Kurz-Protokoll 349. Verhandlungstag – 21. Februar 2017

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An diesem Prozesstag sagt Manfred Br. von der Jugendgerichtshilfe als Auskunftsperson aus. Er berichtet über den Werdegang des Angeklagten Carsten Schultze. Es geht darum, ob dieser zum Zeitpunkt der angeklagten Straftat unter strafrechtlichen Gesichtspunkten als Erwachsener oder Jugendlicher gelten könne. Er kommt zu dem Schluss, dass „Schultze zum Tatzeitpunkt nach seiner geistigen, sittlichen und seelischen Reifung und Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.“ Dann stellt NK-Vertreter RA Reinecke einen Beweisantrag, der zeigen soll, dass die Aussage von Beate Zschäpe, sie habe vom Anschlag in der Kölner Probsteigasse aus der Presse erfahren, nicht stimmen kann.

Auskunftsperson:

  • Manfred Br. (Jugendgerichtshilfe, Bericht zum Angeklagten Schultze)

Um 09:48 Uhr beginnt der Verhandlungstag. Anwesend ist heute für die Jugendgerichtshilfe Manfred Br. Br.: „Ich habe ja bereits als Zeuge ganz ausführlich zum Lebenslauf Stellung genommen.“ Br. macht noch einmal einige allgemeine Ausführungen zur Biographie von Schultze. Dann kommt er zu Schultzes Zugehörigkeit zur rechten Szene: „Wie gelangte er eigentlich in der rechten Szene? Schultze antwortete: Den Anfang machte eine Begegnung in der Unterkunft seiner Lehrlingsausbildung 1997.“ Schultze habe Marco H. kennengelernt, habe diesen einfach attraktiv gefunden, auf einer erotischen Basis anziehend. Schultze habe begonnen, sich anders zu kleiden, habe sich eine Bomberjacke angezogen, eine schwarze Hose und habe begonnen, sich auch für rechte Musik zu interessieren. H. habe Lieder der „Zillertaler Türkenjäger“ gehabt.
Br.: „Und er merkt: Diese andere Kleidung wertet ihn auf, die Leute schauen anders auf ihn und nehmen ihn anders wahr. “
Ein wichtiger Punkt sei eine Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in München im März 1997 gewesen. Schultze sei sehr fasziniert gewesen von dem, was dort passiert. Schultze habe Kontakt zu Christian Kapke gehabt, der ihn mitgenommen habe zu den JN und zum THS. Anfangs habe Schultze geholfen, Plakate zu kleben, Demos zu organisieren und sei mitgegangen zu Treffen. Im Frühjahr 1999 sei Schultze stellvertretender Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes geworden, sein erstes Amt. Dann sei er Stützpunktleiter der JN geworden, habe junge Menschen geschult, habe Veranstaltungen gemacht. Im Februar 2000 sei dann Schultzes Wahl in den Bundesvorstand der JN erfolgt.
Br.: „Und das ist ein Zeitpunkt, wo er zunehmend merkt: ‚Ich bin hier in einer Situation, dass ich meine wahre sexuelle Identität in der rechten Szene nicht ausleben kann.‘ Öfter hört er Kommentare von anderen, dass Schwulsein nicht akzeptiert wird, dass es keine Sache ist, die einen adelt.“ Im August 2009 [gemeint ist vermutlich 2000]habe Schultze ein neuntägiges Unterbindungsgewahrsam nach einer Hausdurchsuchung erlebt wegen der „Rudolf-Heß-Woche“, so Br. weiter. Br.: „Danach trifft er Wohlleben und andere und sieht sich dem Spott der Leute ausgesetzt. Danach ist ihm klar: Ich muss hier raus, das sind nicht mehr meine Leute, ich gehöre hier nicht her. Solange braucht er, um diesen Schritt zu tun.“
Br. weiter: „Ich habe den Herrn Schultze 13 Jahre nach der vermeintlichen Tat getroffen und gesprochen und ich gehe von einem Tatzeitalter von 20 Jahren aus. Und es geht darum, sich dem anzunähern: Welche geistige und sittliche Reife hat Herr Schultze damals wohl gehabt?“
Br.: „Durch sein spätes Coming-Out im November 2000 fehlen authentische sexuelle oder partnerschaftliche Beziehungen bis zu diesem Zeitpunkt ganz. Erst wenige Monate vor dem 21. Lebensjahr beginnt er sich dann zu seiner Homosexualität zu bekennen. Etwa zum gleichen Zeitpunkt, wo er die rechte Szene verlässt. Der weitere Werdegang erweckt den Anschein, als ob ein neues Leben begonnen wird. Unter Abwägung aller mir bekannten Gesichtspunkte gehe ich davon aus, dass Herr Schultze zum Tatzeitpunkt nach seiner geistigen, sittlichen und seelischen Reifung und Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.“

Dann stellt NK-Vertreter RA Reinecke einen Beweisantrag. Er beantragt, Chris Me., Leiter der Unternehmenskommunikation bei der dpa, Lars Fr. von der Freien Presse Chemnitz und Michael Ta., Geschäftsführer der Mediengruppe Thüringen Verlag GmbH, zu vernehmen:
Die Beweiserhebung wird ergeben, dass die dpa im Jahre 2001 über den Bombenanschlag in der Probsteigasse nicht berichtet hat. Die Beweiserhebung wird weiter ergeben, dass auf dieser Grundlage auch in Sachsen und Thüringen verbreitete Lokalzeitungen, wie insbesondere die Freie Presse und die Thüringer Allgemeine mit ihren jeweiligen Lokalausgaben und -ablegern im Jahre 2001 nicht über den Anschlag in der Probsteigasse berichtet haben.
Begründung: Durch die Beweiserhebung wird an einem weiteren Punkt deutlich, dass die Angeklagte Zschäpe in ihrer Einlassung nicht die Wahrheit gesagt hat. Die Angeklagte hat sich zu ihrer Kenntnis über den Anschlag in der Probsteigasse wie folgt eingelassen: „In den folgenden Wochen wurde nur das Nötigste gesprochen. So erfuhr ich vom Bombenanschlag in der Probsteigasse in Köln erst, als ich sie nach Berichten in der Presse darauf ansprach, ob sie etwas damit zu tun hätten. Vor der heftigen Diskussion Mitte Dezember 2000 hatte ich mehrfach mitbekommen, dass die beiden über Köln sprachen. Beide berichteten mir, dass sie die Aktion vor Weihnachten vorbereitet hätten. Uwe Böhnhardt habe die Bombe in seinem Zimmer gebaut und nach unserer intensiven verbalen Auseinandersetzung hätten sie diese nach Köln verbracht. Es war
Uwe Böhnhardt, der den Korb mit der Bombe im Geschäft deponierte, während Uwe Mundlos in Sichtweite vor dem Geschäft gewartet hatte.“
Nach dieser Behauptung will die Angeklagte also durch (mehrere) Berichte „in der Presse“ von dem Anschlag erfahren haben. Tatsächlich wurde aber – abgesehen von Zeitungen in Köln und Umgebung – über diesen Bombenanschlag gar nicht berichtet.
Das Eingeständnis der Angeklagten Zschäpe, dass sie vom Bombenanschlag in der Probsteigasse wusste, erlaubt daher nur den Rückschluss, dass sie von vornherein in die Anschlagpläne eingeweiht war, sie nicht aus der Presse sondern unmittelbar, von Mundlos und Böhnhardt von dem Anschlag erfahren hatte, ohne dass sie diese gefragt hat.

NK-Vertreterin RAin Lunnebach: „Ich schließe mich an und weise darauf hin, dass ich ja an Frau Zschäpe die Frage gestellt hatte, wie sie vom Anschlag erfahren hatte. Diese Frage ist nicht beantwortet worden.“ Weitere NK-Vertreter_innen schließen sich an. Der Verhandlungstag endet um 10:56 Uhr.

Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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