Protokoll 343. Verhandlungstag – 07. Februar 2017

0

An diesem Verhandlungstag spricht der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. Henning Saß zu seiner Vorgehensweise und seinen Methoden. Danach soll die sog. „Altverteitigung“ von Beate Zschäpe ihre Befragung des Sachverständigen fortsetzen. Allerdings kommt es aufgrund der ersten Frage nach den Notizen von Prof. Dr. Saß zu einer Auseinandersetzung zwischen einigen Verfahrensbeteiligten. Nach mehreren Unterbrechungen und Stellungnahmen beendet Richter Götzl den Prozesstag.

Sachverständiger:

  • Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrische Begutachtung von Beate Zschäpe)

Heute ist Fototermin. Der Verhandlungstag beginnt um 09:46 Uhr. Nach der Präsenzfeststellung wendet sich Richter Götzl an den SV Prof. Dr. Saß: „Wir setzen auch mit Ihrer Befragung fort, Herr Sachverständiger Saß. Und zwar geht es mir jetzt noch um die Beobachtungen am Rande der Hauptverhandlung, zu Beginn, am Ende und in den Pausen, das war ja ebenfalls eine der Varianten, die ergänzend vorgegeben war. Wir können gern, für die Vorgehensweise, das überlasse ich natürlich Ihnen, ob wir da auch anhand der Mitteilungen, die im vorläufigen Gutachten enthalten sind, vorgehen können. Zunächst geht es mir um die Beobachtungen, die von Ihnen vorgenommen wurden, und im Weiteren, inwiefern sie dann für die Beantwortung der Gutachtensfragen Relevanz haben. Bitte schön!“

Saß: „Ja, ich hatte ja, als ich die Beobachtungen vorgetragen habe, die Dinge außer Acht gelassen, die am Rande oder außerhalb des engen Kerns der Hauptverhandlung waren, vor Beginn und nach Ende. Im Grunde ist es so, dass da keine wesentlichen Zusatzinformationen enthalten sind, sie betreffen das Verhalten von Frau Zschäpe beim Betreten des Saals, die Situation mit den Fotografen, das in der ersten Prozesshälfte Zuwenden des Rückens. Das ist ja auch alles von Frau Zschäpe erklärt [phon.] worden. Das erscheint mir glaubwürdig zumindest für das initiale Verhalten.“ Zschäpe-Verteidiger RA Heer sagt etwas, was auf der Besucherempore nicht zu verstehen ist, vermutlich beschwert er sich über die Geschwindigkeit des Vortrags von Saß. Saß wiederholt: „Ich war bei dem Verhalten beim Eintritt in den Saal und jetzt, wo Fotografen anwesend sind. In der ersten Prozesshälfte das Zuwenden des Rückens und die Unterredung mit den Verteidigern, später dann nicht mehr, nach dem 09.12.2015.“ Dann fährt er fort: „Einige der Ausführungen, die ich gemacht habe zu den Verteidigern [phon.] ließen sich auch stützen auf Beobachtungen unmittelbar vor oder nach dem engen Kern der Hauptverhandlung. Das sind aber alles Beobachtungen, die keine wesentliche Veränderung meiner Einschätzung, meiner Beurteilung und meiner Stellungnahme [phon.] mit sich bringen.“ Erneut beschwert sich Heer. Götzl: „Was war das Problem? Das war doch jetzt ohne Weiteres zu verstehen und zu notieren. Sind Sie nicht mitgekommen? Na gut.“ Wieder sagt Heer etwas. Götzl: „Ja, ich bin von mir ausgegangen.“ Zu Saß sagt Götzl: „Bitte schön!“

Saß setzt fort: „Ich habe ausgeführt, dass diese Beobachtungen in ähnliche Linien gehen, wie das, was auch während der Verhandlung zu beobachten war, so dass sich, wenn ich es heranziehe, keine wesentlichen Änderungen ergeben gegenüber dem, was ich bisher zur Beurteilung vorgetragen habe.“ Götzl: „Das wäre jetzt das Ergebnis. Vielleicht können wir auf diese einzelnen Beobachtungen, die Sie ja auch aufgeführt haben, vielleicht können wir auf die auch eingehen, das wäre Blatt 78 dieses vorläufigen Gutachtens.“ Saß: „Ja, ich kann das durchgehen, ich habe notiert, was ich beim ersten Vortrag weggelassen habe.“ Götzl: „Ja, bitte schön!“ Saß: „Ich hatte weggelassen die Passage mit dem Eintrittsritual. Ich habe das Ritual genannt, weil das bis Dezember 2015 durchgehalten wurde. Mit raschen Schritten zum Platz gehen, den Fotografen ostentativ den Rücken zugewandt, Arme vor der Brust verschränkt und von den Verteidigern umrahmt, gegen Blicke von den Seiten abgeschirmt. So war mein Eindruck von diesem ja eigentlich gleichförmig viele, viele Prozesstage, wenn die Presse anwesend war, wiederholten Eintrittsgeschehen. Auf Seite 79 habe ich dann ausgeführt, dass das bis zum Dezember 2015 durchgehaltene Vorgehen mit dem wiederholte Abwenden von den Pressevertretern und einem etwas demonstrativ wirkenden Austausch mit dem Verteidigern nach einiger Zeit weniger als Ausdruck von Beklemmung, Scheu oder Befangenheit erschien, sondern den Eindruck von bestimmtem und gezieltem Verhalten machte.

Ähnlich war es nach der Wandlung der Verteidigungsstrategie ab dem 09.12.2015. Nunmehr erschien Frau Zschäpe an den Tagen, an denen zu Verhandlungsbeginn Foto- und Filmaufnahmen mit Blitzlichtgewitter erfolgten, mit selbstsicherer Haltung und einem routiniert wirkenden Lächeln, wie es bei Personen geläufig ist, die öffentliche Auftritte und das damit verbundene Interesse gewohnt sind. Hinzugefügt habe ich noch: An Tagen, wo die Presse nicht da war, wurde beim Betreten des Saales ein betontes Lächeln gezeigt, das war eben der Eindruck, den es auf mich gemacht hat. Seite 80 gibt es noch eine kleine Sache, die ich weggelassen hatte, das betrifft den Tag, wo die Vorläuferversionen des Paulchen-Panther-Videos gezeigt wurden. Da hatte ich gesagt, dass sie zunächst gleichmütig, dann ansatzweise ernst und betroffen wirkte, im Weiteren auch resigniert und in Gedanken versunken. Weggelassen hatte ich: Bei Eintritt einer Verhandlungspause strebte sie rasch hinaus und wirkte dabei verstimmt und erschöpft. Auf Seite 82, Ende des ersten Absatzes, habe ich wieder etwas weggelassen, weil es außerhalb des Kerns der Hauptverhandlung war. Das waren Beobachtungen, die sowohl innerhalb der Hauptverhandlung, aber eben auch in den Pausen und vor Beginn und nach Ende gemacht wurden: dass die Kontakte zu den Verteidigern lebhaft, geradezu kameradschaftlich erschienen, dies auch bei lebhaftem Geplauder mit der Verteidigerin.

Eine weitere Auslassung, weil eine Pause betreffend, ist auf Seite 85. Da war es inhaltlich in der Sitzung gegangen um die Schilderung des Anrufs mit der Todesnachricht am 05.11.2011, das war die Mutter von Uwe Mundlos. Da habe ich mir notiert: Als nach dieser emotional potenziell gewichtigen Passage die Mittagspause eintrat, erhob sich die Angeklagte ohne erkennbare Betroffenheit und unterhielt sich, geschäftsmäßig wirkend, mit ihrem Anwalt. Wirkend: Mein Eindruck, keine objektive Tatsache. [phon.]“ Beim Termin am 08.05.2014 sei es um die Frage der Verhandlungsfähigkeit wegen u.a. Kopfschmerzen gegangen, so Saß, und der Landgerichtsarzt sei gehört worden. Saß: „Ich habe notiert: Die Angeklagte erschien, wenn sie in den Saal kam – also nicht Kern der Hauptverhandlung -, blasser als sonst, ansonsten ohne wesentliche Auffälligkeiten. Sie unterhielt sich konzentriert mit ihrer Verteidigerin, wirkte dabei etwas verstimmt, ernst, missmutig und widerwillig. Ich gehe jetzt weiter zu den Dingen, die ich ausgelassen hatte, das ist erst wieder auf Seite 89 der Fall. Da ging es um eine Beobachtung am 13.01.2015. In der Sitzung wurden technische Details der Bombe in der Keupstraße erörtert. Dann gab es ein anschließendes Pausengespräch zwischen der Angeklagten, Richter Dr. Lang und der Verteidigerin, wobei, habe ich mir notiert, Frau Zschäpe interessiert, sachlich, rasch reagierend und entschieden wirkte. Es entstand der Eindruck guter kognitiver Kapazität. Auch strahlte sie durchaus für die Beobachtung von außen Bestimmtheit und Sicherheit aus.

Weitere Auslassungen betreffen Seite 90 unten und 91 oben, Verhandlung am 17.06.2015: Da habe ich registriert, dass beim Eintritt in den Saal in eklatantem Unterschied zu früher keinerlei Kontakt zu den Anwälten aufgenommen wurde. Frau Zschäpe blieb vielmehr demonstrativ stehen und wartete auf den Senat, während sich die Anwälte nach auf mich unschlüssig wirkendem Warten setzten. Wenn Pausen einsetzten, verließ Frau Zschäpe wort- und grußlos den Saal. Nach den Pausen wirkte sie etwas lockerer, obwohl weiterhin auf mich geradezu ostentativ wirkend der Kontakt zu den Verteidigern vermieden wurde. Auf Seite 92 gibt es auch einige Auslassungen, die betreffen den 24.06.2015: Da habe ich registriert, dass es zu Beginn der Mittagspause einen lebhaften verbalen Austausch mit einer Richterin gab, mit Lächeln und freundlicher Zuwendung durch Frau Zschäpe, aber unter konsequenter Nichtbeachtung der Verteidiger, die am Rande der Szene standen. Auch am 30.06.2015 dauerte das an, dass die Angeklagte in auffälliger Weise stehen blieb, während die Verteidiger sich setzten. Früher hatte es immer ein gemeinsames Verhalten gegeben. Am Ende dieser Seite habe ich dann beschrieben, dass am 07.07.2015 erstmals Rechtsanwalt Grasel anwesend war, was mit einem erneuten Platzwechsel von Frau Zschäpe verbunden war. Mein Eindruck war, dass die drei bisherigen Pflichtverteidiger durch Nichtbeachtung gestraft wurden. Während der Kontakt zum neuen Verteidiger bald ein gutes Einverständnis mit lebhaftem Gespräch zeigte, wobei Frau Zschäpe lächelte und gelöster wirkte.

Diese freundliche Gestaltung setzte sich zunehmend in den folgenden Terminen fort, auch zu einem Verteidiger des Angeklagten Eminger, neben dem Frau Zschäpe nun saß, um dem Kontakt zu den alten Verteidigern auszuweichen. Auch ihm gegenüber wurde freundliches Verhalten gezeigt, während es gegenüber den ursprünglichen Verteidigern bei konsequenter Kontaktverweigerung blieb, die atmosphärisch, so wirkte es auf mich, den Charakter einer eisigen Ablehnung trug.“ Er habe zur „kämpferischen Fortführung der Auseinandersetzung“ zwischen Zschäpe und den drei ursprünglichen Verteidigern im Juli 2015 ausgelassen: „Im Einzelnen ist dies in handschriftlichen Briefen der Angeklagten vom 21. und 23.07.2015 an den Vorsitzenden ausgeführt, auch wurde am 24.07.2015 noch eine mit Schreibmaschine verfasste Strafanzeige nebst Strafantrag an die Staatsanwaltschaft München gerichtet.“ Er stütze das auf die „Austeilungen hinten auf diesem Bord, wo die Dinge in fotokopierter Form ausliegen“.

Saß weiter: „Ich habe dann vermerkt, dass nach der Sommerpause 2015 Frau Zschäpe erholt wirkte und ein verbindlich-freundliches Lächeln zeigte bei Eintritt des Senats. Und dass zu Beamten zuweilen ein gut gelaunter, freundlich lächelnder Kontakt aufgenommen wurde. Das ist Verhaltensbeschreibung, die nicht entscheidend ist, aber zu dem Gesamtbild beiträgt. Seite 96 unten hatte ich weggelassen. Da geht es nochmal darum, dass nach dem 09.12.2015 nicht mehr das Zukehren des Rückens erfolgte, der Presse gegenüber, sondern ein freies und offenes Eintreten in den Saal. Insofern eine Wiederholung. Auf Seite 98 hatte ich weggelassen, dass im Laufe der Zeit dieses immer stärker routiniert, aber auch etwas aufgesetzt wirkende Lächeln beim Betreten des Saals gezeigt wurde. [phon.] Dann hatte ich notiert und weggelassen, dass am 13.09.2016 Frau Zschäpe in einer Pause im Austausch mit Rechtsanwalt Grasel lebhaft, sachlich, entschieden und sicher wirkte. Das sind die Auslassungen. Die Bewertung habe ich ja schon genannt.“ Götzl: „Einen Punkt wollte ich noch ansprechen. Auf Seite 87 unten, da ging es um die Situation Verabschiedung.“ Saß: „Ja, da habe ich möglicherweise versäumt, wenn ich es nicht vorgetragen habe, es zu streichen. Ich habe sonst die Dinge durch Streichen kenntlich gemacht, das habe ich hier möglicherweise übersehen für den Tag. Das ist der 16.07., da habe ich gesagt, dass Frau Zschäpe auf die Frage des Vorsitzenden, ob die Erklärung bezüglich der Verteidiger zutrifft, genickt hat. ‚Dabei wirkte sie ernst, gefasst, aber offenbar doch auch bewegt und leicht erschüttert, so dass man den Eindruck haben konnte, sie sei dem Weinen nahe. Am Ende verabschiedete sie sich mit einem auffällig knappen Handschlag von den drei ebenfalls sichtlich überraschten und betroffenen Verteidigern, mit denen ansonsten von ihr kein Wort gewechselt wurde.‘ Heute würde ich etwas präzisieren und würde sagen, ’sichtlich überrascht und betroffen wirkende Verteidiger‘, weil auch dies natürlich nur ein Eindruck sein kann.“ Götzl: „Sie hatten die Konsequenzen für die Begutachtung schon geschildert. Gibt es denn da noch Ergänzungen vorzunehmen von Ihrer Seite?“ Saß: „Nein, ich denke, dass, wenn man sie zusätzlich nimmt, sie in die gleiche Richtung deuten wie das, was ich ausgeführt habe. Sie stehen nicht in Widerspruch, sie verstärken es, aber die Beurteilung hängt auch nicht davon ab.“

Götzl: „Mir geht’s noch um die wissenschaftliche Vorgehensweise, Methodik, soweit es um die Prognose geht, Prognoseforschung, vielleicht können Sie uns einen Überblick geben?“ Saß sagt, dass er ja zum einen die Frage der standardisierten Untersuchungsinstrumente diskutiert habe und ausgeführt habe, dass diese Untersuchungsinstrumente in seinen Augen in diesem Fall zwei wichtigen Problemen begegneten: „Das erste ist das Problem, dass diese Instrumente sowieso Gruppenaussagen betreffen und für den Einzelfall nur begrenzt aussagekräftig sind.“ Wieder beschwert sich RA Heer: „Es funktioniert nicht!“ Götzl: „Was funktioniert nicht?“ Heer: „Die Anfertigung der eigenen Mitschrift. Sie haben ihn aufgefordert, langsamer zu sprechen, aber er wird immer schneller.“ Götzl entgegnet, es komme ja nicht auf jedes Wort an. Heer sagt, sie seien anderer Ansicht und er beabsichtige, so weit wie möglich wörtlich mitzuschreiben. Saß fährt fort: „Hauptproblem ist, dass es Gruppenaussagen sind. Wenn es also zum Beispiel heißt ‚Rückfallwahrscheinlichkeit 60 Prozent‘, dann heißt das, dass aus einer Gruppe von hundert Personen 60 in Rückfallgefahr stehen [phon.], 40 nicht. Und es ist außerordentlich schwer zuzuordnen, zu welcher Gruppe der individuelle Proband oder die Probandin gehört. Das andere ist, dass sich bei solchen standardisierten Verfahren das Problem der Repräsentativität stellt: Wird die Person, um die es geht, repräsentiert durch die Gesamtheit der Personen [phon.], die der Instrumentenbildung zugrunde lag? Diese Verfahren stammen in der Regel aus dem angloamerikanischen Sprachraum, den USA, Kanada, zum Teil auch England.“ Dort gebe es andere soziokulturelle Verhältnisse, so Saß. Die Instrumente seien auch überwiegend an männlichen Straftätern entwickelt worden. Wieder beschwert sich Heer und Saß wiederholt den letzten Satz.

Die politischen, rechtlichen, soziokulturellen Bedingungen seien ganz anders als in Deutschland, so Saß, und nochmal ganz anders, als sie in der zerfallenden DDR gewesen sind: „Sie sind zumeist an männlichen Straftätern entwickelt worden und zwar bevorzugt in Hinblick auf Delikte der Gewalt- und Sexualdelinquenz, weil die im Zentrum der Aufmerksamkeit der Instrumentenentwickler standen. Ob sie sich auch zur Vorhersage künftiger Taten bei Frauen eignen, ist nicht zuverlässig entschieden in wissenschaftlichen Untersuchungen, es gibt daran erhebliche Zweifel. Hinzu kommt, dass es im Falle von Frau Zschäpe ja nicht um die der Instrumentenentwicklung zugrundeliegenden Delinquenztypen geht, sondern hier würde es gehen um politisch motivierte Delinquenz, Gesinnungstaten. Mir ist keine Untersuchung bekannt mit diesen Instrumenten, die dieses Problem im Blick hat. Deswegen habe ich einzelne Gesichtspunkte dieser Instrumente verwendet, aber darauf verzichtet, systematisch diese Instrumente anzuwenden, weil das nach meiner Auffassung nicht sachgerecht wäre. Stattdessen habe ich ein Vorgehen gewählt, wie es bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung der Kriminalprognose üblich ist und auch gut eingeführt ist.“

Das sei in vielen Lehrbüchern und von vielen Autoren immer wieder übereinstimmend gesagt worden in der Literatur, so Saß: „Im Grunde geht es, verkürzt gesagt, darum, dass man den familiären Hintergrund, das Aufwachsen, die Biographie anschaut, die Persönlichkeitsentwicklung, die daraus entstandene Persönlichkeit mit Intelligenz, emotionaler Reagibilität [phon.], mit Werthaltungen, dem Stil in sozialen Beziehungen, im Partnerschaftsverhalten anschaut. Dann wird versucht, aus diesen Elementen einen Verstehenshintergrund dafür zu schaffen, man kann auch sagen eine Delikthypothese, wie sie sich in diese Biographie und dieses Persönlichkeitsbild die Entstehung der Delinquenzentwicklung einordnen lässt. Dabei müssen auch die Delikte, soweit bekannt, und der modus operandi und so etwas berücksichtigt werden. Und dann geht es darum, ob sich seither, also z. B. seit der Verhaftung Hinweise dafür ergeben haben, dass sich im Persönlichkeitsbild, in den Einstellungen, den Werthaltungen, im Standpunkt [phon.] belastbare Hinweise, konkrete Hinweise für Änderungen ergeben. So dass dann bei der endgültigen Prognose nicht nur die gesamte Vorgeschichte, sondern auch das sogenannte Nachtatverhalten und die Entwicklung seit den Vorwürfen zu berücksichtigen sind. Das ist das klassische Vorgehen, was man immer mit etwas anderer Terminologie hat. Natürlich berücksichtigt man dabei auch die aus den standardisierten Untersuchungsverfahren und Instrumenten stammenden allgemeinen kriminologischen Gesichtspunkte: Alter, in dem die Delinquenz begann, wie hoch die Frequenz der Delikte ist, ob es unterschiedliche Delikte sind, ob Einzeltäter oder in Gruppen, ob es Vorahndungen gibt, Gefängnisaufenthalte gibt, Bewährungszeiten, Bewährungsversagen gibt, alle diese Dinge. Also das sind die Dinge, die man aus den Instrumenten heraus berücksichtigt, diesen Hintergrund. Das ist das, was ich zum allgemeinen Vorgehen zu sagen habe. Ich kann das gerne vertiefen.

Ich habe dann zusätzlich in meinem Gutachten, weil die Frage des Hanges und der Sicherungsverwahrung eine schwierige und durchaus auch umstrittene ist, Kriterien herangezogen, die in die Literatur eingeführt sind, 2004 in der Arbeit von Habermeyer und mir. In der eben aus einer Fülle von Erfahrungen mit solchen Fällen und der Berücksichtigung der Literatur solche Kriterien entwickelt wurden und vorgeschlagen, die zur Beurteilung der Hangfrage von Bedeutung sind. Ich betone nochmal, dass es nicht die Aufgabe des Psychiaters ist, über den Hang eine definitive Aussage zu machen, geschweige denn sich über Angemessenheit oder Nichtangemessenheit von Sicherungsverwahrung zu äußern. Sondern der Sachverständige hat, und darum habe ich mich auch bemüht, den Versuch zu unternehmen, dem Gericht auf dem Gebiet seines Faches Beschreibungen zu geben und Sachverhalte zu schildern, aufgrund derer das Gericht dann über die Hangfrage entscheiden kann. Insofern sind die in Lehr- und Handbüchern vorgeschlagenen Kriterien nichts, was zu einer Entscheidung durch den Sachverständigen führt, sondern nur in geordneter Form die Gesichtspunkte aufführt, die der Sachverständige dem Gericht vorträgt, so dass das Gericht die Entscheidung treffen kann. Soll ich auf die Kriterien nochmal im Einzelnen eingehen, ich habe sie im mündlichen Gutachten erwähnt? [phon.]“

Götzl: „Vielleicht, dass Sie kurz darauf eingehen, Unterschied Instrument/Kriterien?“ Saß: „Kriterien, ähnlich wie Merkmalskataloge für Affektdelikte [phon.], dienen dazu, die Fülle des Materials zu ordnen, zu sichten und unter bestimmten Gesichtspunkten dann sozusagen zu einer Beurteilungsreife zu führen. Sonst müsste man ja zig Dutzende Details anführen. Sondern man muss die Materialien ordnen und dabei versuchen, nichts Wesentliches außer Acht zu lassen. Diese Aufgabe erfüllen Merkmalskataloge oder Kriterien. Deswegen kann man bei Anwendung von Kriterien für die Hangfrage nicht am Ende abzählen und sagen: 7 zu 1 oder 5 zu 2. Sondern man muss die Kriterien einzeln erläutern und in einer Gesamtschau sehen, ob viele wichtige Kriterien erfüllt sind oder nicht erfüllt sind, ob dadurch die positive Beurteilung der anderen Kriterien in Frage gestellt ist oder nicht. Also es muss eine abschließende Gesamtschau erfolgen. Und ich habe im Grunde zwei Beurteilungswege gewählt: Einmal das klassische Vorgehen mit Biografie, Persönlichkeit und so weiter und zusätzlich die Ordnung dieser Materialien nach den in der Literatur vorgeschlagenen Kriterien. Beide Wege in der Beurteilung der Hangfrage [phon.] haben zu einem übereinstimmenden Ergebnis geführt.“

Götzl: „Gibt es ansonsten noch weitere Beurteilungskonzepte?“ Saß: „Ist mir jetzt nicht bekannt. Vielleicht lohnt es sich noch, auf den Aspekt der Objektivität und Subjektivität einzugehen, der in der Erklärung der Verteidiger vom 20.12. so eine große Rolle gespielt hat. Man muss konstatieren, dass es keine objektiv messbaren Befundkriterien gibt, etwa durch Bildgebung oder genetische Befunde oder molekularbiologische Laborbefunde, sondern es handelt sich um Befunde, die aus der Lebensgeschichte und der Tatentwicklung gewonnen wurden. Sie sind also nicht in ähnlicher Weise mit einem klaren Ja oder Nein zu bestätigen oder zu verwerfen, sondern es handelt sich um Einschätzungen. Sie müssen den wissenschaftlichen Kenntnisstand berücksichtigen und in sich stimmig sein, plausibel sein und haben in meinen Augen von daher im Sinne einer wissenschaftlichen Einzelfallbeurteilung den gleichen Rang, wie es physikalische Messinstrumente haben, aber eben auf anderem Gebiet.“ Götzl: „Herr Prof. Saß, vielleicht könnten Sie auch noch Erläuterungen zu hypothesengeleiteten Vorgehensweisen machen?“ Saß: „Ja, das ist insbesondere dann, wenn man Experimente macht im Studiendesign [phon.]. Das ist im Grunde nicht das Vorgehen bei einer psychiatrischen Begutachtung, das ist auch nicht das, was in den Richtlinien für Gutachten als verbindliche Methode festgelegt ist. Wenn man es gewohnt ist, analog zu diesem hypthesengeleiteten Vorgehen zu argumentieren, dann könnte man bei der Schuldfähigkeitsfrage die Nullhypothese aufstellen, es liegt keine Störung vor, und die Alternativhypothese, es liegt eine Störung vor oder ein Schwachsinn, diese vier Krankheitsbegriffe, die im Paragraph 20, 21 genannt sind. Das ist nicht der Argumentationsgang im üblichen psychiatrischen Vorgehen, aber die beiden Methoden vertragen sich und führen nicht zu anderen Ergebnissen.“ Soweit in der Stellungnahme vom Dezember das „es wirkt so“ als Hypothese angesehen werde, zeige das, dass darin ein subjektiver Aspekt stecke. [phon.]

Götzl: „Inwiefern spielt jetzt die hypothesengeleitete Vorgehensweise im Hinblick auf Prognosegutachten eine Rolle?“ Saß: „Das ist nicht das übliche Vorgehen. Man kann das Gutachten in die Form des hypothesengeleiteten Vorgehens kleiden und alle Gesichtspunkte benutzen, um die eine oder andere Möglichkeit zu verifizieren oder zu falsifizieren. Im Grunde ist es aber das, was auch ich in meinem Vorgehen getan habe. Ich habe die Gesichtspunkte, die dafür und dagegen sprechen, aufgezählt und zum Schluss dann meine zusammenfassende Beurteilung, mein Resümee daraus gezogen.“ Götzl: „Jetzt würde mich noch ein Begriff interessieren, den Sie in Vortrag und Erläuterungen verwendet haben. Da hatten Sie, findet sich auf Seite 43 der Verschriftung, den Begriff der ‚Gemüthaftigkeit‘ verwendet. Können Sie den erläutern?“ Saß: „Ja, das ist halt ein bei uns geläufiger und sonst vielleicht nicht so geläufiger Begriff. Man unterscheidet grob die psychischen Funktionen in die kognitive – das Intellektuelle – und die Gemütsseite – das Emotional-Affektive, die dynamische Seite oder auch die Antriebsseite [phon.]. Das ist die Gegenüberstellung von Ratio auf der einen und Gemüt auf der anderen Seite. Und es ist wichtig, nicht nur auf die intellektuellen, kognitiv-rationalen Funktionen [phon.], sondern auch auf die emotional-affektive Seite zu achten, das Gemüt, die Antriebslage.“

RA Heer beschwert sich ohne Mikrofonverstärkung. Götzl: „Vielleicht wiederholen Sie es einfach nochmal?“ Heer: „Die beiden letzten Sätze.“ Saß sagt, er habe seine Sätze entwickelt und könne sie nicht einfach wiederholen: „Sie kennen den Begriff der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden?“ Götzl: „Sinngemäß?“ Saß wiederholt das zuletzt Gesagte sinngemäß. Götzl: „Sind von Seiten des Senats noch Fragen an den Sachverständigen? Von der Bundesanwaltschaft? Der Verteidigung?“ RAin Sturm: „Ich würde Sie bitten, für 15 Minuten kurz zu unterbrechen.“ Götzl: „Grund? Um sich auf die Befragung vorzubereiten?“ Sturm: „Ja, um vom fleißigen Mitschreiben umzuschalten auf die Befragung.“ Götzl: „Gut, habe ich schon verstanden. Dann machen wir jetzt Pause bis 10:55 Uhr.“

Um 10:58 Uhr geht es weiter. Sturm: „Ja, Herr Prof. Saß, ich würde gerne dort fortfahren, wo wir zuletzt aufgehört hatten. Es ging um den ersten Hauptverhandlungstag und die Frage, was Sie sich damals notiert hatten, und Sie sagten, Sie sähen sich nicht in der Lage, den Inhalt ihrer Notizen, die umfangreich seien, zu reproduzieren. Haben Sie sich Ihre Notizen nochmal angesehen und können Sie nun wiedergeben, was Sie notiert haben?“ Saß: „Ich habe mir Notizen gemacht, die zum Teil verwertet wurden für das Gutachten, zum Teil nicht, weil sie mir nicht zentral für die Beantwortung der Fragen erschienen. Ich habe Gelegenheit gehabt, mir das nochmal anzugucken.“ Sturm: „Was haben Sie sich den zum ersten Hauptverhandlungstag notiert?“ Saß: „Also ich möchte eigentlich nicht die Gesamtheit meiner Notizen hier referieren. Meine Notizen sind für mich als Arbeitsunterlage gedacht, sie enthalten Beobachtungen, die ich, weil ich sie für wichtig halte, zum Teil eingebaut habe oder nicht. Sie enthalten auch Gedanken, Überlegungen, Arbeitshypothesen, auch Bemerkungen, die man beim Nachdenken macht, die aber nicht für andere bestimmt sind. Das was ich an Beobachtungen gemacht habe, die erforderlich für die Beantwortung der Beweisfragen [phon.] sind, habe ich in meinem Gutachten geschildert. Ich habe dann, weil ich gefragt worden bin, die Beobachtungen nochmal in der umfangreicheren Form aus der vorläufigen Stellungnahme referiert. Ich sehe mich nicht in der Lage und ich bin eigentlich auch nicht gewillt, alles, was ich mir im Verlauf dieser vier Jahre notiert und erwogen habe und mal ins Unreine aufgeschrieben habe, jetzt hier vorzutragen.“

Sturm: „Indem Sie eine Bewertung vorgenommen haben bei der Auswahl Ihrer Beobachtungen, die Sie zugrunde gelegt haben, haben Sie ja eine Tätigkeit als Sachverständiger entfaltet. Ich habe das schon mal dargelegt und es ist eigentlich auch für den Senat erforderlich, nachzuvollziehen, was aus Ihrer Sicht für erheblich gehalten wurde, was die Gesamtheit Ihrer Beobachtungen war, auf was Sie sich gestützt haben. Und insofern halte ich die Frage für zulässig und bitte darum, dass sie beantwortet wird.“ Saß: „Da haben wir einen Dissens und da müsste gegebenenfalls das Gericht mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe. Sie möchten, dass ich alles, was ich zu Papier gebracht habe, referiere [phon.], ich möchte mich konzentrieren auf das, was für die Begutachtung und die Beantwortung der mir gestellten Fragen von Bedeutung ist.“ Sturm: „Tatsächlich geht es mir nicht einfach darum, nur abzuhören, was Sie niedergeschrieben haben, sondern es geht vor allem darum, welche Beobachtungen Sie gemacht haben und woran Sie sich erinnern. Sie haben ausgeführt, dass Sie sich nicht mehr an Ihre einzelnen Wahrnehmungen erinnern und deswegen Notizen gemacht haben. Und, Herr Vorsitzender, ich würde Sie bitten, den Sachverständigen anzuleiten, dass er die Frage zu beantworten hat.“ Götzl: „Also erinnern im Hinblick worauf?“ Sturm: „Was er am ersten Verhandlungstag für erheblich gehalten hat und es daher notiert hat.“ Saß: „Ja, da verweise ich, glaube, auf die Seite 77 dessen, was ich hier vorgetragen habe.“ Sturm: „Also Herr Vorsitzender!“ Götzl: „Die Frage geht nicht an mich. Ich werde momentan nicht befragt. Wenn Sie mit der Antwort nicht zufrieden sind, bitte ich Sie, weiter zu fragen.“

Sturm: „Ich habe beim letzten Mal gesagt, dass der Sachverständige mir nicht hinreichend vorbereitet erscheint. Das hat der Sachverständige abgestritten und da Ihnen erläutert wurde, dass sich die Notizen in Aachen befänden, bin ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Sachverständige seine Notizen zur Hand nimmt und mithilfe der Notizen die Fragen beantwortet. Und meine Frage lautet: Herr Prof. Saß, was haben Sie sich am ersten Tag notiert?“ Götzl: „Das ist eine Wiederholungsfrage, die zu beanstanden ist.“ Sturm: „Ich kann mich nicht erinnern, dass sie beantwortet wurde.“ Götzl: „Doch: Seite 77.“ Saß: „Folgende.“ Götzl: „Folgende, ja.“ OStA Weingarten: „Ich würde auch gern beanstanden, mit einer anderen Begründung. Der Sachverständige hat auf dieselbe Frage bereits bei der unterbrochenen Befragung nochmal ausdrücklich geantwortet, was er zum ersten Tag erinnere: Anspannung. Und auf ergänzende Nachfrage: Er könne sich im Moment an konkrete Beobachtungen, etwa Winkelstellung der Schultern, nicht erinnern. Insofern ist die Frage beantwortet. Und ich weise darauf hin, dass das Fragerecht der Verteidigung keine Beibringungsaufträge umfasst.“ Sturm: „Die Frage ist noch nicht beantwortet worden. Denn sie zielte darauf ab, was sich der Sachverständige am ersten Hauptverhandlungstag handschriftlich zu seinen Beobachtungen und Bewertungen notiert hat. Diese Frage ist bislang nicht beantwortet worden.“ Götzl: „Das ist eine weitere Frage jetzt, nicht die ursprüngliche.“ Sturm: „Ich habe sie wiederholt und erweitert, da es die Notizen betrifft.“

Saß: „Ich muss mich jetzt vielleicht auch wiederholen: Also ich weiß nicht, ob ich hier meine sämtliche Notizen zu referieren habe. Ich habe erläutert, dass diese Notizen für mich eine Arbeitsunterlage sind. Das enthält Beobachtungen, Überlegungen, Hypothesen, versuchsweise Überlegungen, Dinge, die man wieder verwirft. Das gehört zu einem Prozess einer Gutachtenerstellung [phon.], dass man zunächst Materialien sammelt und die allmählich verdichtet.“ Sturm: „Richtig.“ Saß: „Freut mich, dass Sie zustimmen.“ Sturm: „Und unsere Aufgabe ist es, das Zustandekommen zu hinterfragen. Insbesondere, wenn Sie sagen, dass Sie Hypothesen verworfen hätten. Dann verweise ich darauf, dass Sie am letzten Hauptverhandlungstag gesagt haben, Sie hätten keine Hypothesen gebildet.“ Saß: „Nein, ich habe gesagt, dass ich meinen Argumentationsgang nicht nach dem hypothesengeleiteten Vorgehen geordnet habe, sondern nach dem üblichen psychiatrischen Vorgehen. Aber natürlich habe ich bei meinen Überlegungen und Beobachtungen an den vielen Tagen manches überlegt, Hypothesen gebildet. So ist das zu verstehen. Und ich habe mir auch Notizen gemacht. Nur, zur Begutachtung ziehe ich das heran, was zur Beantwortung der gestellten Fragen von Bedeutung ist, aus meiner sachverständigen Sicht natürlich.“ Sturm: „Herr Vorsitzender, die Frage, welche Beobachtungen und Bewertungen sich der Sachverständige am ersten Hauptverhandlungstag notiert hat, ist bisher nicht beantwortet worden und ich halte sie aufrecht und bitte Sie, den Sachverständigen anzuweisen, sie zu beantworten.“ Götzl: „Ich hatte ihn so verstanden, dass er sich im Einzelnen nicht erinnern kann.“

Bundesanwalt Diemer sagt, der Sachverständige habe selbstverständlich anhand des Manuskripts ausgeführt, dass die Angeklagte etwas gehemmt gewesen sei, befangen, dass es ein gewisses Eingangsritual gegeben habe, und habe hier seine Beobachtungen geschildert: „Damit hat er m.E. die Frage beantwortet. Und es ist nicht wichtig, was der Sachverständige sich an welchem Tag notiert hat, sondern zu welchen Tatsachen und zu welchem Befund er gekommen ist. Ich will nochmal betonen, was mein Kollege gesagt hat: Die Verteidigung hat nicht das Recht, den Sachverständigen zu vernehmen, sondern nur zu befragen. Und es ist nicht sachdienlich, was er sich notiert hat.“ Götzl: „Und die Frage der Dokumentation ist beim letzten Mal gestellt und beantwortet worden. Eine Wiederholungsfrage.“ Sturm: „Nur dass etwas notiert worden ist.“ Götzl: „Nein, das ist falsch. Er hat gesagt, er kann nicht sagen, was er im Detail notiert habe. Aber er hat einiges Detailliertes gesagt zur Atmosphäre und so weiter. Ich will das nicht erneut wiederholen. Es ist eine Wiederholungsfrage. Und im Übrigen taucht das Problem, das Sie angesprochen haben [meint vermutlich Diemer]auch auf. Aber das will ich gar nicht diskutieren, denn es ist eine Wiederholungsfrage.“ Sturm: „Nein, er hat ausgeführt, er sähe sich jetzt nicht in der Lage, seine Notizen zu reproduzieren. Es geht um die Frage, was der Sachverständige sich notiert hat oder auch nicht. Und diese Frage ist nicht beantwortet. Ich frage zunächst mal: Haben Sie sich Notizen am ersten Hauptverhandlungstag angefertigt?“ Saß: „Ja.“ Sturm: „Wo befinden sich diese Notizen?“ Saß: „In meinem Arbeitszimmer.“ RA Heer ohne Mikrofonverstärkung: „Das ist ja unglaublich!“

Götzl sagt, es gehe jetzt nicht um Erklärungen, sondern RAin Sturm frage jetzt. Sturm: „Wie umfangreich sind diese Notizen?“ Götzl: „Das ist eine Wiederholungsfrage vom letzten Termin.“ Sturm: „Haben Sie sich diese nochmal angesehen?“ Götzl: „Ist eine Wiederholungsfrage.“ Sturm: „Nein.“ Götzl: „Doch.“ Sturm: „Ich bitte um eine Unterbrechung von 10, 20 Minuten zur Beratung.“ Götzl: „Zu welchem Behufe? Er hat gesagt, er hatte Gelegenheit, sich das anzuschauen. Was ist die Unklarheit?“ Sturm: „Sie können gerne eine Diskussion entflammen lassen, ob hier eine Unterbrechung angezeigt ist oder nicht. Der Sachverständige hat hier klar gesagt, er ist nicht bereit über seine Notizen zu sprechen, er hat sie auch gar nicht erst mitgebracht, um gegebenenfalls seine Erinnerung aufzufrischen. Und insofern möchte ich mich mit meinen Kollegen besprechen, wie wir jetzt vorgehen, denn wir hatten ausgeführt beim letzten Mal, dass wir gerne wissen wollen, was sich der Sachverständige im Einzelnen notiert hat.“

Zschäpe-Verteidiger RA Stahl: „Beim letzten Hauptverhandlungstag, bei dem Prof. Dr. Saß anwesend war, musste die Befragung durch die Verteidigung abgebrochen werden, weil Prof. Dr. Saß nicht in der Lage war, anhand seiner Notizen unsere Fragen zu beantworten.“ Er sei einigermaßen erstaunt, so Stahl, dass Saß die Notizen heute nicht dabei habe: „Denn das war, so ist meine Erinnerung, genau sein Auftrag.“ Götzl: „Nein. Welcher Auftrag von wem an wen?“ Stahl: „Ich meine sogar konkludent im Ohr zu haben, dass Sie den Herrn Sachverständigen gefragt haben, wo die denn sind und ob er die mitbringen kann. Und dass jetzt alle so tun, als sei das eine völlig illusorische Vorstellung von uns, warum der Sachverständige seine Notizen dabei haben soll: Also ich bin bass erstaunt, wirklich.“ Wohlleben-Verteidiger RA Klemke: „Ich kann nur beipflichten.“ Er habe, so Klemke, sogar noch im Ohr, dass an einem Tag nach Aachen gefahren und die Notizen geholt werden sollten. Götzl: „An welchem Tag? Von welcher Seite?“ Götzl fragt, ob Klemke das so interpretiere, dass es einen Auftrag an den SV gegeben habe. Klemke verneint das: „Aber das ist erörtert worden und Sie haben den Sachverständigen gefragt.“ Götzl: „Nein.“

OStA Weingarten: „Ich trete dem entgegen. Es mag sein, dass die Verteidigungen die rechtlichen Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft für unverbindlich halten. Aber es ist die Auffassung der Bundesanwaltschaft, dass die Erteilung von Hausaufgaben und die Aufforderung zur Beibringung an Auskunftspersonen vom Fragerecht nicht umfasst sind, und kollegialiter hatte die Bundesanwaltschaft bei der Gelegenheit ausgeführt, dass dies allenfalls auf Anordnung des Vorsitzenden im Rahmen der Aufklärungspflicht erfolgen kann. Eine solche Anordnung ist offensichtlich nicht erforderlich. Wünsche und Bitten der Verteidigung sind völlig unverbindlich und ich wäre bei einer Unterbrechung schon dankbar dafür zu erfahren [phon.], ob unterbrochen werden soll für die Vorbereitung der Befragung oder einen Antrag oder ob einfach eine Pause gewünscht wird. Es besteht gar kein Anlass, die Befragung jetzt zu unterbrechen.“ Heer: „Herr Vorsitzender, nochmal der Antrag, er wurde bereits zweimal gestellt: Frau Sturm, Herr Stahl und ich beantragen, die Hauptverhandlung für 20 Minuten zu unterbrechen, um das weitere prozessuale Vorgehen abzustimmen, und dann werden wir ja sehen, Herr Weingarten, was folgt.“ Götzl: „Was soll das bedeuten?“ Heer: „Herr Weingarten hat um eine Präzisierung des Hintergrundes der beantragten Unterbrechung gebeten, darauf habe ich mich bezogen.“ Götzl: „Dann setzen wir um 40 fort.“

Es folgt eine Unterbrechung bis 11:44 Uhr. Götzl: „Dann setzen wir fort. Herr Rechtsanwalt Heer?“ Heer: „Wir hatten ja eben einen kleinen Dissens zum Ablauf des betreffenden Hauptverhandlungstages, wir haben in den Notizen nachgeschaut. Wenn Sie gestatten, würde ich kurz zusammenfassen, wie wir es mitbekommen haben.“ Götzl: „Zu welcher Frage?“ Heer sagt, es gehe um die Frage ‚Notizen mitbringen oder nicht‘. RAin Sturm habe Saß am 340. Hauptverhandlungstag darum gebeten, seine Notizen mitzubringen, so Heer. Heer weiter: „Es entspann sich eine Diskussion. Dann sagten Sie, Herr Vorsitzender: ‚Ich würde gerne fortsetzen morgen. [phon.] Ich nehme an, Herr Prof. Dr. Saß, dass Sie auf Ihre Unterlagen zurückgreifen müssen.'“ Saß habe dann gesagt, dass sich seine umfangreichen handschriftlichen Notizen in Aachen befänden, so Heer. Heer: „Sie, Herr Vorsitzender, fragten nach weiteren Fragen der Verteidiger.“ Saß habe gesagt, wenn er Tag für Tag wiedergeben solle, es seien 773 Seiten, könne er das nicht aus dem Gedächtnis. Anschließend habe Götzl, so Heer, mit Saß die Termine abgestimmt. Heer sagt, die Terminabstimmung habe also ausschließlich dazu gedient, dass Sturm, Stahl und er selbst den SV an diesen Tagen anhand seiner Notizen befragen können. Heer: „Das war völlig eindeutig. Von daher bedurfte es gar nicht, dass Sie den Sachverständigen anhalten, seine Notizen mitzubringen.“

Götzl: „Ich habe den Sachverständigen nicht angehalten – und es gab auch gar keine Veranlassung dazu, dass er seine Notizen mitbringen soll. Und einen entsprechenden Antrag haben Sie zu keinem Zeitpunkt gestellt.“ RAin Sturm: „Selbstverständlich, ich habe ihn gestellt.“ Heer: „Die Terminabstimmung erfolgte exakt vor dem Hintergrund, dass wir drei Herrn Prof. Saß zu den Dokumentationen befragen.“ Götzl: „Ja, das war vielleicht Ihre Vorstellung.“ Heer: „Das haben wir so erklärt und auch umgesetzt. Natürlich haben wir größtes Verständnis, dass er dies nicht aus dem Gedächtnis reproduzieren kann. Er ist ja auch nicht Zeuge, sondern Sachverständiger. Er hat sich Notizen gemacht. Und wir beabsichtigen, Herrn Prof. Dr. Saß zu seiner Dokumentation der Hauptverhandlung, aktuell vom ersten Hauptverhandlungstag, zu befragen. Das ist jetzt nicht möglich. Wir können nicht beantragen, die Hauptverhandlung förmlich zu unterbrechen, aber wir beantragen, unsere Befragung zu unterbrechen, und wir beabsichtigen zurückzukommen auf die Frage: Welche Notizen haben Sie am ersten Tag angefertigt?“ Götzl: „Die Diskussion wiederholt sich. Ich hatte mehrmals gebeten, Fragen zu stellen, die auch möglicherweise unabhängig von diesem Thema sind. Sie wollten andere Fragen nicht stellen. Das war die Diskussion. Und zuletzt wurde entschieden, dass wir die Befragung am Folgetag fortsetzen.“

OStA Weingarten sagt, Heer habe die Abläufe schlicht unvollständig geschildert: „Er konnte Ihrem [Götzls] Verhalten auch nicht entnehmen, dass ein Auftrag erteilt wurde. Es war ein reines Sondierungsverhalten Ihrerseits, Herr Vorsitzender. Und zu diesem Appell von Frau Rechtsanwältin Sturm, die Unterlagen beizubringen, hatte noch kein anderer Verfahrensbeteiligter Stellung genommen. Nach diesen Stellungnahmen sind Sie dem Antrag, den Sachverständigen anzuleiten, seine Notizen mitzubringen, eben gerade nicht nachgekommen. Insofern hat es eine positive Entscheidung nicht gegeben, sondern eine ablehnende Entscheidung, indem Sie die Befragung fortgesetzt haben. Das hätte sich den Rechtsanwälten auch zwanglos erschließen können, weil es nach den Stellungnahmen erfolgt ist.“ Stahl: „Ich finde die Diskussion, die wir hier gerade führen, und die von Seiten Herrn Oberstaatsanwalts Weingarten meines Erachtens nach rabulistisch, also wortklauberisch geführt wird, ein bisschen unwürdig. Auf mehrfache Fragen durch den Vorsitzenden an die Verteidigung hieß es mehrfach, dass noch eine Menge Fragen da seien, der Sachverständige aber aus unserer Sicht nicht ordnungsgemäß vorbereitet sei, dass er seine Unterlagen mitbringt, wenn er sie denn benötigt – und er benötigt sie. Und diese Diskussion haben wir ganz offen geführt. Keiner hat das missverstehen können, dass wir diese Diskussion geführt haben. Und dann haben Sie, Herr Vorsitzender, so habe ich das auch empfunden, anerkannt, dass das Fragekonzept von Frau Sturm an diesem Hauptverhandlungstag nicht weitergeführt wird, weil zunächst der Sachverständige dazu gefragt wird, welche Beobachtungen er gemacht hat oder nicht und welche er notiert hat oder auch nicht.“

Stahl sagt, das sei Gegenstand dieses Konzeptes gewesen und das habe zumindest am Tag 1, weil es ein wichtiger und initialer Tag sei, gemacht werden sollen. Stahl weiter: „Und das konnte der Sachverständige nicht, weil er seine Unterlagen in Aachen hat. Und heute zu sagen: ‚Das geht nicht, wie kommen Sie denn darauf?‘ Also ich bin immer noch bass erstaunt. Und ich sehe das so, dass wir an demselben Punkt sind, an exakt demselben Punkt, wo Frau Sturm sagte: ‚Da müssen wir unser Fragerecht unterbrechen.‘ Und warum? Weil der Sachverständige hier heute verkündet, er ist nicht willens, überhaupt aus seinen Unterlagen hier vorzutragen. Es ging auch nicht um alle Tage, sondern um Tag 1. Und das finde ich ein starkes Stück, wenn wir uns alle auf den Tag eingestellt haben, weil er hier gesagt hat, seine Unterlagen sind in Aachen. Das verstehe ich nicht.“

Götzl: „Weitere Stellungnahmen? Ja, soll jetzt ein Antrag gestellt werden? Um Missverständnisse zu vermeiden: Soll ein Antrag gestellt werden, was diese Unterlagen angeht, oder nicht? Da müssen Sie mal Farbe bekennen und sich entscheiden, was Sie wollen.“ Heer sagt, das müsse Götzl nach Verständnis der Verteidigung von Amts wegen machen. Götzl: „Nein.“ Heer: „Doch, nach unserem Verständnis. Dann stellen Frau Sturm, Herr Stahl und ich den Antrag, dass Sie den Sachverständigen leiten, seine Unterlagen zum Gerichtsort zu bringen, damit Frau Sturm, Herr Stahl und ich die Befragung gemäß unseren Ankündigungen fortsetzen können.“ Götzl: „Soll zu diesem Antrag Stellung genommen werden?“ Bundesanwalt Diemer: „Kommt da jetzt noch eine Begründung oder war’s das?“ Stahl: „Die Begründung ist implizit, aber die Begründung ist die, die der Sachverständige selbst gegeben hat: Ohne Notizen kann er die Fragen nicht beantworten, und die Notizen habe er in Aachen. Wo sind wir denn hier? Da könnte man aus der Hose springen!“ Diemer: „Da würde ich um eine Unterbrechung von 20 Minuten bitten.“ Götzl beschwert sich wegen Stahls Formulierung „aus der Hose springen“. Götzl: „Wegen einer Begründung zu einem Antrag nachzufragen ist nicht abwegig!“ Heer: „Es ist völlig eindeutig.“ Götzl: „Sind denn dazu noch Stellungnahmen? Keine. Gut, dann machen wir die Mittagspause und setzen um 13 Uhr fort.“

Um 13:02 Uhr wird durchgesagt, dass die Verhandlung um 13:10 Uhr fortgesetzt wird. Um 13:15 Uhr geht es dann tatsächlich weiter. Weingarten verliest die Stellungnahme der BAW zu dem Antrag der Altverteidigung Zschäpe. Der Antrag sei abzulehnen, so Weingarten. Soweit der SV als Zeuge zur Wiedergabe sinnlicher Wahrnehmungen der Angeklagten Zschäpe in Betracht komme, sei die begehrte Anordnung des Vorsitzenden unter den Aufklärungsgesichtspunkten des § 244 StPO nicht geboten. Es sei weder ausgeführt noch sonst ersichtlich, welches bisher nicht vom SV geschilderte Verhalten der Angeklagten Zschäpe für Schuld- und Rechtsfolgenfrage von Bedeutung sein könnte. Der Vorsitzende sei nicht verpflichtet, den SV alles, was er sich ins Blaue hinein notiert hat, alle möglichen Wahrnehmungen in der Hauptverhandlung vortragen zu lassen. Zu berücksichtigen sei, dass die Darlegung jeder einzelnen Wahrnehmung nur einen kleinen Teil des Materials des SV umfassen würde, das auch aus Zeugenaussagen, Aktenbestandteilen und wissenschaftlicher Literatur bestehe. Die enzyklopädische Wiedergabe einzelner Fragmente sei nicht geeignet, das methodische Vorgehen des SV, das der SV bereits ausführlich und nachvollziehbar dargelegt habe, noch nachvollziehbarer zu machen. Der Senat könne sich sein eigenes Bild machen und insofern lägen keine Exklusivwahrnehmungen des SV vor. Da keine Anhaltspunkte vorlägen oder auch nur vorgetragen worden seien, dass es bei den vorgetragenen Beobachtungen zu methodischen Fehlern gekommen ist, bestehe auch kein Anlass, sämtliche Notizen proaktiv ins Verfahren einzuführen. Im Übrigen wäre, so Weingarten, der richtige Überprüfungsansatz die Konfrontation des SV während der Befragung mit Vorhalten mit bestimmten aus Sicht der Verteidigung außer Acht gelassenen Verhaltensweisen der Angeklagten Zschäpe. Die Verteidiger hätten dazu aber keinen Anlass gesehen, umso weniger gebe es für den Senat Anlass dazu.

RA Heer: „Herr Stahl, Frau Sturm und ich beantragen die Hauptverhandlung bis 14 Uhr zu unterbrechen, um eine Erwiderung vorzubereiten.“ Götzl: „Sind denn bei den weiteren Verfahrensbeteiligten Stellungnahmen zu der Frage?“ Niemand meldet sich. Götzl: „Dann unterbrechen wir bis 14 Uhr.“

Um 14:05 Uhr geht es weiter. RA Stahl beginnt: „Hoher Senat, Herr Vorsitzender …“ Götzl: „Bekommen wir das schriftlich?“ Stahl: „Nein, das haben wir jetzt nur für uns vorbereitet, wie der Herr Oberstaatsanwalt Weingarten auch.“ Dann fährt er mit der Erwiderung fort. Die Ausführungen des GBA gingen an der Sache vorbei, so Stahl, denn die Antwort auf die Frage, ob der SV seine handschriftliche Notizen mitbringen muss oder nicht, habe der SV selbst gegeben. Denn der SV habe mitgeteilt, dass er in der Lage sei, zulässige Fragen der Verteidigung nach seinen Beobachtungen am ersten Hauptverhandlungstag zu beantworten, allerdings nur anhand seiner handschriftlichen Notizen. Daraus ergebe sich denklogisch, wenn der SV nicht die Beantwortung zulässiger Fragen verweigern wolle, dass er sich vorbereitet und seine Notizen mitbringt. Aktuell komme das Verhalten des SV, seine Notizen in seinem Arbeitszimmer gelassen zu haben, faktisch einer Verweigerung der Beantwortung einer Verteidigerfrage gleich, was die Formulierung „nicht willens“ auch belege. Wenn aber der SV erkläre, er könne Fragen mittels Notizen beantworten, sich aber weigere, diese nun mitzuführen, sei der SV durch den Vorsitzenden anzuleiten: „Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.“ Die von RAin Sturm am 340. Verhandlungstag und heute gestellten Fragen seien zweifellos zulässig, so Stahl, denn sie seien vom Vorsitzenden auch nicht zurückgewiesen worden.

Es gehöre zur Pflicht des SV, alle zur Erstellung seines Gutachtens erstellten Unterlagen präsent zu haben. Es komme auch nicht darauf an, welche Fragen – wie der GBA meine – die Verteidigung richtigerweise stellen müsste. Die Verteidigung habe im Rahmen ihres erarbeiteten Fragekonzepts auf die Gutachtenerstattung abzielende Fragen erarbeitet. Es gehe auch nicht darum, ob Wahrnehmungen von Zschäpe auch durch andere Verfahrensbeteiligte wie dem Senat gemacht werden konnten, sondern um die Wahrnehmungen, die der SV gemacht hat, denn es handele sich um eine Selektion, die der SV vorgenommen habe und die für die Verteidigung von Interesse sei. Götzl: „Sind weitere Stellungnahmen? Keine. Dann unterbrechen wir bis 14:25 Uhr.“

Um 14:26 Uhr geht es weiter. Götzl: „Dann ergeht Verfügung des Vorsitzenden: Die Anträge, den Sachverständigen Prof. Dr. Saß zu leiten, seine handschriftlichen Notizen zum Gerichtsort zu bringen, werden abgelehnt.“ Zur Begründung führt Götzl aus, dass die beantragte Leitung nicht sachgerecht sei, weil die Aufklärungspflicht nicht dazu dränge. Gegenstand der Gutachtenerstattung seien u.a. Saß‘ Beobachtungen des Ausdrucksverhaltens und der Interaktionen der Angeklagten Zschäpe in und am Rande der Hauptverhandlung gewesen. Dabei habe der SV ausgeführt, dass es sich um eine zusammenfassende Darstellung seiner Beobachtungen seit dem ersten Hauptverhandlungstag handele, er habe sich über seine Beobachtungen Notizen gemacht, die Beobachtungen, die für die Gutachtenerstellung relevant seien, habe er in der Hauptverhandlung ausführlich geschildert. Der SV habe die von ihm getätigten Beobachtungen umfassend dargestellt, soweit sie für die Beantwortung der Gutachtensfragen relevant seien. Die Aufklärungspflicht dränge daher nicht dazu, ihn in der beantragten Weise anzuleiten.

Sturm, Stahl und Heer beraten sich ungewöhnlich lange. Dann sagt Heer: „Frau Sturm, Herr Stahl und ich beantragen erstens die Aushändigung einer Verschriftung und zweitens, die Hauptverhandlung zu unterbrechen bis 15:45 Uhr, um eine begründete Beanstandung Ihrer Verfügung vorzubereiten.“ Götzl: „Ich habe das jetzt handschriftlich notiert und das langsam vorgetragen.“ Heer: „Der Antrag bleibt aufrechterhalten.“ Götzl: „Ja, der Antrag wird aber abgelehnt, ich habe die Begründung gleich mitgeliefert.“ Sturm: „Tatsache ist, ich konnte das so schnell nicht mitschreiben. Insofern würde ich Sie bitten, die Verfügung nochmal vorzulesen.“ Götzl: „Nein, ich bin ja nicht dazu da, meine Verfügung wiederholt vorzulesen. Also ich bitte Sie!“ Heer beanstandet das, es komme für eine eine vernünftige Erwiderung natürlich auch auf Nuancen an. Weingarten: „Der Vorsitzende ist nicht dazu verpflichtet, seine Verfügung mehrfach vorzulesen. Das war nachvollziehbar. Wenn wir Anlass zu einer Beanstandung hätten, würden wir dies unproblematisch anhand unserer Mitschriften tun können.“ Götzl: „Soll denn der Antrag auf die lange Unterbrechung auch im Hinblick auf die Verschriftung erfolgen?“ Heer: „Nein, die beantragte Unterbrechung bezieht sich auf den Fristbeginn ab Unterlagenübergabe.“ Götzl: „Dann wird unterbrochen bis 40, machen wir Viertel vor.“

Um 14:48 Uhr geht es weiter. Götzl: „Um das Ganze abzukürzen, habe ich Ihnen hier diese Kopien gefertigt. Sie brauchen dann bis?“ Heer: „Eineinviertel Stunden.“ Götzl: „Eineinviertel Stunden? Eben hat Ihr Mitverteidiger gesagt, es bedarf nicht mal einer Begründung.“ Stahl sagt ohne Mikrofonverstärkung: „Das waren verschiedene Paar Stiefel.“ Götzl: „Waren das verschiedene Paar Stiefel? Na ja, sei’s drum.“ Stahl sagt noch etwas, was auf der Empore nicht zu verstehen ist. Götzl entgegnet, das müsse man nicht vertiefen: „Unterbrechen wir halt bis 16 Uhr.“

Um 16:02 Uhr geht es weiter. RAin Sturm verliest die Beanstandung. Zunächst sagt sie, dass die Beiziehung der Notizen, zumindest derzeit, nicht beantragt worden sei. Der SV solle durch die Leitung in die Lage versetzt werden, die Fragen der Verteidigung unter Zuhilfenahme seiner handschriftlich gefertigten Notizen zu beantworten. Der Richter müsse dafür Sorge tragen, dass der SV die für sein Fachgebiet gültigen Mindeststandards bei der Gutachtenerstattung einhält: „Wir hatten nach Konsultation eines psychiatrischen Sachverständigen zahlreiche methodische Mängel des schriftlichen Vorgutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Saß aufgezeigt und ein entsprechendes, selbst eingeholtes Sachverständigengutachten dem Senat vorgelegt. Auf einen Antrag, den Sachverständigen deswegen zu entbinden, entschied der Senat, es komme ausschließlich auf das in der Hauptverhandlung zu erstattende mündliche Gutachten an. In den Ausführungen unter ‚zu II.‘ im Beschluss vom 21.12.2016 hat der Senat deutlich gemacht, dass das vorbereitende schriftliche Gutachten tatsächlich ohne Bedeutung ist und es ausschließlich auf das erstattete mündliche Gutachten ankommt. Waren die Überlegungen der Verteidigung, wie sich der Sachverständige zu den methodenkritischen Einwänden des vorbereitenden Gutachtens stellen wird, vor diesem Hintergrund noch spekulativ, weil ohne die Erstattung des mündlichen Gutachtens keine Aussage dazu möglich ist, was der Sachverständige dazu vortragen wird, kann davon seit Beginn der Erstattung des Gutachtens keine Rede mehr sein.

Das mündliche Gutachten war, soweit es um Beobachtungen von Frau Zschäpe durch den Sachverständigen innerhalb und außerhalb der Hauptverhandlung geht, identisch mit der vorbereitenden schriftlichen Stellungnahme, denn der Sachverständige las aus dieser wörtlich vor. Hinzu kommt, dass der Vorsitzende am 340. Hauptverhandlungstag, insoweit beziehen wir uns auf unseren Vortrag vom heutigen Tage, die Befragung des Sachverständigen durch uns unterbrach, weil der Sachverständige Fragen zu seinen Beobachtungen von Frau Zschäpe vom ersten Hauptverhandlungstag ohne Zuhilfenahme seiner handschriftlichen Notizen nicht beantworten konnte. Damit offenbarte der Vorsitzende, dass er das entsprechende Fragebedürfnis der Verteidigung jedenfalls nicht in Zweifel zog. Ob der Begriff der Aufklärungspflicht durch den Vorsitzenden in seiner Verfügung überhaupt berechtigterweise herangezogen wurde, bedarf hier keiner Erörterung, da vorliegend die effektive Ausübung des Fragerechts durch die Verteidigung betroffen ist.“ In der Gesamtschau sei zu berücksichtigen, so Sturm weiter, dass der SV erklärt habe, er könne Details der am ersten Hauptverhandlungstag getätigten Beobachtungen nicht aus der Erinnerung wiedergeben, und dabei auf das Erfordernis der Lektüre seiner handschriftlichen Notizen verwiesen habe, andererseits am heutigen Verhandlungstag erklärt habe, nicht einmal deren Inhalt wiedergeben zu wollen.

Bei einer vollständigen Weigerung des SV, der heute erklärt habe, auch nicht über den Inhalt seiner Notizen referieren zu wollen, sei es der Verteidigung unmöglich, die Methodik des SV nachzuvollziehen und ggf. anhand des Ergebnisses der Befragung zu seinen Beobachtungen und deren Einfluss in das mündliche Gutachten erfolgversprechende weitere Anträge zu stellen sowie den von der Verteidigung hinzugezogenen SV über die Vorgehensweise von Saß zu instruieren. Schließlich obliege es unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – das fordere, dass die Grundsätze des BGH zu Glaubhaftigkeitsgutachten auch auf Prognosegutachten übertragen werden – gerade auch dem Senat, für eine hinreichende Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Gutachtens Sorge zu tragen. Sturm abschließend: „Soweit schließlich der Sachverständige selbst im Rahmen der Erstattung des mündlichen Gutachtens zur Beantwortung der Gutachtensfrage darauf verweist, dass Gesichtspunkte zu den psychopathologischen und kriminalprognostischen Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von ihm beschrieben wurden und hierauf ggf. nach den Vorgaben der Verfahrensbeteiligten in der Befragung weiter eingegangen werde kann, kommt die Verweigerung des Sachverständigen, Fragen zu diesen Gesichtspunkten zu beantworten, einer Verweigerung der Gutachtenerstattung gleich.“

Götzl: „Soll dazu Stellung genommen werden von irgendeiner Seite?“ Niemand meldet sich. Götzl: „Sind denn ansonsten für heute weitere Anträge oder Erklärungen?“ NK-Vertreter RA Elberling sagt im Hinblick auf die Stellungnahme des GBA vom letzten Mal, dass er das überprüft habe und in der Tat seien große Teile schon erwiesen: „Wir nehmen den Antrag zurück. Sollte das Gericht der Auffassung sein, dass da weitere Aufklärung notwendig ist, könnte man die von der Bundesanwaltschaft genannten Dokumente verlesen.“ Götzl: „Das gilt dann für alle, die sich dem Antrag angeschlossen haben?“ Elberling bejaht das. Der Verhandlungstag endet um 16:09 Uhr.

Das Blog „NSU-Nebenklage„: „Erfolglos verlief heute der Versuch der AltverteidigerInnen der Angeklagten Zschäpe, alle handschriftlichen Notizen des Sachverständigen Prof. Saß ins Verfahren zu bekommen. […] Der Vorsitzende hatte vor zwei Wochen nach Saß‘ Hinweis, er habe seine Notizen nicht dabei, und der Angabe der Verteidigung, sie hätten dann jetzt keine Fragen mehr, den Sachverständigen selbst befragt und dann für diese Woche erneut geladen – daraus hatten Heer, Stahl und Sturm anscheinend geschlossen, er habe dann natürlich seine Notizen mitzubringen. Saß allerdings hatte die Unterlagen auch diesmal zu Hause gelassen und verwies darauf, dass er alle wesentlichen Beobachtungen in sein Gutachten aufgenommen habe – tatsächlich hatte er sowohl beim letzten Mal als auch heute sehr ausführlich seine Beobachtungen von Zschäpes Verhalten im Sitzungssaal geschildert.Die AltverteidigerInnen waren augenscheinlich nicht in der Lage, Saß mit etwaigen Lücken in seinen Schilderungen zu konfrontieren – es entsteht der Eindruck, dass ihnen solche auch gar nicht aufgefallen sind. Damit zeigten sich Heer, Stahl und Sturm hier einmal mehr passiv und auf Formalitäten bedacht, stellten lange Anträge auf Unterstützung des Gerichts bei der Herbeischaffung von Nebensächlichem – anstatt selbst aktiv und kämpferisch die konkrete Auseinandersetzung, hier um den Inhalt von Saß‘ Gutachten, aufzunehmen. Diese Form der Verteidigung ist in einem politischen Strafverfahren vor einem Oberlandesgericht genau wenig erfolgversprechend wie der Versuch von Zschäpes neuen Verteidigern, sich mit windigen Geschichten herauszureden.“
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/02/07/07-02-2017/

    » «