Die Befragung des psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Henning Saß wird an diesem Prozesstag fortgesetzt. Die sog. Alt-Verteidigung von Beate Zschäpe hat weitere Fragen zur grundsätzlichen Vorgehensweise, z.B. zu den Kriterien des Sachverständigen. Danach fragt auch die „neue“ Verteidigung von Zschäpe. Während der Befragungen gibt es viele Diskussionen mit anderen Prozessbeteiligten über die Zulässigkeit von Fragen.
Sachverständiger:
- Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrische Begutachtung von Beate Zschäpe)
Der Verhandlungstag beginnt um 09:47 Uhr. Vorsitzender Richter Götzl: „Wir setzen heute fort mit der Anhörung von Prof. Dr. Saß, den ich ebenfalls begrüße. Wir waren stehengeblieben bei Fragen von Ihnen, Herr Rechtsanwalt Stahl.“
Stahl: „Ich bitte das nicht als Provokation aufzufassen, das wirkt jetzt vielleicht so: Sind Sie der Auffassung [phon.], dass die Kriterien die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Bewertung erfüllen?“ Saß: „Ja.“ Stahl: „Warum?“ Saß: „Sie sind gewonnen aus der wissenschaftlichen Analyse von Fällen und der wissenschaftlichen Analyse der Literatur und sie sind erstellt, um das Material, was in den Gesamtkreis der Frage der Sicherungsverwahrung gehört, zu ordnen, und sie haben einen gewissen Anklang in der Literatur gefunden. Sie sind nicht in dem Sinne als Test anzusehen, wie bei Krankheitsfällen. Also wenn Sie über Hepatitis oder Krebs sprechen, dann lassen sich Kriterien definieren, die man in Laboruntersuchungen [phon.] gewinnen kann. Dies sind Kriterien, die helfen sollen und dazu geeignet sind, die Fülle des Materials, das es zu berücksichtigen gilt, zu strukturieren.“ Stahl: „Das war die Antwort?“ Saß: „Ja.“
Stahl: „Das geht ein bisschen an dem, was ich hören möchte, vorbei.“ Stahl fragt, warum diese Vorgehensweise, die Saß und sein Kollege aus ihren Erfahrungen aufgestellt hätten, wissenschaftlich sei. Saß: „Das ist nicht ganz richtig. Es ist nicht nur der Fundus der eigenen Erfahrungen, sondern auch der gesamten wissenschaftlichen Literatur, die es dazu gibt. Ja, das ist ein wissenschaftliches Vorgehen. So sind auch die Kriterien für Affektdelikte entwickelt worden, auch zu Persönlichkeitsstörungen, die auch ein Gegenstand sind. So sind die Kriterien entwickelt [phon.] worden, die Eingang in die Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten gefunden haben. Das ist ein wissenschaftliches, aus Erfahrung und Literatur gewonnenes und in der Literatur zur Diskussion gestelltes Vorgehen.“
Stahl: „In dem Kontext wäre es schön, wenn Sie mir erklären könnten, ob das unter ähnlichen Fällen zu ähnlichen Ergebnissen kommt, ob da Empirie dahinter steckt, die Belastbarkeit.“ Saß: „Da steckt eine Empirie dahinter, nämlich die Vielzahl von Beobachtungen, die gemacht worden sind von mir und Kollegen.“ Stahl: „Das ist die Antwort, die ich erwartet habe. Es sind also Erfahrungen, Ihre persönlichen, nehme ich an, die dort mit einfließen?“ Saß: „Natürlich. Ich hatte ja gesagt, es ist eine Erfahrungswissenschaft, die forensische Psychiatrie. Die Psychiatrie überhaupt.“ Stahl: „Kann ich sicher gehen, dass die Ergebnisse, die auf Ihren Erfahrungen beruhen, vergleichbar sind mit den Ergebnissen, die auf Erfahrungen anderer Psychowissenschaftler beruhen, und wenn ja, warum?“ Saß: „Begutachtungen zur Schuldfähigkeit und zur Prognose weisen, wenn es erfahrene Sachverständige sind, eine gute Übereinstimmung auf, allerdings können Sie nicht sicher sein, dass jeder Sachverständige zu identischen Ergebnissen kommt. Überprüfbarkeit anhand naturwissenschaftlicher Testverfahren, Laborbefunden, Bildgebungsbefunden ist in der forensischen Psychiatrie fast nie möglich. Das Kriterium, an dem sich die Tauglichkeit eines Gutachtens erweist, ist, ob es in sich schlüssig, überzeugend, frei von Widersprüchen und eben plausibel, also nachvollziehbar ist. Wenn es das nicht ist, gibt es ja die Möglichkeit, einen weiteren Gutachter zu holen, der ebenfalls das Material prüft und zu Schlussfolgerungen kommt. Wenn es erfahrene Gutachter sind, ist es so, dass das Ergebnis sehr oft übereinstimmend ist, selbst wenn sie von anderen theoretischen Grundlagen ausgehen, etwa tiefenpsychologisch, psychoanalytisch oder phänomenologisch orientiert [phon.]. Dennoch waren die Ergebnisse in der Regel übereinstimmend.“
Stahl: „Von der Basis dieser Analyse, wo die Kriterien nur ein Hilfsmittel seien, sagen Sie, zu Ihrem Resümee kommend, Sie resümieren ja, dass sich ein hohes Überwiegen solcher Aspekte ergibt, die für das Vorliegen eines Hanges sprechen. Können Sie da eine graduelle Einschätzung geben, was ich mir unter ‚hoch‘ vorzustellen habe?“ Saß: „Ich habe, glaube ich, auch schon oft gesagt, dass bei solchen Katalogen und Merkmalskriterien eine Skalierung sich verbietet, weil sie keine Messinstrumente, sondern Hilfsmittel zur Ordnung des Materials sind. Wenn ich von ‚hoch‘ spreche, dann meine ich, dass von neun Kriterien deutlich mehr als die Hälfte, bei Szenario 2, als vorliegend betrachtet wird. [phon.]“
Stahl: „Dann hatten wir das Kriterium 1 besprochen beim letzten Mal. Ich würde mich gern dem zweiten Kriterium widmen: ‚eine Schuldzuweisung nach außen, etwa zu Opfern, Außenstehenden und Umweltbedingungen‘, das wären Bedingungen, um die Externalisierungstendenz zu bejahen. Worauf bezieht sich die ‚Schuldzuweisung nach außen‘, bezieht sich das auf Delikte oder die Persönlichkeit [phon.]?“ Saß: „Auf Delikte, wie auch sonst hinsichtlich bestimmter Aspekte der Lebensführung, dass man da eine Tendenz erkennt, auf eine Außenverursachung hinzuweisen. Ich habe die Beispiele ja wiederholt genannt und angesprochen.“ Stahl: „Ja, das war diese vielfach angesprochene Externalisierungstendenz, die Sie bei Frau Zschäpe festgestellt haben wollen. Die beruht ja nun auf verschiedensten Beobachtungen von Ihnen. Aus welchen Gründen sind Sie der Meinung, kann man das auch auf die Delinquenz letztlich übertragen?“ Saß: „Naja, wenn ich es richtig sehe, wird hinsichtlich eines Teils der hier angeklagten Delikte betont, dass es nicht eigenes, sondern Verursachung durch andere ist.“ Stahl: „Dann müsste ich nochmal nachfragen, wie das Kriterium zu verstehen ist, ‚Schuldzuweisung nach außen, zu Opfern und Umweltbedingungen‘, inwieweit erkennen Sie das im Fall von Frau Zschäpe?“ Saß: „Sie haben doch selber gesagt, dass die Externalisierungstendenz von mir mit zahlreichen Beispielen verbunden worden ist, und auf die berufe ich mich.“
Stahl: „Das Kriterium 3 möchte ich mal überspringen. Bei der ‚aktiven Gestaltung der Tatumstände bzw. der Taten‘ führen Sie aus: ‚In Szenario 2 wäre dies ebenfalls zu bejahen.‘ Würden Sie das konkreter ausführen?“ Saß: „In Szenario 2, wenn man von der Anklage ausgeht, wäre ja von einem im Großen und Ganzen einverständigen und informierten und arbeitsteiligen – bestimmte Personen mit bestimmten Funktionen – Vorgehen zu sprechen. Und so ist das gemeint.“ Stahl: „Also arbeitsteilig?“ Saß: „Nein, ich habe ja drei Adjektive genannt.“ Stahl: „Sie sprechen ja von ‚aktiver Gestaltung‘. Wieso ist das jetzt gestaltend?“ Bundesanwalt Diemer: „Muss ich beanstanden. Seite 49 unten, da steht eindeutig, im letzten Absatz, was Prof. Saß gemeint hat. 49 unten. Einfach mal durchlesen! Die Frage ist beantwortet.“ Stahl: „Die Beanstandung muss ich zurückweisen, alldieweil auf Seite 49 steht: ‚aktiv in Planungen und Vorbereitungen einbezogen gewesen wäre‘. Und wenn ich danach frage, was ‚aktive Gestaltung der Tatumstände‘ heißt, was er da zugrunde legt, dann ist das keine Wiederholungsfrage.“ Saß: „‚Aktive Gestaltung‘ ist eine Formulierung, die ich nicht für Frau Zschäpes Fall entwickelt habe, sondern die wortwörtlich bei den Kriterien ist. Und das wäre ein Beispiel dafür, dass die Kriterien und ihre Anwendung auf den Einzelfall abzustimmen sind. Und soweit ich das aus der Hauptverhandlung weiß, gibt es keine konkreten Kenntnisse über Tatplanungen. Deswegen würde ich das nicht unterstellen. Ich mache mir die Anklage nicht zu eigen, aber ein Informiertsein, ein einverständiges und arbeitsteiliges Vorgehen, wie in der Anklageschrift, wird von mir im Großen und Ganzen im Szenario 2 unterstellt. Wenn ich das nicht soll, dann kann ich eigentlich gar nichts sagen, wenn ich nicht von bestimmten Hypothesen ausgehen soll. Und ich habe ja beide Hypothesen geprüft: Die erste, dass das alles nicht der Fall war im Szenario 1. Und die zweite, im Szenario 2, dass es im Großen und Ganzen so gewesen ist – ebenfalls mit bestimmten Konsequenzen.“
Stahl: „Nochmal zu Ihrem Resümee auf Blatt 52: Sie führen dann aus, Mitte des zweiten Absatzes: ‚Deshalb müsste meines Erachtens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass bei entsprechenden Möglichkeiten eine Fortführung ähnlicher Verhaltensweisen angestrebt wird.‘ Welche konkreten Möglichkeiten?“ Saß: „Das habe ich an anderer Stelle angedeutet. Z. B. die Frage, ob es wieder ein Szenario mit rechtsradikal ausgerichtetem Hintergrund für sogenannte Gesinnungstaten gibt. Eine Umgebung, aus der heraus Straftaten dieser Art begangen werden können.“ Stahl: „Da sind drei Personen Anfang 20 auf der Flucht, im Untergrund, wie man das nennen mag. Kann man das irgendwie fortführen in der Person von Frau Zschäpe? Gibt es diese Möglichkeiten erneut?“ Saß: „Da möchte ich auf den letzten Absatz auf Seite 52 verweisen, wo ich dazu Stellung genommen habe.“ Stahl: „Habe ich gesehen, mir geht es um Ihre Formulierung ‚bei entsprechenden Möglichkeiten‘. Frau Zschäpe wird nie wieder Anfang 20 sein und sie wird auch nie wieder mit anderen Menschen Anfang 20 im Untergrund zusammenleben.“
Saß: „Das Alter meine ich nicht, sondern, so wie ich es eben ausgeführt habe, ein Zusammensein oder ein Gruppenzusammenhang, in dem rechtsradikales Gedankengut und vielleicht auch die Bereitschaft zu Aktionen rechtsradikaler Art einschließlich Delinquenz eine Rolle spielen. Ich denke, dass das doch verständlich ist, was ich sage. Natürlich kann ich keine ganz konkrete Situation konstruieren. Aber das es rechtsradikale Kreise gibt, in denen es auch zu Aktionen kommt, das ist ja nicht fernliegend. Ich weiß nicht, was Sie da von mir möchten. Ich dachte, das reicht, wenn ich das in dieser allgemeinen Form skizziere. Die konkrete Ausgestaltung käme dann sowieso in einer Situation, die wir jetzt nicht haben.“
RAin Sturm setzt die Befragung fort. Sturm: „Sie hatten ausgeführt, dass eine Exploration natürlich sehr viel mehr Informationen geliefert hätte. Das hat nicht stattgefunden. Frage: Welche Fragen hätten Sie Frau Zschäpe im Rahmen einer Exploration gestellt?“ Saß: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da würden wir jetzt zwei Stunden verbringen. Eine Exploration zieht sich über eins, zwei, drei Tage hin und enthält eine Fülle von Fragen. Ich will es umreißen: u.a. zur Biographie, zur Persönlichkeit, zum Werdegang, zu den familiären Verhältnissen, zur Schule, vorher noch zum Kindergarten, mögliche Berufsausbildung, mögliche Berufstätigkeit, soziales Umfeld, Beziehungen, die eingegangen wurden, Partnerschaften, dann zur Delinquenz, wenn Delinquenz vorliegt, selbstverständlich Gesundheitszustand, Familienanamnese, eigene Anamnese, Suchtanamnese.“ Sturm: „Welche weitergehenden Fragen hätten Sie an Frau Zschäpe gehabt?“ Saß: „Das ist schwer zu sagen, weil ich nicht weiß, wie der Gang der Exploration wäre. Bei der Lebensgeschichte wären wir irgendwann in zeitliche Regionen gekommen, wo die Frage von Regelverstößen kommt, wie so die Stellung zu Regeln ist. Das wäre sicher erörtert worden, und dann eben bei der Zeit in den eins, zwei, drei, vier Jahren vor dem Untertauchen, wo es fragliche Delikte gegeben haben soll. Ich kann Ihnen jetzt nicht genau sagen, wie der Wortlaut der Fragen gewesen wäre. Ich weise darauf hin, dass sich in der Regel eine Frage aus den Antworten auf die vorherige Frage ergibt, so dass es ein vielästiger Fragenbaum wäre, den wir hier entwickeln müssten.“
Sturm: „Mit welcher Frage hätten Sie denn den Komplex Delinquenz eröffnet?“ Saß: „Das habe ich beantwortet, das hängt vom Gesprächsverlauf ab.“ Sturm: „Unterstellt, dass der Gesprächsverlauf von Ihnen als erfahrenem Gutachter gesteuert wird im Rahmen der Exploration, mit welcher Frage hätten Sie diesen Bereich eröffnet?“ Saß: „Zum einen, diese Annahme, die Sie eingeflochten haben, dass ich als erfahrener Gutachter die Befragung [phon.] steuere, ist nur partiell richtig. Mir ist wichtig und ich versuche, es so anzulegen, dass möglichst viel Aktivität vom Probanden selbst kommt. Es gibt dafür den Begriff des Gesprächs mit ungerichteten Fragen, wo man versucht zu erreichen, dass der Proband sagt, was ihm wichtig ist. In meinen Augen besteht eine Kunst darin, nicht zu präformieren [phon.] mit Fragen, sondern den Gesprächsverlauf offen zu halten [phon.], möglichst viel von der Gestaltung beim Probanden zu lassen. Natürlich gibt es eine Steuerung, indem man sagt: ‚Wie war es mit Krankheiten?‘ ‚Wie war das Verhältnis zur Mutter?‘ ‚Waren Sie im Kindergarten?‘ Aber da, wo es sozusagen ans Eingemachte, ans Wichtige geht, versucht man viel den Probanden gestalten zu lassen. Ich halte es für möglich, dass bei der Frage der Delinquenz das auch vom Probanden selbst kommt, und möglicherweise knüpft man da an und fragt: ‚Haben Sie das mehrfach gemacht?“ oder ‚Haben das damals alle gemacht?‘ Aber man kann in meinen Augen nicht in allgemeingültiger Form sagen, wie der Wortlaut einer Frage wäre.“
Sturm: „Welche Bereiche der Delinquenz interessieren Sie denn für die Begutachtung bzw. für die Beantwortung der hier im Raum stehenden Fragen?“ Saß: „Eigentlich alle.“ Sturm: „Und das wären?“ Saß: „Wann es begonnen hat, in welcher sozialen Situation, die Durchführung, wie, ob alleine oder in Gruppen, Reaktion der Umwelt, ob entdeckt, ob es Bestrafungen gab, ob es sich geändert hat und ganz, ganz viele andere Fragen, die sich ja aus den Antworten ergeben.“
Sturm: „Warum haben Sie diese Fragen hier nicht gestellt? Sie haben ja die Möglichkeit gehabt.“ Saß: „Also angesichts der Situation in der Hauptverhandlung und angesichts der Art, wie mit meinen Fragen, wenn ich sie mündlich gestellt habe, umgegangen wurde, und angesichts des Prozederes mit schriftlicher Antwort nach Monaten, habe ich es nicht für sachgemäß [phon.] gehalten, eine solche Frage zu stellen wie, wann Frau Zschäpe mit Delinquenz begonnen hat.“ Sturm: „Warum war es nicht sachdienlich?“ Saß: „Weil es mir mit dem Prozedere nicht möglich erschien, sozusagen auf diesem Wege die Exploration, die ich sonst durchgeführt hätte, nachzuholen. Eine Exploration geschieht ganz anders und lässt sich nicht in dieser sehr künstlichen Situation nachholen. Der Mangel lässt sich nicht durch Einreichen schriftlicher Fragen sozusagen heilen. Und mündliche Fragen des Sachverständigen wurden nicht beantwortet. Überhaupt hieß es, Fragen des Sachverständigen würden nicht beantwortet, sie wurden nur beantwortet, weil das Gericht sie dann gestellt hat. Aber auf diese Weise eine Delinquenzanamnese zu machen, habe ich nicht für möglich gehalten. Halte ich auch immer noch nicht für möglich.“
RAin Sturm : „Ja, in Ihrem Manuskript, welches Sie hier auch vorgetragen haben, auf Seite 16 haben Sie ausgeführt: ‚Frau Zschäpe hat sich in ihrer Selbstdarstellung ähnlich geäußert, wobei allerdings aus psychiatrischer Sicht auffällt, wie nüchtern, sachlich, emotionsarm und unpersönlich ihre schriftliche Schilderung wirkte. Über Ziele, Wünsche, Hoffnungen und Träume, über tiefergehende Gemütsbewegungen, langfristige Ziele und Wertvorstellungen war weder aus ihren eigenen Erklärungen noch aus den Angaben von Zeugen beim Versuch entsprechender Fragen etwas zu erfahren.‘ Meine Frage: Weshalb haben Sie zumindest insoweit keine konkreten Fragen an Frau Zschäpe gerichtet?“ Saß: „Weil ich an Frau Zschäpe keine Fragen richten konnte. Es gab die Erklärung von Frau Zschäpe und Verteidigern, dass Fragen des Sachverständigen nicht beantwortet werden.“ Sturm: „Aber der Vorsitzende hat Fragen übernommen und Frau Zschäpe hat sie durchaus beantwortet.“ Saß: „Also Fragen zu stellen, die ich sonst in einer Exploration gestellt hätte, schien mir nicht sachdienlich. Fragen nach Interessen, Freizeitaktivitäten etc. habe ich meines Erachtens gestellt und die sind auch beantwortet worden, dass man Serien geschaut habe. Insofern wurden die beantwortet, aber nicht ergiebig.“ Sturm fragt nach Fragen zu tiefergehenden Gemütsbewegungen. Saß: „Waren nicht zu gewinnen.“
Sturm: „Daher die Frage, warum Sie da nicht nachgefragt haben.“ Saß: „Ja. Es kommt mir ein bisschen paradox vor. Zunächst wird die Exploration verweigert. Dann wird, wenn ich Fragen stelle, nahezu systematisch dazwischen gegangen und unterbunden. Und dann wird gesagt, Fragen des Sachverständigen werden nicht beantwortet. Und jetzt wollen Sie von mir wissen, warum ich die und die Frage nicht gestellt habe. Hätte es eine Situation gegeben, dass Fragen beantwortet worden wären und nicht mit solchem Verzug, dann hätte ich Fragen gehabt. [phon.]“
Götzl: „Im Übrigen: Sollte es relevant sein, kann sich Frau Zschäpe auch jederzeit dazu äußern.“
RA Borchert: „Ich möchte zunächst auf einen Gesichtspunkt eingehen, der schon vielfach angesprochen wurde, der Herr Sachverständige ist bereits mehrfach darauf eingegangen und die Kollegin hat das aufgegriffen, die Bewertung des Verhaltens der Mandantin als nüchtern, sachlich, emotionslos [phon.]. Ich möchte nochmals die Erklärung der Mandantin vom 09.12.2015 vorhalten und ihn fragen, ob er dabei bleibt oder das revidiert. Ist es ohne Empathie [phon.], wenn man vorträgt, dass man sich moralisch schuldig bekennt?“ Saß: „Das ist jetzt natürlich eine Frage der Bewertung. Sie selbst haben darauf hingewiesen, dass für den sprachlichen Ausdruck die gewählten Verteidiger zuständig gewesen seien. Deswegen stellt sich [phon.] die Frage der Authentizität. Wenn man das als eigene moralische Haltung ansieht, wäre es so, wie ich es im Szenario 1 unterstellt habe. Ich habe also versucht, sozusagen beiden Möglichkeiten Rechnung zu tragen.“
Borchert: „Anderer Punkt: Die Mandantin hat sich ja nach vier Tagen Kreuz-und-Quer-Reisen durch Deutschland selbst bei der Polizei gestellt. Ich vermisse jegliche Ausführungen dazu, wie das psychiatrisch, psychologisch zu bewerten ist. Man könnte Überlegungen anstellen, dass sie sich gestellt hat und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass sie sich der Verantwortung stellt und sich von der rechten Szene getrennt hat [phon.], da sie in dieser nicht untergetaucht ist und diese Möglichkeit ja bestanden hätte [phon.].“ Saß: „Also Ihre Frage enthält zwei Anteile, glaube ich. Der erste ist, ob das Sich-stellen bei der Polizei bedeutet, dass sie sich ihrer Verantwortung stellt. Das könnte man so sehen, wobei es darauf ankommt, was man darunter versteht; sich zu stellen kann vielseitig determiniert sein. Aber man kann es sicherlich auch so deuten, wie Sie es deuten. Dass das gleichzeitig eine Distanzierung von der rechten Szene bedeutet, kann ich nicht sehen. Es ist auch nichts dahingehend geäußert worden.“ Borchert: „Sie hat sich dazu geäußert.“ Saß: „Aber nicht in der ersten Äußerung.“ Borchert: „Macht das für Sie einen Unterschied, 2015 oder 2016?“ Saß: „Wenn man mich davon entbindet wieder, das als Beweiswürdigung zu machen: In meinen Augen und auch aus psychiatrischer Sicht ist schon von Bedeutung, wann man eine Äußerung macht, in welcher Verfahrenssituation. Ich erinnere daran, dass es bei Begutachtungen frühere Äußerungen gibt und dann spätere Äußerungen und das spielt auch für den Gutachter eine Rolle, aber im Wesentlichen ist das richterliche Beweiswürdigung.“ Borchert: „Man kann in einer ersten Erklärung nicht alles auf einmal beantworten. Deswegen haben wir gesagt, wir beantworten sämtliche Fragen. Dies nur als Erklärung nebenher.“
NK-Vertreter RA Scharmer: „Sämtliche Fragen wurden gerade nicht beantwortet. Das ist schlicht falsch.“ Borchert: „Da gebe ich Ihnen recht, sämtliche vom Gericht gestellte Fragen, Ihre Fragen nicht.“ Saß: „Meine auch nicht.“
Borchert: „Sie haben sich nicht gutachterlich geäußert bezüglich der Zeit seit der Inhaftierung. Haben Sie die Gefangenenakte beigezogen zum Verhalten in der JVA?“ Saß: „Nein.“ Borchert fragt, ob es dafür einen bestimmten Grund gebe. Saß: „Also an sich ist das nicht üblich, während eines Strafverfahrens die Gefangenenpersonalakte beizuziehen. Ich kann mich an kein Verfahren erinnern, wo das gemacht wurde.“
Der Verhandlungstag endet um 16:13 Uhr.
Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.
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