte für körperliche oder psychische Erkrankungen, die Relevanz für die dem Sachverständigen in diesem Verfahren gestellten Fragen hätten, nicht vorliegen. Auch habe es keine Probleme mit Drogen oder Medikamenten gegeben. Die Trinkgewohnheiten, wie sie von Frau Zschäpe erstmals am 09.12.2015 dargestellt wurden, ergeben das Bild eines langjährigen, nahezu gewohnheitsmäßigen Alkoholkonsums mit zeitweise auch Zügen eines Missbrauchs. Dieser war allerdings nicht kontinuierlich, sondern konnte in der Intensität je nach den situativen Gegebenheiten schwanken und ließ Zeiten geringen Konsums oder der Karenz zu, ohne dass Entzugserscheinungen aufgetreten sind. Wenn Frau Zschäpe angibt, dass sie bei Belastungen durch Konflikte oder Sorgen vermehrt getrunken hat, so würde man das als Erleichterungstrinken bezeichnen.

Zwar soll es zeitweise mehrmals wöchentlich zu abendlicher Trunkenheit gekommen sein, so dass sie gelegentlich am Morgen keine Erinnerung gehabt habe. Schwerere, kontinuierlich auftretende Ausfälle im körperlichen oder geistigen Leistungsvermögen fehlen jedoch ebenso wie Hinweise für eine so genannte Persönlichkeitsdepravation, wie sie durch alkoholtoxische Schädigungen von Gehirn und Psyche eintreten kann. Damit hat es sich diagnostisch bei der Angeklagten am ehesten um einen schädlichen Gebrauch von Alkohol nach ICD-10 [phon.] gehandelt, obwohl das Kriterium einer tatsächlichen Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit nicht gesichert ist. Für die forensischen Fragestellungen bedeutet das geschilderte Trinkverhalten, dass keine suchtartige Alkoholkrankheit vorgelegen hat. Daraus folgen angesichts der Art der angeschuldigten Delikte und ihrer langen zeitlichen Erstreckung keine überdauernden Beeinträchtigungen in Hinblick auf die Frage der Schuldfähigkeit. Auch hinsichtlich der Brandlegung am 04.11.2011 haben sich aus psychiatrischer Sicht, dies in völliger Übereinstimmung mit der rechtsmedizinischen Beurteilung, keine relevanten Beeinträchtigungen der physischen oder kognitiven Leistungsfähigkeit ergeben. Dabei sind weniger die errechenbaren Blutalkoholkonzentrationen, die sich auf angegebene Trinkmengen stützen müssen und großen Unsicherheiten unterliegen, von Bedeutung, vielmehr kommt es auf die psychopathologisch verwertbaren Befundtatsachen an.

Die eigenen Angaben von Frau Zschäpe und die Zeugenschilderungen enthalten keine Verdachtsmomente für wesentliche trunkenheitsbedingte Ausfallerscheinungen zur Vorfallszeit, vielmehr war das Verhalten offenbar geordnet, motorisch koordiniert und gedanklich umsichtig. Bemerkenswert sind vor allem auch die von Frau Zschäpe geschilderten Überlegungen und Vorsichtsmaßnahmen mit einer sehr differenzierten Prüfung und Beurteilung der Situation, womit sie Gefährdungen der Frau E. und der Arbeiter im Haus habe vermeiden wollen. Das passt nicht zu einer stärkeren Berauschung mit relevanter Beeinträchtigung der kognitiven oder voluntativen Funktionen, also des Erkennens [phon.] und der Willensbildung. Das nächste, worauf ich eingehen möchte, ist die Persönlichkeit. Da psychische Krankheiten, eine belangvolle Alkoholsucht oder ein aktueller Rausch im Zusammenhang mit den Delikten nach den vorliegenden Informationen nicht vorgelegen haben, besitzt für die forensische Beurteilung vor allem die Einschätzung der Persönlichkeit Gewicht. Dabei stütze ich mich zunächst nur auf die Feststellungen in der Hauptverhandlung, Zeugen etc. [phon.], ohne Berücksichtigung der Beobachtungen in der Hauptverhandlung.

Insgesamt ergibt sich daraus, dass Frau Zschäpe unter relativ schwierigen, aber keineswegs massiv gestörten oder traumatisierenden Bedingungen aufgewachsen ist. Zwar gab es auf Seiten der Mutter Unstetigkeit und soziale Probleme, doch verschafften die Familie Apel und die Großmutter einen familiären Rückhalt. Somit erschien auch ihre Persönlichkeit, selbst wenn es bei dem jungen Mädchen innerlich manche Spannungen und Defizite im Identitätsgefühl gegeben haben mag, später als zunehmend selbstbewusst, kräftig und burschikos, dabei vor allem auf einen Umgang mit männlichen Partnern und auf die Durchsetzung einer gleichberechtigten Stellung ausgerichtet. Dass eine Lehre zur Gärtnerin abgeschlossen wurde, spricht ebenfalls gegen erhebliche Defizite in der Persönlichkeit, dies sowohl hinsichtlich Intelligenz wie auch Leistungsvermögen, Frustrationstoleranz und Durchhaltefähigkeit. Allerdings haben da wohl Entwicklungen begonnen, die dann zunehmend in Dissozialität und Delinquenz geführt haben. Möglicherweise trug dazu bei, dass damals, wie verschiedene Zeugen berichteten, in der auslaufenden DDR-Zeit Autoritäten an Bedeutung verloren haben, dass der Einfluss durch Schule, Lehrer oder Ausbilder schwand und staatliche Instanzen, Polizei und Gerichte bei den jungen Leuten in schlechtem Ansehen standen.

Westliche Musik mit Protestcharakter sowie spezielle Untergrundgruppen besaßen große Attraktivität. Hinzu kamen jugendtypische Phänomene, also Freude an Protest, Kritik an der Obrigkeit, verbindende Gemeinschaftserlebnisse bei Konzerten, Tanzveranstaltungen, Grillabenden, so wie wir das gehört haben. Offenbar wuchs bei den jungen Leuten in der Jenaer Szene und vor allem bei der verschworenen Gemeinschaft von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe die Bereitschaft zu politischen Aktionen und schließlich auch zu gewalttätigem Vorgehen. Wenn ich ‚verschworene Gemeinschaft‘ sage, ist das natürlich wieder eine Einschätzung, die aber durch die vielen Zeugenaussagen meines Erachtens gut getragen ist. Im Dreierkreis mit den beiden Uwes blieben offenbar die dissozialen Tendenzen von Frau Zschäpe bestehen. Allerdings betrafen sie nicht mehr den Eigentumsbereich, sondern standen nun in einem politisch-ideologischen Zusammenhang. Sie selbst sprach in diesem Zusammenhang von nationalistischem Gedankengut.

Dieser Begriff erscheint jedoch deutlich verharmlosend, da es sich nach den Erhebungen in der Hauptverhandlung durchaus um rechtsradikale, ausländerfeindliche und antisemitische Ideologien gehandelt hat. Eingebettet in eine starke rechte Szene in Jena-Winzerla festigte sich offenbar die stabile Dreiergemeinschaft mit hoher Solidarität und Loyalität, aber auch mit einer zunehmenden Ausrichtung auf antisoziale Aktionen einschließlich Gewalthandlungen. Dabei hob Frau Zschäpe in ihrer Selbstdarstellung vor allem auf die Bedeutung äußerer Umstände ab. Beispiele sind die negativen Erlebnisse mit Polizei, Presse und Behörden, wodurch sie in ihrer damaligen Protesthaltung bestärkt worden sei und die sie zu weiteren Aktionen veranlasst hätten, der Hinweis, dass sie zu ihrem Verhalten in rechtsgerichteten Jugendgruppen animiert habe, sodann die Zuschreibung von Waffen und NS-Symbolen in ihrer Wohnung an Uwe Böhnhardt, ferner das angebliche Verschweigen von brisanten Stoffen in der von ihr gemieteten Garage durch die beiden Uwes und vor allem die Betonung der Rolle von für die damaligen politischen Entwicklungen.

Das sollen alles Beispiele dafür sein, dass auf äußere Umstände abgehoben wurde. Hier scheint es also, das wäre die psychiatrische Bewertung, eine Neigung zum Externalisieren und auch zum Bagatellisieren zu geben. Ihre eigene Rolle hat sie dagegen eher als untergeordnet beschrieben. Zeugenschilderungen dagegen aus der Zeit ab Mitte der 90er Jahre charakterisieren sie zwar als freundlich, aufgeschlossen, unkompliziert, burschikos, gesellig und humorvoll, aber eben auch als selbstbewusst, gleichberechtigte Position in der Dreiergruppe, politisch interessiert und in der Lage, ihre Meinung zu vertreten, keineswegs lediglich angepasst im Schlepptau der jungen Männer. Sämtliche Informationen aus der damaligen Zeit laufen darauf hinaus, dass sie durchaus ein energisches, wehrhaftes, eigenständiges und anerkanntes Mitglied in der rechten Szene war. Verwiesen sei auch auf die verlesenen oder in Augenschein genommenen Informationen etwa über die Ausstattung des Zimmers von Frau Zschäpe in der Schomerusstraße, über das Verfahren in Gera oder die Feststellungen anlässlich von Demonstrationen oder die Durchsuchungen von Fahrzeugen, auch die Beobachtung der Zeugin J. über die Waffe ‚Walli‘ und die Schilderung einiger Zeugen mit Hinweisen für Aggressivität und Tätlichkeiten.

Ebenfalls deutlich wurde aus den Zeugenschilderungen, dass Frau Zschäpe offenbar während des Doppellebens nach dem Untertauchen die Fertigkeiten im Einnehmen von Alias-Rollen weitgehend perfektioniert hat. Das Aufrechterhalten einer Legende über viele Jahre in der , in der Frühlingsstraße und bei den wiederholten Campingurlauben, wo man ja Wochen in relativ enger Gemeinschaft verbrachte, spricht für Disziplin, Raffinesse, eine extrem hohe Fähigkeit zu Camouflage, aber eben auch eine gute Abspaltungsfähigkeit. Auch diese letzten Dinge, die ich genannt habe, stellen Bewertungen dar, die sich aber auf die vorgetragenen Informationen stützen. Resümiert man also die in den vorangegangenen Abschnitten enthaltenen Informationen zur Persönlichkeit von Frau Zschäpe aus psychiatrischer Sicht zusammen, so stehen im Vordergrund dissoziale oder antisoziale Tendenzen, eine Neigung zum Externalisieren, Verdrängen und Abspalten, aber auch zu dominantem und manipulativem Verhalten, ferner egozentrische und auf Wirkung bedachte Züge, ein Mangel an Gemüthaftigkeit und Empathie.

Dem genannten steht nicht entgegen, dass Frau Zschäpe durchaus auch als freundlich, sozial gewandt, fürsorglich und angenehm im Kontakt geschildert wurde, wie sie auch im Prozessverlauf manche Züge mit charmantem Umgang und einer gut angepassten Fassade gezeigt hat. Jetzt eine Bemerkung im Hinblick auf die Leitung durch den Senat: Lasse ich alle aus der Beobachtung der Angeklagten im Prozess gewonnenen Aspekte weg, so ergibt sich keine grundsätzlich andere Beurteilung der Persönlichkeit, weil, was ich beschrieben habe, ganz wesentlich auch von den Zeugenschilderungen getragen wird. Schließlich hat es noch die Erklärung von Frau Zschäpe zu ihrem Verhalten und ihren Persönlichkeitseigenschaften vom 10.01.2017 gegeben. Darin wird die von mir vorgetragene Persönlichkeitsbeurteilung teilweise bestätigt, teilweise ergeben sich Unterschiede, insbesondere wenn sie ihre Schwäche und Abhängigkeit von den Partnern herausstellt. Dass dies in Diskrepanz zu vielen Zeugenschilderungen über viele Jahre hinweg steht, wurde schon ausgeführt.“

Saß fährt fort: „Jetzt würde ich im nächsten Abschnitt zur Schuldfähigkeit kommen. Auch da gibt es kleine Abweichungen, auf die ich aufmerksam machen würde. Hinsichtlich der psychopathologischen Voraussetzungen der Paragraphen 20, 21 des StGB haben sich aus der gesamten Hauptverhandlung keine Hinweise für das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder eines Schwachsinns ergeben. Der betriebene Alkoholkonsum hat sicherlich zumindest zeitweise das Ausmaß eines schädlichen Gebrauches erreicht. Eine Abhängigkeitserkrankung, die nicht mehr steuerbar gewesen wäre, ist jedoch nach allen vorhandenen Informationen nicht eingetreten. Auch beim Delikt vom 04.11.2011 hat keine Berauschung in einem für die Schuldfähigkeit relevanten Ausmaß vorgelegen. Und jetzt die Zusatzbemerkung: All die genannten Aussagen zur Schuldfähigkeit gelten auch bei Außerachtlassung der Beobachtungen der Angeklagten in der Hauptverhandlung, weil sie ganz wesentlich auf Zeugenschilderungen gegründet sind. Die Persönlichkeit der Angeklagten weist nach den vorhandenen Zeugenschilderungen keine so abnormen Züge auf, dass von einer Persönlichkeitsstörung im Sinne der psychiatrischen Klassifikationssysteme zu sprechen wäre.

Selbst wenn man, was mangels Explorationsmöglichkeit und weiterer Informationen derzeit nicht zu verifizieren ist, zur Annahme einer Persönlichkeitsstörung käme, so ist doch insgesamt nicht zu erkennen, dass die vorliegenden Eigenschaften die geistig-seelischen Funktionen von Frau Zschäpe in einer ähnlichen Weise beeinträchtigen, wie es bei krankhaften seelischen Störungen der Fall ist. Bloßes dissoziales bzw. antisoziales Verhalten genügt nicht für die Annahme einer Persönlichkeitsstörung mit Auswirkungen auf die Verantwortlichkeit. Gleiches gilt für das Vorliegen intensiver politisch-ideologischer Überzeugungen. Auch das reicht nicht für eine Persönlichkeitsstörung mit Auswirkungen auf die Verantwortlichkeit. Diese Diskussion ist geführt worden bei Gesinnungsdelikten fanatischer Täter. Es handelt sich dabei um deviante Wertorientierungen bei grundsätzlich erhaltenen Fähigkeiten zur Urteilsbildung. Solche Täter nehmen sich das Recht, anders als es den gültigen Regeln entspricht, über gut und böse, richtig und falsch zu urteilen und entsprechend zu handeln. Das berührt aber beim Fehlen von psychischer Krankheit die Verantwortlichkeit nicht.

Sollte man abweichend von dieser Einschätzung die Hypothese zugrunde legen, dass es sich um eine schwache, abhängige und von den Partnern dominierte Persönlichkeit gehandelt haben könnte, so wäre aus psychiatrischer Sicht auch dabei nach allen vorliegenden Informationen keine so starke Deformierung der Persönlichkeit zu konstatieren, dass von einer klinisch und v.a. forensisch relevanten Persönlichkeitsstörung zu sprechen wäre. Die bei Frau Zschäpe zu beobachtenden Persönlichkeitsmerkmale lassen sich deskriptiv fassen als eine akzentuierte Persönlichkeit mit dissozialen bzw. antisozialen und histrionischen Zügen. Dabei wird jedoch, soweit aus den Zeugenschilderungen ersichtlich, das Ausmaß einer sogenannten ’schweren anderen seelischen Abartigkeit‘ nicht erreicht. Für die Schuldfähigkeitsfrage spielen die genannten Persönlichkeitszüge m.E. keine wesentliche Rolle. Ich möchte ein Wort noch problematisieren: Ich habe gesagt: ‚zu beobachtende Persönlichkeitsmerkmale‘. Wenn ich mich exakt an den Hinweis halte, lassen sich diese Persönlichkeitsaspekte auch ohne meine Beobachtungen beschreiben aus den Zeugenschilderungen. Ich ändere also: ‚Die bei Frau Zschäpe zu beschreibenden Persönlichkeitsmerkmale‘, um dem Fehlschluss vorzubeugen, dass dies wesentlich auf Beobachtungen in der Hauptverhandlung beruht.“ [phon.]

Saß: „Ich würde jetzt Ausführungen zur Frage von Gefährlichkeit und Hang machen. Die sind in Teilen gleich, in Teilen neu. Aus psychiatrischer Sicht äußert sich der Hang als eine progrediente Entwicklung zu aktiver Delinquenz, die auf dissozialem Verhalten und der Identifikation mit einem kriminellen Lebensstil beruht. Ein Hangtäter ist eine Person mit einer stabilen und persönlichkeitsgebundenen Bereitschaft, aktiv oder Tatanreizen folgend kriminell zu handeln. Es gibt andere Beschreibungen, wonach der Hang als fest eingewurzelte Neigung und eingeschliffener innerer Zustand bezeichnet wird. Dabei ist die Aufgabe des psychiatrischen Gutachters darauf beschränkt, die Persönlichkeitsmerkmale einer Person darzustellen, die für eine Beurteilung ihres Hanges und der ihr zu stellenden Gefährlichkeitsprognose bedeutsam sind. Und zwar für die durch das Gericht zu stellende Gefährlichkeitsprognose – mir kommt es darauf an, da zu differenzieren.

Die Orientierung kann anhand von Kriterien erfolgen, die Eingang in Lehr- bzw. Handbücher des Faches gefunden haben. Ich habe eine Publikation von Habermeyer aus 2004 angeführt. [phon.] Auf diese Kriterien werde ich am Schluss im Einzelnen zurückkommen. Im konkreten Fall von Frau Zschäpe muss die Befassung mit der Hangfrage wegen der starken Diskrepanzen zwischen der Darstellung in der Anklageschrift und der Selbstdarstellung von Frau Zschäpe in alternativer Form erfolgen. In einem ersten Szenario soll von den wiederholten Erklärungen der Angeklagten in der Hauptverhandlung ausgegangen werden. Danach habe sie von den Raubdelikten zwar gewusst und profitiert, doch seien die übrigen Delikte jeweils ohne ihr Vorwissen und entgegen ihrer entschiedenen Ablehnung, die sie gegenüber den beiden Partnern wiederholt und massiv zum Ausdruck gebracht habe, verübt worden. Eigene Täterschaft bestehe lediglich für die Brandlegung, die allerdings auch auf die Wünsche der beiden Uwes und auf ihnen gegebene Versprechen zurückgehe.

Diesen Angaben zufolge hätte Frau Zschäpe zwar im Untergrund mit den Männern mehr oder weniger eng zusammengelebt und ihnen einen häuslichen Rahmen und familienähnlichen Rückhalt verschafft, doch werden eine aktive Mitwirkung an Willensbildung, Planung und Durchführung negiert. Vielmehr wäre sie ohne viel eigenes Mittun aus der Entwicklung der Verhältnisse in Jena während der letzten Jahre vor dem Untertauchen und aus der engen Dreierkonstellation mit den beiden Partnern heraus in ein 13 Jahre währendes Leben mit Illegalität und Straftaten geraten. In einer solchen Konstellation wäre der Anteil der von der Angeklagten ausgehenden kriminellen Energie im Vergleich zu den beiden Partnern deutlich geringer. Insbesondere die gravierendsten Delikte, also die Tötungshandlungen und die Sprengstoffattentate, wären danach nicht mit den eigenen Intentionen und Werthaltungen in Übereinstimmung gewesen, sondern hätten in diametralem Gegensatz dazu gestanden. Dies soll auch einen zeitweisen Rückzug in der Beziehung, eine gewisse Entfremdung und darüber hinaus eine Suche nach Erleichterung durch das Trinken von Alkohol zur Folge gehabt haben.

In Einklang mit einer solchen Sichtweise stünde die Verurteilung der Taten in ihren jetzigen Erklärungen vor Gericht und die Angabe von Frau Zschäpe, dass sie eine moralische Schuld übernimmt. Sollte die skizzierte Position emotionaler Abhängigkeit und eines mehr oder weniger passiven Duldens, wie sie Frau Zschäpe in ihrer Selbstdarstellung gibt, im großen und ganzen zutreffen, so ist zwar auch in diesem Falle eine beträchtliche Nähe zu Regelverstößen und Straftaten zu erkennen. Dennoch erschiene, wenn man ihrer Beschreibung der Rollenverteilung im Dreierverhältnis folgt, die eigenständige kriminelle Energie aus psychiatrischer Sicht nicht als so gravierend, dass eine dauerhafte, tief in ihre Persönlichkeit eingeschliffene Disposition zur Begehung gefährlicher Taten gesichert wäre. Die Plausibilität dieses Szenarios zu beurteilen ist nicht Aufgabe des Sachverständigen. Es lassen sich aber einige Gesichtspunkte dazu nennen aus forensisch psychiatrischer und psychopathologischer Sicht.

Die sukzessive in verschiedenen Prozessstadien erfolgten Erklärungen der Frau Zschäpe sind dadurch gekennzeichnet, dass sie überwiegend nach langer Vorbereitungszeit von den Verteidigern verlesen und nur einmal in knapper, recht unpersönlich wirkender Form ganz am Ende selbst vorgetragen wurden. Zu einer unmittelbaren, persönlichen Beantwortung von Fragen in der Hauptverhandlung kam es nicht. Sicherlich ist dabei zu berücksichtigen, dass Frau Zschäpe nach ihren Angaben zu Beginn des Prozesses aufgefordert war, Schweigen zu üben. Dies hat sie zuletzt in der Erklärung vom 10.01.2017 noch einmal bekräftigt. Daran fällt zum einen die mehrfach beschriebene Neigung auf, die Verantwortung für das eigene Verhalten nach außen zu verlagern. Außerdem hatte sich diese Situation bereits nach der zunächst noch vagen Ankündigung gegenüber dem Gericht, eventuell etwas sagen zu wollen, geändert. Unklar erscheint, warum nach dem Entschluss, sich nunmehr zu erklären und auf Fragen zu antworten, weiterhin eine überaus kontrollierte Haltung durchgängig beibehalten wurde. Psychologisch plausibel wäre auch gewesen, wenn in diesem Prozessstadium die von ihr angegebenen Regungen von Abscheu, moralischer Verurteilung und Schuldgefühl einen persönlicheren Ausdruck im Verhalten gefunden hätten.

Nicht ganz plausibel erscheint auch die in der Erklärung vom 10.01.2017 gegebene Erläuterung, dass nach dem Wechsel der Verteidigerstrategie die Beherrschung dazu dienen sollte, einen öffentlichen Zusammenbruch zu vermeiden und die Verhandlungsfähigkeit zu sichern. In dieser Zeit machte sie nämlich einen stabilen, belastbaren Eindruck, anders als es in manchen früheren Prozesszeiten [phon.] der Fall war. Aus der Zeit der Konflikte um die Verteidigung erscheint von Bedeutung, dass Frau Zschäpe in solchen Situationen nicht unbedingt passiv verharrte, sondern sich wehrte, durchsetzungswillig war und ein entschiedenes, zuweilen fast feindselig anmutendes Verhalten zeigte, auch war sie in der Lage, ihr energisches Vorgehen bis zu dem von ihr erwünschten Erfolg durchzuhalten. Natürlich lässt sich diese Situation nicht ohne weiteres gleichsetzen mit ihrer Stellung während der Zeit im Untergrund gegenüber den damaligen Lebenspartnern, auch ist weiterhin zu berücksichtigen die Möglichkeit, dass es zu einer gewissen Weiterentwicklung der Persönlichkeit gekommen ist. Dennoch stimmen die Beobachtungen während des Prozesses kaum damit überein, wie Frau Zschäpe sich selbst charakterisiert hat.

Lässt man beim alternativen Vorgehen die Informationen und Beobachtungen zum Verhalten in der Verteidigerfrage außer Acht, so wird die Argumentationslinie etwas weniger dicht, aber die Einschätzung bleibt wegen der übrigen genannten Informationen erhalten. Hinzuweisen ist nämlich auf die zahlreichen Zeugenschilderungen aus der Zeit vor dem Untertauchen über die Persönlichkeit von Frau Zschäpe, ihre Position in der Gruppe, ihr Selbstbewusstsein und ihre Eigenständigkeit, auch was politische Meinungen angeht. Das spricht eher gegen die Annahme, dass sie sich über eine sehr lange Periode entgegen ihrer eigenen Auffassung in einer so wichtigen und dramatischen Frage wie dem Begehen einer Serie von Tötungshandlungen dem Willen der beiden Lebenspartner gebeugt hätte. Ebenso deutet das durch Nachbarn und Urlaubsbekannte gezeichnete Bild vom Zusammenleben der Gruppe während der Zeit im Untergrund nicht darauf hin, dass sie resignierend ein Leben geführt hätte, das den eigenen Intentionen widerspricht. Stattdessen erschien sie auch diesen Zeugengruppen gegenüber überwiegend als freundlich, aktiv, unterhaltsam, im Einklang mit der Gruppe, selbstbewusst, gleichberechtigt und keineswegs wie ein Mensch, der durch Gewissenslasten niedergedrückt wäre.

Die dort beschriebene Unbefangenheit ihres Auftretens spricht gegen eine Situation des Unwohlseins, der Unfreiwilligkeit und der inneren Konflikte. Psychologisch nicht ohne Weiteres stimmig erscheint schließlich die Darstellung, wonach die Partner ihre Situation und die Zukunftsaussichten durchgängig als desolat angesehen hätten – ‚das Leben verkackt‘. Dies wäre schwerlich in Einklang zu bringen mit den offenbar lebhaften, wohlgelaunten und umfangreichen Urlaubsaktivitäten über viele Jahre, dem sportlichen Engagement in Form von Fitnessbemühungen, Surfen, Radlerhobby, Motorbootfahren usw. In diese Richtung gehen etwa auch die Eindrücke, die sich aus den in der Hauptverhandlung gezeigten Urlaubsfotos vom Sommer 2004 ergeben. Frau Zschäpe gab hierzu in der Erklärung vom 10.01.2017 an, sie hätte dringend Abwechslung und einen Tapetenwechsel benötigt. Das kann aber m.E. die beschriebene Diskrepanz nicht beseitigen.

Zudem fanden wohl auch weitere Urlaubs- und sonstige Planungen für das Jahr 2012 statt, z.B. hinsichtlich finanzieller Reserven wegen einer erwarteten Umstellung des Geldverkehrs im Bankenwesen. Also Urlaubsplanungen und sonstige Planungen, die durchaus eine in die Zukunft gerichtete Intentionalität ergeben. Als letzten Gesichtspunkt bei der Erörterung des ersten Szenarios sei auf das Ausdrucksverhalten eingegangen, wie es sich innerhalb der Hauptverhandlung beobachten ließ. Dabei fanden sich bei Frau Zschäpe keine Hinweise, die deutlich für eine Authentizität der verschiedenen Erklärungen sprechen können, etwa Anzeichen einer persönlichen Betroffenheit, eines gefühlsmäßigen Mitschwingens und einer spürbaren Anteilnahme an den Aussagen der Zeugen in entsprechenden Situationen in der Hauptverhandlung, die zeitweise durchaus einen emotional stark berührenden Charakter trugen. Auch diese zuletzt genannten Gesichtspunkte, die sich aus Beobachtungen ergeben, unterstützen die vorher genannten Gesichtspunkte, ohne dass die Argumentation allein darauf beruht. Von daher tritt beim Weglassen dieses Aspektes keine grundsätzliche Änderung in der Beurteilung ein.“

Saß geht zum nächsten Punkt über: „Jetzt würde ich auf das zweite Szenario eingehen. In einem zweiten Szenario wäre im großen und ganzen von der Darstellung in der Anklageschrift auszugehen. Darin wird das Zusammenleben [phon.] im Untergrund völlig anders geschildert als bei Frau Zschäpe. Danach müsste davon ausgegangen werden, dass sie im Wesentlichen informiert und aktiv in Planungen und Vorbereitungen einbezogen gewesen wäre bis hin möglicherweise auch zu Nachbereitungen, wie der aufwendigen, über Jahre gehenden Herstellung des so genannten Bekennervideos. Es wäre dann von einer deutlich höheren Übereinstimmung von Frau Zschäpe mit den beiden Partnern auszugehen, ferner wohl auch von einer Akzeptanz und einem Mittragen des politisch-ideologischen Begründungsrahmens für die Taten aus fremdenfeindlichem, rassistischem und nationalistischem Gedankengut. Wäre das zu unterstellen, dann wäre von einer ganz anderen kriminellen Energie zu sprechen, da es sich nicht mehr nur um ein widerwilliges Mitläufertum aus emotionaler Abhängigkeit heraus gehandelt hätte, sondern um ein partnerschaftliches Zusammenwirken mit zwar unterschiedlichen Funktionen in der Gruppe, aber dennoch einem mehr oder weniger einheitlichen Handlungswillen.

In diesem Fall wären aus forensisch-psychiatrischer und kriminalprognostischer Sicht wichtige Anhaltspunkte dafür gegeben, dass es sich bei der Angeklagten tatsächlich um einen tief eingeschliffenen inneren Zustand mit entsprechenden Verhaltensdispositionen gehandelt hat. Anhaltspunkte, aus denen ich das ableite, wären die lange Vorgeschichte mit unterschiedlicher Delinquenz schon in den Jahren vor dem Untertauchen, die zunehmende Ausrichtung auf so genanntes nationalistisches Gedankengut, die frühe Bereitschaft zu militanten rechtsradikalen Aktionen und eine allmähliche Hinwendung zu gewaltsamem Vorgehen, die Beteiligung an der Herstellung des -Spiels mit seinen menschenverachtenden Inhalten, sodann der lange Zeitraum einer engen Gemeinschaft im Untergrund mit einer, wie es die Anklageschrift anführt, Vielzahl von schweren Delikten, die massiv gegen die Normen menschlichen Zusammenlebens verstießen und insbesondere sich über die natürliche Tötungshemmung hinwegsetzten, auch wenn eine eventuelle Beteiligung der Angeklagten nur in mittelbarer Weise geschehen sei.

Zudem müsste beim Ausgehen von dieser Version konstatiert werden, dass sich auch in der Zeit danach kaum Hinweise für eine Erschütterung über das Geschehen, für eine Abkehr von einer rechten Szene und dem damit verbundenen Denken sowie eine fundamentale Änderung von Überzeugungen und Einstellungen finden lassen. Zwar gab es die Erklärungen und die knappe Äußerung von Frau Zschäpe in der Hauptverhandlung, doch wurde auf einige Gesichtspunkte zu Authentizität und Gewicht dieser Bekundungen hingewiesen. Aus ihnen lässt sich angesichts des skizzierten Persönlichkeitsbildes m.E. nicht überzeugend ableiten, dass eine grundlegende Änderung von inneren Einstellungen und Verhaltensdispositionen stattgefunden hat.“

Saß: „An dieser Stelle sollen die eben erwähnten Hangkriterien – das ist jetzt abweichend – auf der Grundlage der vorgetragenen Einschätzungen und Befunde erörtert werden. Als Kennzeichen eines Hanges im dort gemeinten Sinne kommen in Frage:
1. Eine zustimmende, ich-syntone Haltung zur Delinquenz, die also nicht etwa quer dazu steht [phon.]. Dies wäre, wenn man von Szenario 2 ausgeht, zu bejahen.
Das 2. der Kriterien lautet: Eine Schuldzuweisung nach außen, etwa zu Opfern, Außenstehenden und Umweltbedingungen. Auch dies wäre, bedenkt man die dargestellte Externalisierungstendenz, zu bejahen.
3. Merkmal: Ein fehlender Zusammenhang der Taten mit psychosozialen Auslösefaktoren oder begünstigenden Konflikten. Auch dies wäre zu bejahen, da die Delikte, folgt man Szenario 2, wohl ganz überwiegend auf frei gewählten, eigenen Entschlüssen und nicht auf Notlagen oder determinierenden äußeren Faktoren beruhten. Gemeint ist etwa, dass jemand im Rahmen einer sehr konfliktbeladenen Lebenssituation zur Tat kommt. [phon.] Solche Dinge, die als psychosoziale Auslösefaktoren oder begünstigende Konflikte einzuschätzen wären [phon.], liegen, soweit ich das sehen kann, hier nicht vor, so dass das Kriterium hier auch zu bejahen ist.
4. Eine aktive Gestaltung der Tatumstände bzw. der Taten. In Szenario 2 wäre dies ebenfalls zu bejahen.

5. Eine Spezialisierung auf bestimmte Delinquenztypen. Auch dies träfe bei Szenario 2 zu.
6. Die Integration in eine kriminelle Subkultur. Dies wäre bei Szenario 2 ebenfalls zu bejahen.
7. Das Vorliegen psychopathischer Persönlichkeitsmerkmale, etwa das Fehlen von Reue, Schuldgefühlen und Scham. Dies wäre, sofern die vorgetragene Persönlichkeitseinschätzung zutrifft [phon.], zu bejahen, nicht dagegen, wenn man von den eigenen Erklärungen einschließlich derjenigen vom 10.01.2017 ausgeht.
8. Kriterium wäre Reizhunger oder eine sozial unverbundene, augenblicksbestimmte Lebensführung. Das ist, soweit ich das sehe, bei Frau Zschäpe nicht zu belegen, trifft also nicht zu. [phon.]
Das 9. Merkmal: Die Einbettung der Taten in antisoziale Denkstile, die das eigene kriminelle Verhalten als legitim erscheinen lassen. Wenn man von Szenario 2 ausgeht, ist das nach meiner Auffassung klar zu bejahen. Natürlich nicht, wenn man von Szenario 1 ausgeht.

Resümierend ergibt sich also auch bei Zugrundelegung dieser Kriterien ein hohes Überwiegen solcher Aspekte, die für das Vorliegen eines Hanges sprechen, jedenfalls insoweit, wie es sich aus psychiatrischer Sicht beurteilen lässt. Auf den Unterschied zwischen psychiatrischer und rechtlicher Sicht habe ich schon hingewiesen. [phon.] Darüber hinaus kann beim heutigen Kenntnisstand über die Persönlichkeit nicht festgestellt werden, dass bei Frau Zschäpe ein grundlegender Wandel in Haltungen und Überzeugungen eingetreten ist. Für eine solche Veränderung fehlen vielmehr belastbare Anhaltspunkte. Deshalb müsste m.E. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass bei entsprechenden Möglichkeiten eine Fortführung ähnlicher Verhaltensweisen angestrebt wird. Auch haben sich die äußeren Bedingungen in der Gesellschaft nicht derart geändert, dass so etwas nicht mehr möglich wäre, vielmehr dürfte es weiterhin eine potenzielle Unterstützerszene für rechtsradikale und insbesondere fremdenfeindliche Gesinnungsdelikte geben.

Es kommt noch ein bisher nicht diskutierter Gesichtspunkt: Schließlich könnte noch überlegt werden, ob der Wegfall der Dreierkonstellation mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos bedeutet, dass die vorgenannten Risiken nicht mehr bestehen. Dies wäre m.E. nur anzunehmen, wenn man von Szenario 1 ausgeht und Frau Zschäpe ganz in der Rolle einer abhängigen durch die Partner bestimmten Person sieht. Wenn dagegen, wie in Szenario 2 skizziert, Gleichberechtigung, einverständiges Zusammenwirken und ein gemeinsamer Handlungswille zugrunde zu legen wären, dann bleibt es auch ohne die Partner beim hohen Risiko für weitere Handlungen ähnlicher Richtung und Art, da in geeigneter Umgebung vergleichbare Konstellationen erneut eintreten könnten. Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass ich natürlich vom jetzigen Zustand von Frau Zschäpe ausgehe.“

Saß: „Jetzt käme ich zu den Behandlungsaussichten. Da hat sich keine schwerwiegende Änderung ergeben. Je nach der Entscheidung des Gerichtes wird sich möglicherweise die Frage nach den Behandlungsaussichten stellen. Sie steht vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren als Folge der Auseinandersetzungen um die Sicherungsverwahrung und durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichtes die therapeutischen Aspekte einer derartigen Maßregel generell stark in den Vordergrund gerückt worden sind. Im konkreten Fall von Frau Zschäpe kann allerdings zur Zeit noch wenig über die Behandlungsaussichten gesagt werden, da sie nicht persönlich untersucht und hinsichtlich ihrer aktuellen Einstellungen, ihrer emotionalen Bewertung und ihrer künftigen Absichten befragt werden konnte. Dennoch ergeben sich einige Aspekte aus den vorhandenen Informationen zur Biographie und zur Persönlichkeit.

Ich habe auf die Belastung durch die unsichere Herkunft und daraus resultierende mögliche Identitätsprobleme hingewiesen. Der Anschluss an Jugendcliquen mit Dissozialität sowie später an Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dürfte in das so genannte nationalistische Gedankengut und danach zur Einbettung in Gruppierungen geführt haben, die zunehmend politisch-ideologisch radikalisiert wurden. Zum Schluss bestand offenbar die Bereitschaft, über die Teilnahme an Demonstrationen, Konzerten und symbolischen Protestaktionen hinaus auch zu Gewalthandlungen überzugehen. All dies beruht natürlich auf Szenario 2. Hinzu kämen dann die Anlasstaten während der Zeit im Untergrund. Käme es zu einer Maßregel, so müsste versucht werden, das skizzierte biographische Material und die Straftaten in gesprächstherapeutischen Aktivitäten mit der Probandin aufzuarbeiten, um nach und nach einen Verstehenshintergrund zu erarbeiten, der dann Ausgangspunkt für Veränderungen in Einstellungen und Verhalten werden kann.

Hierbei wäre sicherlich von einem langjährigen Geschehen auszugehen, das zudem sehr stark von der allgemeinen Motivation zur Mitarbeit und dann speziell davon abhängig wäre, ob und in welcher Geschwindigkeit Frau Zschäpe die Bereitschaft entwickelt, sich von bisherigen politisch-ideologischen Vorstellungen zu lösen, sofern diese noch vorhanden sein sollten. Begünstigend für einen derartigen Entwicklungsprozess wären die sicherlich recht gute Intelligenz, die Energie, das Verbalisierungsvermögen und eine soziale Kompetenz, die sich aus vielen früheren Schilderungen ihres Kontaktverhaltens und auch aus manchen der jetzt erstellten Erklärungen ergibt, falls unterstellt werden kann, dass diese im Wesentlichen von ihr selbst verfasst sind, ferner aber auch aus dem Brief an Herrn Robin S. [Schmiemann], den ich behandelt habe. Diesen potenziell die Behandlungsaussichten fördernden Faktoren steht entgegen, dass es viele Jahre in einer engen und weitgehend solidarischen Gemeinschaft mit politisch-ideologisch fixierten Vorstellungen und daraus resultierenden Verhaltensweisen gegeben haben soll.

Erfahrungsgemäß sind solche Prägungen, die dann schon in der Heranwachsendenzeit begonnen und zwei Jahrzehnte angedauert hätten, tief in der Persönlichkeit verankert. Deshalb erfordert ihre allmähliche Umgestaltung erhebliche Zeit, seelische Kraft, Frustrationstoleranz und Durchhaltewillen. Eine Erschwernis könnte darstellen, dass es bei milieutherapeutischen Behandlungsformen und Gruppenaktivitäten wohl kaum weibliche Insassen mit einem vergleichbaren Hintergrund hinsichtlich Entwicklung, Einstellungen und Delikttyp geben dürfte. Von vornherein aussichtslos erschienen solche Bemühungen nicht.“

Saß: „Jetzt komme ich zur Beantwortung der Gutachtensfragen:
1. Hinsichtlich der Schuldfähigkeit haben sich, wie oben dargelegt, keine Hinweise für das Vorliegen der psychopathologischen Voraussetzungen der Paragraphen 20, 21 StGB ergeben.
2. Aufgrund der Ausführungen kann man feststellen: Hinsichtlich des Alkohols hat sich keine Abhängigkeit vom Schweregrad eines Hanges ergeben. Damit erübrigt sich derzeit die Stellungnahme zu den Voraussetzungen des § 64 StGB. Sollte es zu einer anderen Einschätzung kommen, so wäre darauf hinzuweisen, dass ein engerer inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Alkoholkonsum und den vorgeworfenen Straftaten nicht zu erkennen ist.
3. Gesichtspunkte zu den psychopathologischen und kriminalprognostischen Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wurden beschrieben und in alternativer Form diskutiert. Hierauf und auf Fragen der Behandlung kann gegebenenfalls je nach den Vorgaben durch die Verfahrensbeteiligten in der Befragung weiter eingegangen werden.“

Götzl: „Dann darf ich mich bedanken. Zum Prozedere: Sie übergeben uns morgen noch die schriftliche Grundlage ihrer Stellungnahme?“ Saß: „Ja.“ Götzl sagt, dass RA Borchert, der sonst nicht anwesend sein könne, darum gebeten habe, bereits jetzt Fragen stellen zu können. Götzl: „Ich würde das machen, wenn keine Einwände bestehen.“ RA Borchert sagt, er habe damit augenblicklich ein Problem, etliche Passagen seien ggü. dem vorläufigen Gutachten geändert, er müsse sich das erst vor Augen führen. Götzl: „Dann würden wir für heute Ihre Anhörung unterbrechen, Herr Prof. Saß, und wir setzen dann morgen mit Ihrer Anhörung fort. Sind heute weitere Erklärungen oder Anträge?“ Götzl diskutiert kurz mit Richter Lang und Richterin Odersky. Götzl: „Im Wesentlichen wird es morgen bei Ihnen darum gehen, Herr Prof. Saß, dass Sie uns das Manuskript übergeben, nicht um eine Befragung. Wir haben morgen auch Prof. Leygraf, der aber erst um 11:30 Uhr kann. So dass sich anbietet, später zu beginnen. Wir setzen dann morgen fort, um 11:30 Uhr.“ Der Verhandlungstag endet um 15:04 Uhr.

Das Blog „NSU-Nebenklage„: „Zusammenfassend stellte [Saß] fest, in der Persönlichkeit Zschäpes bestünden dissoziale bzw. antisoziale und histrionische Züge, Hinweise auf eine Persönlichkeitsstörung oder andere psychische Erkrankung, die die Schuldfähigkeit hätte beeinträchtigen können, liegen aber, so Prof. Saß, eindeutig nicht vor. Da er als Psychiater nicht entscheiden könne, ob die Einlassungen der Angeklagten zutreffen oder nicht, beantwortete er die Frage nach einer Gefährlichkeit Zschäpes, die Voraussetzung für eine Sicherungsverwahrung ist, alternativ: Stellen sich die Angaben Zschäpes als falsch heraus und werde die Anklage bestätigt, dann bestehen wichtige Anhaltspunkte dafür, dass Zschäpes Beteiligung an den Taten des NSU Ausdruck eines ‚tief eingeschliffenen inneren Zustands‘ sind, so dass die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung gegeben sind. Interessant war insofern die Ergänzung des Gutachters, er sehe durchaus auch die Möglichkeit, dass Zschäpe ggf. wieder Personen finde, die bereit wären, mit ihr zusammen entsprechende Taten zu begehen – eine Einschätzung, die angesichts des massiven Anstiegs rassistischer Gewalttaten vor allem gegen Geflüchtete in den letzten Jahren leider sehr realistisch erscheint. Stellten sich Zschäpes Angaben dagegen als wahr heraus, so Saß weiter, dann wäre die Frage ihrer Gefährlichkeit anders zu bewerten. Allerdings gebe es aus seiner Sicht eine Reihe von Hinweisen, die die Glaubhaftigkeit dieser Angaben insgesamt in Frage stellten: Die Erklärungen wurden nach langer Vorbereitung von den Verteidigern verlesen, nur einmal verlas Zschäpe selbst in knapper, unpersönlich wirkender Form eine kurze Erklärung. Fragen wurden nicht unmittelbar beantwortet. Nachdem Zschäpe die ursprüngliche Verteidigungsstrategie des Schweigens beendet hatte, wäre es naheliegend gewesen, jetzt wirklich offen zu reden. Auch widerspreche Zschäpes Durchsetzungsfähigkeit im Kampf mit ihren Verteidigern im Verfahren und die entsprechenden Beschreibungen durch Zeuginnen und Zeugen sowie weitere Hinweise der Eigencharakterisierung Zschäpes. Es gebe auch sonst keine Hinweise für eine Authentizität der Äußerungen Zschäpes, insbesondere keine emotionale Berührtheit durch die zuweilen sehr aufwühlenden Zeugenaussagen. Als Zwischenfazit lässt sich also sagen, dass zum einen Saß die Einschätzung vieler Beteiligter, dass Zschäpes Einlassungen gar nicht überzeugend sind, zu teilen scheint, zum anderen, dass er für den Fall einer Verurteilung Zschäpes nach Anklage – und für die spricht die gesamte Beweisaufnahme – eine fortbestehende Gefährlichkeit Zschäpes attestiert.“
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/01/18/18-01-2017/

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