Die Befragung des psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Henning Saß wird an diesem Prozesstag fortgesetzt. Die sog. Alt-Verteidigung von Beate Zschäpe hat weitere Fragen zur grundsätzlichen Vorgehensweise, z.B. zu den Kriterien des Sachverständigen. Danach fragt auch die „neue“ Verteidigung von Zschäpe. Während der Befragungen gibt es viele Diskussionen mit anderen Prozessbeteiligten über die Zulässigkeit von Fragen.
Sachverständiger:
- Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrische Begutachtung von Beate Zschäpe)
Der Verhandlungstag beginnt um 09:47 Uhr. Für Wohlleben-Verteidiger Klemke ist heute RA Maik Bunzel anwesend. Zschäpe-Wahlverteidiger RA Borchert ist heute da. Vorsitzender Richter Götzl: „Wir setzen heute fort mit der Anhörung von Prof. Dr. Saß, den ich ebenfalls begrüße. Wir waren stehengeblieben bei Fragen von Ihnen, Herr Rechtsanwalt Stahl.“
Stahl: „Herr Prof. Dr. Saß, stehengeblieben war ich bei meiner Befragung bei der Frage, die Sie schon beantwortet hatten, ob Sie beim Zugrundelegen des sogenannten Szenario 2 auch Beobachtungen aus der Hauptverhandlung mitberücksichtigt haben. Ich habe dann provokanterweise die Einlassung von Frau Zschäpe herangezogen. Und Sie sagten gleichwohl, Sie hätten auch Beobachtungen einfließen lassen. Und da geht es mir jetzt darum: Welche Beobachtungen und welche gerade nicht? Global, nicht im Einzelnen.“ Saß: „Ich denke, dass ich das auch schon bei der Gutachtenerstattung und der anschließenden Befragung erläutert hatte. Beispielsweise die Reaktionen auf Zeugenaussagen, beispielsweise das Interaktionsverhalten mit Verteidigern in der sogenannten Verteidigerkrise.“ Stahl: „Sie hatten dann auf meine Frage auch ausgeführt, das Szenario, wie es im Manuskript dargestellt ist, das Szenario 2 beinhalte im Großen und Ganzen die Hypothese, wie sie der Generalbundesanwalt in seiner Anklageschrift aufstellt. Da hatten Sie dann im Weiteren in Ihrem Manuskript ausgeführt, dass ferner, das ist Seite 50 im ersten Absatz, ‚wohl auch von einer Akzeptanz und einem Mittragen des politisch-ideologischen Begründungsrahmens für die Taten‘ auszugehen sei. Woran machen Sie das jetzt fest, dieses ‚wohl auch auszugehen sei‘?“ Saß: „Sowohl die Formulierung ‚im Großen und Ganzen‘ wie ‚wohl auch‘ ist Ausdruck der Vorsicht, die ich anwenden muss, weil ich ja keine definitiven Feststellungen über richtig und falsch treffen kann. Im Szenario der Bundesanwaltschaft wird, wenn ich das richtig sehe, davon ausgegangen, dass das geteilt wird, dieser politisch-ideologische Begründungszusammenhang.“
Stahl: „Haben Sie im Verhalten von Frau Zschäpe – abgesehen davon, dass Sie keine konkreten Anhaltspunkte fanden, dass ihre ‚ich-syntone Haltung zur Delinquenz‘ nicht aufgegeben wurde – haben Sie dafür Hinweise gefunden?“ Saß: „Aus der Verhaltensbeobachtungen in der Hauptverhandlung lässt sich eine Aussage über den politisch-ideologischen Hintergrund nicht treffen.“ Stahl: „Allgemein oder konkret bei Frau Zschäpe?“ Saß: „Konkret, aber allgemein dürfte es auch zutreffen, wenn keine verbalen Äußerungen kommen.“ Stahl: „Aber aus meiner Betrachtung würde ich sagen, es gibt auch mal Gerichtsverfahren mit schweigenden Angeklagten, da sieht man eine Tendenz, dass sich Angeklagte einer gewissen Szene zugehörig fühlen.“ Saß: „Ich stimme zu.“ Stahl: „Andere Thematik: Was mich auch nochmal etwas globaler interessiert: Sie hatten ausgeführt, dass die Hangkriterien, über die wir in diesem Teil des Gutachtens zur Prognose sprechen, die sie herangezogen hatten, entwickelt worden seien von Ihnen und Ihrem Schüler, wenn ich mich richtig erinnere, und jeder von Ihnen als empirische Erfahrungswerte geschätzt etwa 50 Begutachtungen zugrunde gelegt hat, aus denen diese Kriterien entwickelt wurden.“ Saß: „Ja, halten Sie sich nicht am Begriff Schüler fest, der war damals Mitarbeiter an der Klinik, heute ist er Professor für forensische Psychiatrie in Zürich, also durchaus eigenständig, der hat seine Habilitationsschrift über die Frage der Sicherungsverwahrung geschrieben und 50 [phon.] Fälle zugrunde gelegt. Es gibt eine Arbeit aus 2008, wo er 288 [phon.] Fälle zugrunde gelegt hat.“ Stahl: „Zu diesen Kriterien?“ Saß: „Nein, Sicherungsverwahrung, die er auch untersucht hat.“
Stahl: „Ich bitte das nicht als Provokation aufzufassen, das wirkt jetzt vielleicht so: Sind Sie der Auffassung [phon.], dass die Kriterien die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Bewertung erfüllen?“ Saß: „Ja.“ Stahl: „Warum?“ Saß: „Sie sind gewonnen aus der wissenschaftlichen Analyse von Fällen und der wissenschaftlichen Analyse der Literatur und sie sind erstellt, um das Material, was in den Gesamtkreis der Frage der Sicherungsverwahrung gehört, zu ordnen, und sie haben einen gewissen Anklang in der Literatur gefunden. Sie sind nicht in dem Sinne als Test anzusehen, wie bei Krankheitsfällen. Also wenn Sie über Hepatitis oder Krebs sprechen, dann lassen sich Kriterien definieren, die man in Laboruntersuchungen [phon.] gewinnen kann. Dies sind Kriterien, die helfen sollen und dazu geeignet sind, die Fülle des Materials, das es zu berücksichtigen gilt, zu strukturieren.“ Stahl: „Das war die Antwort?“ Saß: „Ja.“ Stahl: „Das geht ein bisschen an dem, was ich hören möchte, vorbei.“ Stahl fragt, warum diese Vorgehensweise, die Saß und sein Kollege aus ihren Erfahrungen aufgestellt hätten, wissenschaftlich sei. Saß: „Das ist nicht ganz richtig. Es ist nicht nur der Fundus der eigenen Erfahrungen, sondern auch der gesamten wissenschaftlichen Literatur, die es dazu gibt. Ja, das ist ein wissenschaftliches Vorgehen. So sind auch die Kriterien für Affektdelikte entwickelt worden, auch zu Persönlichkeitsstörungen, die auch ein Gegenstand sind. So sind die Kriterien entwickelt [phon.] worden, die Eingang in die Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten gefunden haben. Das ist ein wissenschaftliches, aus Erfahrung und Literatur gewonnenes und in der Literatur zur Diskussion gestelltes Vorgehen.“
Stahl: „Ja, gut, man müsste sich dann vielleicht zunächst mal darauf einigen, was wir beide unter wissenschaftlichem Vorgehen verstehen. Ich will mal sagen, was ich darunter verstehe: Aus meiner Sicht ist eine Methode dann wissenschaftlich, wenn sie vielfach wiederholt werden kann und zu gleichen Ergebnissen führt. Da sehe ich jetzt ein bisschen die Schwachpunkte, die Sie mir vielleicht erklären können, bei dem in Anführungsstrichen wenigen Material an Begutachtungen, Sie schätzen 50.“ Götzl: „Was ist jetzt die Frage? Das ist ein Vorhalt.“ Stahl: „Das war die Erklärung, was ich als wissenschaftlich ansehe. Es bleibt bei meiner Frage von vorhin, warum das dann das Kriterium erfüllt, diese Vorgehensweise. Denn bisher hat Prof. Saß nur gesagt, dass er das als wissenschaftlich ansieht. Das reicht mir aber nicht.“ Saß: „Jetzt ist in dem vielen Hin und Her mir die Frage nicht präzis genug, wenn Sie bitte die Frage nochmal stellen.“ Stahl: „Die Frage ist: Unter welchen Gesichtspunkten gehen Sie davon aus, dass es sich bei den Kriterien um wissenschaftliches Vorgehen handelt in dem Sinne?“
Götzl: „Dann beanstande ich, weil Sie voraussetzen, dass das, was Sie vorgeben, das allgemein anerkannte Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist. Dann wäre es eine Suggestivfrage. Ich bin nicht der Meinung, dass das das alleinige Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist, dass es vielfach wiederholbar ist.“ Stahl: „Das ist eine Prämisse, die ich formuliert habe.“ Götzl: „Wenn Sie es so kleiden, dass das das Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist, dann ist die Frage nicht logisch.“ Stahl: „Logisch mag sie schon sein. Ich hatte zur Klarstellung, worum es mir geht, die Prämisse gemacht, dass wir über die Wiederholbarkeit sprechen und ich habe Prof. Dr. Saß‘ nonverbale Antwort, dass er genickt hat, so gedeutet.“ Saß: „Das ist sicherlich ein Aspekt, der dazugehört.“ Stahl: „Sehe ich auch so. In dem Kontext wäre es schön, wenn Sie mir erklären könnten, ob das unter ähnlichen Fällen zu ähnlichen Ergebnissen kommt, ob da Empirie dahinter steckt, die Belastbarkeit.“ Saß: „Da steckt eine Empirie dahinter, nämlich die Vielzahl von Beobachtungen, die gemacht worden sind von mir und Kollegen.“ Stahl: „Das ist die Antwort, die ich erwartet habe. Es sind also Erfahrungen, Ihre persönlichen, nehme ich an, die dort mit einfließen?“ Saß: „Natürlich. Ich hatte ja gesagt, es ist eine Erfahrungswissenschaft, die forensische Psychiatrie. Die Psychiatrie überhaupt.“ Stahl: „Kann ich sicher gehen, dass die Ergebnisse, die auf Ihren Erfahrungen beruhen, vergleichbar sind mit den Ergebnissen, die auf Erfahrungen anderer Psychowissenschaftler beruhen, und wenn ja, warum?“ Saß: „Begutachtungen zur Schuldfähigkeit und zur Prognose weisen, wenn es erfahrene Sachverständige sind, eine gute Übereinstimmung auf, allerdings können Sie nicht sicher sein, dass jeder Sachverständige zu identischen Ergebnissen kommt. Überprüfbarkeit anhand naturwissenschaftlicher Testverfahren, Laborbefunden, Bildgebungsbefunden ist in der forensischen Psychiatrie fast nie möglich. Das Kriterium, an dem sich die Tauglichkeit eines Gutachtens erweist, ist, ob es in sich schlüssig, überzeugend, frei von Widersprüchen und eben plausibel, also nachvollziehbar ist. Wenn es das nicht ist, gibt es ja die Möglichkeit, einen weiteren Gutachter zu holen, der ebenfalls das Material prüft und zu Schlussfolgerungen kommt. Wenn es erfahrene Gutachter sind, ist es so, dass das Ergebnis sehr oft übereinstimmend ist, selbst wenn sie von anderen theoretischen Grundlagen ausgehen, etwa tiefenpsychologisch, psychoanalytisch oder phänomenologisch orientiert [phon.]. Dennoch waren die Ergebnisse in der Regel übereinstimmend.“
Stahl: „Wenn Sie sagen, in der Regel übereinstimmend?“ Saß: „Das wissen Sie ja auch, dass es nicht immer übereinstimmend ist bei Gutachten.“ Stahl: „Das ist mir schon klar. Ich will es sicherlich nicht so behandeln, als würde hier ein Mathematiker sitzen, aber ein gewisse Belastbarkeit, dass es nicht ein rein persönliches Ergebnis ist, das Ergebnis persönlicher Eindrücke, das hätte ich schon gerne, sonst wäre es ja beliebig.“ Saß: „Die Belastbarkeit ergibt sich daraus, ob Befunde, Anhaltspunkte, Indizien, Tatsachen enthalten sind, geordnet sind, in einen plausiblen Zusammenhang gebracht worden sind, und ob in nachvollziehbarer Weise Schlussfolgerungen gezogen sind. Das ist eigentlich the proof of the pudding [phon.] bei so einem Gutachten.“ Stahl: „Ich halte Ihnen vor, auf Seite 6 oben führen Sie hinsichtlich der Beobachtung des Ausdrucksverhalten aus: ‚Sie geben die Eindrücke des Untersuchers und damit verbundene Rückschlüsse auf die psychische Verfassung der Angeklagten wieder. Soweit auch die Interaktion mit anderen Personen berücksichtigt wird, steht die Einschätzung unter dem Vorbehalt, dass es keinerlei Kenntnis über den Inhalt der Interaktionen gab. Von daher ist der subjektive Charakter der Einschätzungen durch den Gutachter zu betonen, die allerdings auf dem empirischen Erfahrungshintergrund jahrzehntelanger Untersuchungen und Beobachtungen im forensischen Bereich beruhen.'“ Saß: „Ich habe es mehrfach erörtert und ich halte das weiterhin für eine offene Darlegung der Grundlagen und eine offene Darlegung der Grenzen. Zur Frage der Subjektivität habe ich, wie Sie wissen, auch Ausführungen gemacht. Sie stellt keinen Mangel dar im Umgang mit psychischem Erleben, sondern sie ist unabänderlich.“ Stahl: „Was genau? Subjektivität ist unabänderlich?“ Saß: „Ja, ich habe es ja ausgeführt, das liegt in der Natur des Untersuchungsgegenstandes.“
Stahl: „Bei den herangezogenen Untersuchungen für die Kriterien, die Sie aufgestellt haben, um welche Delinquenz handelt es sich?“ Saß: „In aller Regel ist es bei der Frage Sicherungsverwahrung, auch bei den Untersuchungen, die geläufig sind, in aller Regel Gewaltdelinquenz, Sexualdelinquenz, Brandstiftungen, in früheren Jahren auch gravierende Vermögensdelikte, Betrug, Heiratsschwindel, aber in den letzten Jahren Gewaltdelinquenz und Sexualdelinquenz.“ Stahl: „Mir geht es um die Untersuchungen, die den Kriterien zugrunde lagen.“ Saß: „Genau das, was ich gesagt habe. Die in der Literatur ausgeführten Informationen beziehen sich im Wesentlichen darauf. Ich habe es ja ausgeführt und brauche es nicht zu wiederholen.“ Stahl: „Sie haben es schon ausgeführt. Gibt es dementsprechend Erfahrungen und wenn ja, welcher Natur, mit politisch motivierter Delinquenz?“ Saß: „Herr Stahl, Sie weisen doch selbst darauf hin, dass ich das schon ausgeführt habe. Insofern wiederholt sich das tatsächlich jetzt.“ Stahl: „Sie haben nicht sehr viel dazu gesagt. Wenn die Beantwortung einer Frage sich daran entscheidet.“ Saß: „Es entscheidet sich nicht daran, es ist nur ein bisschen viel Wiederholen hier. Ich habe es eigentlich sowohl bei der Gutachtenerstattung, als auch bei der Befragung schon ausgeführt.“ Stahl: „Dann suche ich es raus.“ Götzl: „Es ist eine Wiederholungsfrage, dann wäre es unzulässig. Oder Sie müssen an dem anknüpfen.“ Stahl: „Dann suche ich es raus.“ Götzl: „Seite 8!“ Stahl: „Das fängt ja schon gut an heute.“
Stahl sucht kurz etwas, dann sagt er: „Wenn ich es richtig sehe, ist es keine Wiederholungsfrage. Das ärgert mich jetzt auch, wenn Sie [Götzl] mich so wirsch unterbrechen.“ Stahl sagt, es sei deswegen keine Wiederholungsfrage, weil die einzige entsprechende Antwort die Frage der Instrumentarien [phon.] betreffe. Stahl weiter: „Zur Frage, inwiefern das jetzt bei den mit dem Kollegen entwickelten Hangkriterien irgendwo eine Rolle spielt, hat er kein Wort gesagt. Deswegen ist das keine Wiederholung, sondern eine vertiefende Frage. Und mir geht es um die Belastbarkeit dieser Hangkriterien. Das ist, meine ich, keine Wiederholungsfrage. Das ist meine Frage. Sie haben hier ausgeführt, in Ihrem Manuskript, Seite 8: ‚Insbesondere fehlt es bei den genannten Verfahren an geeigneten Normwerten für weibliche Personen aus unserem soziokulturellen Umfeld. Schließlich, und das erscheint hier besonders wichtig, mangelt es an Untersuchungen über die Tauglichkeit standardisierter Untersuchungsinstrumente für den speziellen Problemkreis politisch-ideologisch motivierter Straftaten.‘ Das zum Thema Instrumentarien. Jetzt haben Sie gleichwohl diese Kriterien angewandt auf die Beurteilung [phon.] des Szenarios 2 für Frau Zschäpe. Deswegen frage ich: Was gibt es da an Erfahrungen? Gibt es da politisch motivierte Straftaten, gibt es da gar keine?“ Saß: „Ich habe jetzt den Schluss der Frage so verstanden, ob es Beobachtungen zu politisch-ideologisch motivierten Straftaten gibt. Ja, die gibt es. Es gibt auch Begutachtungen dazu.“
Stahl: „Nein, mich interessiert, ob in dem Erfahrungsschatz, der zur Entwicklung der Hangkriterien geführt hat, Erfahrungen mit politisch motivierten Straftätern eingegangen sind.“ Saß: „Da sind Erfahrungen mit politisch-ideologisch motivierten Straftätern eingegangen, allerdings nicht im speziellen Kontext der Sicherungsverwahrung, sondern im Kontext der Prognosebegutachtungen.“ Stahl: „Was muss ich mir darunter vorstellen?“ Saß: „Dass ich in früheren Jahren Prognosegutachten gemacht habe über politisch-ideologisch motivierte Straftäter. Nicht nur früher, auch jetzt noch, aber Sie spielen ja auf 2004 an.“ Stahl: „Sind da Unterschiede zu machen zwischen sexuell motivierten Straftätern und politisch-ideologisch motivierten Straftätern? Wenn ja, welche und wie gehen Sie damit um?“ Saß: „Natürlich sind da Unterschiede zu machen, insbesondere wenn es um die Beurteilung der Delikte geht. Bei Sexualdelikten kommen ja zusätzliche Aspekte hinzu, die sind weniger in kognitiv-rationalen Hintergründen motiviert. Solche Unterschiede berücksichtigt man.“ Stahl fragt, ob das bedeutet, dass die Hangkriterien für Sexualtäter nicht verwendbar seien. Saß: „Nein.“ Stahl: „Sondern?“ Saß: „Man muss in jedem Einzelfall schauen, ob die Kriterien zutreffen, muss gegebenenfalls modifizieren, muss schauen, ob sie geeignet sind.“
Stahl: „Verstehe ich das richtig? Sagen Sie, die Kriterien, die Sie genannt haben, die sind in jedem Einzelfall zu modifizieren und auf den konkreten Fall zu beziehen?“ Saß: „Völlig richtig. Es sind keine Testverfahren oder Laboruntersuchungen oder Messverfahren. Ich habe wiederholt ausgeführt, Herr Stahl, dass solche Merkmalskataloge oder Kriteriensätze ein Anhaltspunkt sein sollen, um die Fülle des Materials, die in Fällen dieser Art eine Rolle spielt, zu ordnen, zu analysieren und vielleicht zu gewichten. Um nicht zu ertrinken in einer ohne jede spezielle Ordnung nebeneinander gestellte Materialflut. Solche Merkmalskataloge [phon.] sind ein Hilfsmittel zur Analyse der im Einzelfall auftretenden Gesichtspunkte. Natürlich, und in jeder Arbeit wird darauf hingewiesen, müssen Sie sich um eine ganzheitliche Betrachtung des Falles bemühen, müssen andere Gesichtspunkte als die in den Kriterien festgehaltenen berücksichtigen, ein möglichst flüssiges, widerspruchsfreies oder widerspruchsarmes Gesamtbild versuchen zu entwickeln. Es kann in einem Fall sein, dass ein Kriterium überhaupt nicht geeignet ist. Es kann auch sein, dass in einem Fall, etwa bei Affektdelikten, das eine Kriterium so zu gewichten ist, und dann in einem anderen Fall so. Sie müssen es von dem Gesamtbild des Einzelfalles her betrachten. Es ist kein Metermaß, das Sie anlegen und an jeden Untersuchungsgegenstand in gleicher Weise anlegen können.“
Stahl: „Wer legt fest, wann diese Kriterien modifiziert oder verändert werden?“ Saß: „Der jeweilige Sachverständige. Der schaut, ob sie geeignet, hilfreich und informativ sind.“ Stahl: „Wovon hängt das ab?“ Saß: „Von der Gesamtkonstellation des Einzelfalls.“ Stahl: „Das bestimmt aber dann der jeweilige Sachverständige?“ Saß: „Ja, der dann ja auch vom Gericht und den anderen Verfahrensbeteiligten hinsichtlich seiner Argumente befragt wird. Und dann kann man einschätzen, ob es nachvollziehbar ist oder nicht. Denkbar ist auch, einen weiteren Sachverständigen zu holen, der dann einschätzt, ob es nachvollziehbar ist oder nicht. So wie es ja auch geschehen ist. Einen Anspruch auf absolute Gültigkeit erhebt eine solche Einschätzung in einem forensisch-psychiatrischen Gutachten ausdrücklich nicht. Das liegt in der Natur des Untersuchungsgegenstandes, wie ich es ausgeführt habe. Und es liegt auch in der in jedem Fall unterschiedlichen Begrenzung der Information.“ Stahl: „Entschuldigung?“ Saß: „Sie haben, und Ihre Kollegin hat schon darauf hingewiesen, dass es einen Unterschied macht, ob eine Exploration möglich war oder nicht. Das ändert den Pool.“ Stahl: „Ändert das auch etwas an der Qualität Ihrer Aussage?“ Saß: „Was meinen Sie mit Qualität?“ Stahl: „Das halte ich jetzt schon für einen allgemeingültigen Begriff. Die Güte.“ Saß: „Natürlich ist es grundsätzlich besser, wenn sehr viele Informationen zur Verfügung stehen. Aber darüber ist ja schon ausführlich gesprochen worden, über die Explorationsfrage, und ich habe es im Gutachten erörtert. Man muss dann, wenn eine Exploration nicht zur Verfügung steht, sehen, ob andere Informationen zur Verfügung stehen, um die Fragen zu beantworten. Und ich habe ausgeführt, warum mir das hier in diesem Fall möglich erscheint. Um es zu wiederholen: weil viele andere Informationen zur Verfügung stehen. Ich habe die Materialien Ihnen ja dargelegt.“
Stahl: „Von der Basis dieser Analyse, wo die Kriterien nur ein Hilfsmittel seien, sagen Sie, zu Ihrem Resümee kommend, Sie resümieren ja, dass sich ein hohes Überwiegen solcher Aspekte ergibt, die für das Vorliegen eines Hanges sprechen. Können Sie da eine graduelle Einschätzung geben, was ich mir unter ‚hoch‘ vorzustellen habe?“ Saß: „Ich habe, glaube ich, auch schon oft gesagt, dass bei solchen Katalogen und Merkmalskriterien eine Skalierung sich verbietet, weil sie keine Messinstrumente, sondern Hilfsmittel zur Ordnung des Materials sind. Wenn ich von ‚hoch‘ spreche, dann meine ich, dass von neun Kriterien deutlich mehr als die Hälfte, bei Szenario 2, als vorliegend betrachtet wird. [phon.]“ Stahl: „Sie haben die Frage nicht beantwortet.“ Saß: „Doch, habe ich. Prozente kann ich Ihnen nicht angeben.“ Stahl: „Auf Seite 52 des Manuskripts sagen Sie: ‚Resümierend ergibt sich also auch bei Zugrundelegung dieser Kriterien ein hohes Überwiegen solcher Aspekte, die für das Vorliegen eines Hanges sprechen‘.“ Saß: „Ja, habe ich doch gesagt. Es sind weit mehr als die Hälfte der Neun, die ich unter bestimmten Annahmen als vorliegend betrachtet habe.“ Stahl: „Ja, aber was heißt denn das für die Bewertung?“ Saß: „Wenn aus einer bestimmten Zahl von Kriterien ganz viele, weit mehr als die Hälfte, erfüllt sind, dann deutet das in die Richtung, dass es für das Vorliegen eines Hanges spricht. Ich verstehe gar nicht recht, was Sie da für eine Frage haben.“
Stahl sagt, er habe die Frage, für wie wahrscheinlich man das halten könne, dass eine Fortführung ähnlicher Verhaltensweisen angestrebt wird, denn Saß spreche ja von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Saß: „Bei dieser Wahrscheinlichkeitsaussage kommt alles hinein, was in der vorigen Diskussion erörtert worden ist. Ich verweise etwa auf Seite 50 Mitte, aber auch die Tatsache, dass viele Kriterien erfüllt sind [phon.]. Es gibt viele Gesichtspunkte, die dafür sprechen, dass es eine starke Disposition für solche Verhaltensweisen gegeben hat. Immer Szenario 2 unterstellt, natürlich. Dann habe ich ausgeführt, dass es in meinen Augen keine mir tragfähig und überzeugend erscheinenden Hinweise für eine Änderung gegeben hat, so dass dann tatsächlich aus forensisch-psychiatrischer Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, dass es ein hohes Risiko einer Fortsetzung solcher Verhaltensweisen gibt. Auch hier sage ich Ihnen: Skalierungen, Messverfahren existieren nicht. Ist Ihnen ja aber gut geläufig.“ Stahl: „Wenn Sie ein Resümee nach Anwendung dieser Kriterien darbieten, wo Sie von überwiegender und hoher Wahrscheinlichkeit sprechen, dann frage ich einfach nur: Wie überzeugt sind Sie davon?“ Saß: „Also von dem, was ich hier niedergeschrieben habe, bin ich überzeugt. Ich habe mir klargemacht, welche Prämissen eingehen, auch welche Einschränkungen eingehen. Und unter Berücksichtigung all dessen bin ich der Überzeugung, dass diese Formulierungen gerechtfertigt sind.“
Stahl: „Kennen Sie Untersuchungen zur Validität, also Belastbarkeit solcher Prognoseentscheidungen, vielleicht nicht unbedingt aus Deutschland, mir ist eine im Kopf aus den USA, aus Kalifornien?“ Saß: „Über den Begriff Validität haben wir uns schon unterhalten. Es gibt Untersuchungen darüber, wie oft Prognosen zutreffen oder nicht zutreffen.“ Stahl: „Kennen Sie aus Kalifornien Untersuchungen?“ Saß: „Da die Sicherungsverwahrung ja ein deutsches Instrument ist, eine deutsche Maßregel ist, habe ich mich auf die deutschen Untersuchungen bezogen bei meinen Angaben. Auch auf Prognosegutachten trifft zu, was ich über die standardisierten Instrumente gesagt habe: Sie sind auf eine bestimmten Gesetzesraum [phon.], soziokulturelle Bedingungen und Rechtslagen zu beziehen und bei uns eben auf den Paragraphen 66.“ Stahl: „Können wir eine kurze Pause machen?“ Götzl: „Wie viel brauchen Sie?“ Stahl: „Viertelstunde oder so.“ Götzl: „Dann setzen wir fort um 5 vor 11, also 10:55 Uhr.“
Um 10:59 Uhr geht es weiter. Stahl: „Herr Prof. Dr. Saß, Sie hatten eben ausgeführt, dass die u.a. von Ihnen entwickelten Kriterien ein Hilfsmittel zur Analyse seien, und hatten dargelegt, dass sie auch einer Stoffsammlung dienen, um nicht in der ganzen Sammlung zu ertrinken.“ Saß: „Zur Ordnung des Stoffes, ja.“ Stahl: „Zur Ordnung des Stoffes. Was letztlich, wenn die Kriterien nur Hilfsmittel sind, was letztlich gibt dann den Ausschlag für das Resümee oder die Analyse, woran wird die Analyse betrieben?“ Saß: „An dem Material, was man für den gesamten Fall gesammelt hat. Das Material, was ich in diesem Gutachtenfall gesammelt habe, ist im Gutachten niedergelegt. Und mein Resümee, wenn man die Fallanalyse nach den vorgeschlagenen Kriterien macht, findet sich auf Seite 52 Mitte. Und ein Resümee, wenn man es nach den sonstigen Gesichtspunkte für Prognosegutachten durchführt, findet sich auf Seite 50.“ Stahl: „Ich möchte im Moment noch bei den von Ihnen und Ihrem Kollegen aufgestellten Kriterien bleiben. Haben Sie einen Auswertungsmaßstab zumindest für diesen Fall von Frau Zschäpe entwickelt, muss man ja sagen, im Einzelfall, nach dem das Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Kriterien zu irgendeiner Aussage berechtigt?“ Saß: „Sie fragen nach einem Auswertungsmaßstab und ich habe wiederholt ausgeführt, dass in diesem Bereich ein Messen nicht möglich ist.“ Stahl: „Es muss ja irgendetwas geben, was es von totaler Beliebigkeit unterscheidet.“ Saß: „Ich sehe keinen Anlass von totaler Beliebigkeit zu sprechen. Sie werten darauf zu.“ Stahl: „Ja, natürlich mache ich das. Und Sie winden sich um eine Antwort. Gibt es da etwas Valides?“
Götzl wirft ein: „Valides?“ Stahl: „Entschuldigung, Objektives, ein objektives Kriterium, nach dem Sie sagen, die Anwendung berechtigt zum Resümee? Das möchte ich von Ihnen wissen, das gehört nämlich zum wissenschaftlichen Arbeiten.“ Saß: „Ich habe mein Vorgehen, das der wissenschaftlichen Einzelanalyse entspricht, wiederholt dargelegt. Wenn Sie nach einem Maßstab fragen oder einem Kriterium, nach dem man messen kann, dann muss ich sagen: Nein, gibt es nicht. Wäre auch unsinnig, muss ich sagen. Ich habe ja ausgeführt: Die Kriterien sind geeignet oder werden vorgeschlagen, um das Material zu ordnen und daraus die Gesichtspunkte, die sich für die Beantwortung der Beweisfrage eignen, herauszudestillieren. Da ist kein Winden und auch keine Beliebigkeit, jedenfalls aus meiner Sicht. Wäre schön, wenn Sie solche Wertungen zurückhalten, ich werte ja auch nicht.“ Stahl: „Bleibt Ihnen ja unbenommen. Ich möchte von Ihnen schlicht wissen, unter welchen Voraussetzungen Sie aus der Anwendung der Kriterien Resümees ziehen. Es muss doch einen Unterschied machen, ob eines der Kriterien erfüllt ist oder drei oder alle.“ Saß: „Es macht einen Unterschied, ob eines erfüllt ist oder drei oder neun. Da haben Sie das Rationale, was diesen Kriterien zugrunde liegt, zutreffend wiedergegeben. Je mehr davon erfüllt sind, desto mehr spricht das nach meiner Auffassung dafür, dass die Frage nach dem Vorliegen eines Hanges positiv zu beantworten ist. Ich habe aber auch gesagt, dass ein reines Abzählen nicht sinnvoll ist, sondern die Kriterien zu betrachten sind vor dem Hintergrund des Falles, und ich habe auch gesagt, dass bei einem Fall ein Kriterium eher so zu werten ist und beim anderen eher so. Es sind, wie ich nochmal sage, keine Messverfahren, die man wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment in Zahlen skalieren kann. Solche gibt es übrigens nicht für solche Einzelfallbegutachtungen.“
Stahl: „Ich habe ja anfangs meine provokative Frage der wissenschaftlichen Arbeit gestellt. Ein allgemein anerkannter Kernpunkt ist die Allgemeingültigkeit der getroffenen Aussagen und dazu gehört die Reliabilität. Sagt Ihnen der Begriff etwas?“ Saß: „Ist die Frage ernst gemeint?“ Stahl: „Tatsächlich.“ Saß: „Reliabilität ist ein ganz zentraler Begriff bei uns, warum soll der mir nichts sagen?“ Stahl: „Wenn Sie jetzt sehr lange ausführen, dass Ihr Gutachten auf den Einzelfall angepasst werden muss, der Kriterienkatalog muss auf den Einzelfall angepasst werden, dann ist der Begriff der Reliabilität hier durchaus zu hinterfragen.“ Saß: „Wenn Sie eine Einzelfallbegutachtung durch einen Gutachter haben, dann können Sie keine Reliabilitätsprüfung [phon.] machen. Denn da prüfen Sie ja Reliabilität zwischen mehreren Gutachtern.“ Stahl: „Nein, das ist eine Verfahrensfrage.“ Götzl zu Stahl: „Was ist denn jetzt die Frage?“ Stahl zu Saß: „Können Sie mir belegen oder darlegen, ob das von Ihnen gewählte Verfahren anhand des Kriterienkataloges unter gleichen Bedingungen zum identischen Ergebnis führt?“ Saß: „Nein, das kann ich nicht, weil eine solche Studie meines Wissens nach nicht existiert.“ Stahl: „Wie kann man sicherstellen, dass die von Ihnen gefundenen Ergebnisse unabhängig von der Person des Wissenschaftlers zustande gekommen sind?“ Saß: „Die kommen nicht unabhängig von der Person des Wissenschaftlers zustande. Der Wissenschaftler ist gehalten, seine Einschätzung darzulegen, die dann auf Plausibilität geprüft werden mag. Wenn Ihnen etwas unplausibel erscheint, müssten Sie fragen, und ich würde erläutern, warum ich dazu gekommen bin. [phon.]“
Stahl: „Im Moment ist mir nicht plausibel, nach welchen Kriterien Sie wiederum die Kriterien auf den Einzelfall anpassen.“ Saß: „Ich habe den Eindruck, wir kommen in so eine Kriterienkaskade. Die dritte Frage wäre dann, anhand welcher Kriterien ich die Kriterien prüfe, die für die Kriterien entwickelt worden sind.“ Saß sagt, es seien eben keine Messungen, sondern Gesichtspunkte, unter denen Aspekte, die für die Prognosebegutachtung relevant sind, gesammelt und analysiert werden; diese beträfen die Persönlichkeit, das Delinquenzbild [phon.] usw. Stahl: „Also die innere Logik kann ich nicht nachvollziehen. Wie gehen Sie vor? Das ist doch alles kryptisch umschrieben, was Sie persönlich irgendwie festlegen. Das ist doch nicht nachvollziehbar, für niemanden.“ Saß: „Kryptisch? Es würde dem Verständigungsversuch, den wir offenbar unternehmen, helfen, wenn Sie solche Wertungen, die natürlich auf Widerspruch bei mir stoßen, weglassen.“ Stahl: „Auch wenn wir jetzt fast in einer fortgeschrittenen Psychoanalyse meiner Person sind …“ Saß wirft ein: „Überhaupt nicht, absolut falsch.“ Götzl zu Stahl: „Wie gehen Sie vor? Die Frage ist mir zu allgemein. Wie der Sachverständige vorging, ist hier aufgeführt!“ Stahl: „Das hat er nicht dargelegt. Er hat gesagt, dass im Einzelfall der Kriterienkatalog dann jeweils angepasst werden muss, und ich hätte gern gewusst wie das gemacht wird. Was macht das zu einer allgemeingültigen wissenschaftlichen Arbeitsweise? Oder ist das ein Saß’sches Konzept, das niemand versteht und nachvollziehen kann?“
Saß: „Ob es ein Saß’sches Konzept ist, das niemand nachvollziehen kann, will ich nicht beurteilen. Ich will nur sagen, dass es Eingang in die Literatur und [phon.] in die Handbücher gefunden hat und also wohl nicht so idiosynkratisch und eklektisch ist, wie Sie es gerade nahezulegen versuchen, Herr Stahl. Was mein Vorgehen angeht, habe ich versucht, so viele Informationen wie möglich zu gewinnen, zu ordnen und darzustellen, aufzuschreiben und dann daraus meine gutachterliche Beurteilung des Falles zu entwickeln. Das habe ich ja in der vorbereitenden schriftlichen Stellungnahme vom 19.10. letzten Jahres und im Gutachten entwickelt und dargelegt. Und auch zu der Methodik, die ich angewandt habe. Das habe ich ausführlich geschildert.“ Stahl: „Ich bitte Sie, keine Bewertung darin zu sehen, wenn ich konstatiere, dass Sie meine Frage immer noch nicht beantwortet haben. Wie passen Sie dann die neun Hangkriterien auf einen Einzelfall an? Wie? Was macht es nachvollziehbar? Erklären Sie es mir doch einfach!“ Saß: „Ich schaue, ob sich hinsichtlich der dort genannten Kriterien oder Gesichtspunkte Informationen über den zu begutachtenden Einzelfall finden. Genauso, wie ich es hier jetzt mehrfach vorgetragen habe.“ [phon.] Stahl: „Und wenn Sie hypothetisch zu dem Ergebnis kommen, dass beispielsweise das Kriterium einer Schuldzuweisung nach außen und zu Umweltbedingungen, da lassen sich weder negative noch positive Anhaltspunkte finden, wie gehen Sie dann vor?“ Saß: „Dann würde ich das ausführen. So wie ich es bei Kriterium 8 getan habe: Ist aus dem vorhandenen Material nicht zu belegen.“ Stahl: „Und das spielt dann keine Rolle mehr oder wie?“ Saß: „Was heißt ‚keine Rolle mehr spielen‘? Ist ein geeignetes Kriterium, für das aber die Informationslage nicht ausreicht.“
Stahl: „Bei wie vielen Kriterien müssen denn nicht ausreichend Informationen vorliegen?“[phon.] Saß: „Es existiert kein Algorithmus, es ist nicht skalierbar. Das ist x-mal beantwortet worden. Sie fragen immer wieder in Richtung eines naturwissenschaftlichen Testverfahrens …“ Stahl: „Sie wissen doch gar nicht in welche Richtung ich fragen will.“ Götzl: „Ausreden lassen!“ Stahl: „Er hat mich auch nicht ausreden lassen.“ Saß: „Angenommen, es wäre aus der Kriteriensumme von neun nur eines zu beurteilen. Da würde man nicht die Begutachtung einstellen, sondern sagen: Offenbar helfen in diesem Fall die Kriterien nicht weiter, schauen wir mal, ob es andere Gesichtspunkte gibt, anhand derer man die Gutachtensfrage beantworten kann [phon.]. Dann muss man sehen, ob es nach den geltenden Regeln der Begutachtung genügend Materialien gibt. Und die gibt es, die habe ich vorgetragen und resümiert sind sie im mittleren Absatz auf Seite 50.“ Stahl: „Ich habe das Gefühl, Sie wollen immer das Thema meiner Frage verlassen. Sie haben ja gesagt, dass diese Kriterien geeignet sind, die Hangfrage zu beantworten. Und im Moment bin ich bei der Frage, nachzuvollziehen, wie Sie sie angewendet haben. Und ich habe nicht nach einem Algorithmus gefragt, sondern möchte einfach nur wissen, anhand welcher Kriterien Sie sagen, ich kann mit dem Kriterienkatalog 1 bis 9 arbeiten oder nicht?“ Saß: „Sie fragen nach den Kriterien zur Beurteilung der Kriterien. Wir haben das schon erörtert. Ich wiederhole es dann nochmal.“ Stahl: „Sie haben gesagt, Kriterienkaskade, aber eine Antwort haben Sie mir noch nicht drauf gegeben.“ Saß: „Die Verwertbarkeit eines Kriteriums für diese Gutachten richtet sich danach, ob Informationen zur Beantwortung dieses Kriteriums zu gewinnen sind. Auch darüber habe ich wirklich schon oft gesprochen.“
Stahl: „Ab welcher Anzahl von Kriterien sind diese Kriterien denn dazu geeignet, eine Antwort zu geben in der Hangfrage? Sie hatten in der vorangegangenen Befragung gesagt: 2 zu 7, 5 zu 4, so ein Verhältnis.“ Saß: „Wenn die Mehrzahl der Kriterien sich beurteilen lässt, dann würde es Sinn machen für mich damit zu arbeiten. Wenn sich nur ein oder zwei Kriterien aufgrund der verfügbaren Informationen einschätzen lassen, dann würde ich sagen, dann ist das nicht so sinnvoll, damit zu arbeiten.“ Stahl: „Ein oder zwei, das scheint sich aufzudrängen. Ab wann, gibt es da eine Richtgröße, sind die Kriterien in wissenschaftlicher Hinsicht aussagekräftig?“ Saß: „Immer unter der Prämisse, dass es kein skalierendes Instrument ist, würde ich sagen: Wenn mindestens für die Hälfte Informationen vorliegen, halte ich es für sinnvoll, das miteinzubeziehen.“ Stahl: „Und warum ab mindestens der Hälfte?“ Saß: „Fast wäre ich geneigt zu fragen: Warum nicht? Aber ich glaube, ich darf keine Fragen stellen.“ Stahl: „Würde ich aber als Antwort gelten lassen. Eine Sekunde bitte!“ [Stahl, Sturm, Heer beraten sich.] Saß: „Also, Sie hatten mich unterbrochen, nachdem ich gesagt hatte: Es gibt keine festen Regeln dafür, ab welcher Anzahl von Kriterien es sinnvoll sein könnte, das vorhandene Material mit diesen Kriterien zu analysieren. Aber ich denke, es sollte die Hälfte oder mehr vorhanden sein, um mit diesen Kriterien zu arbeiten.“ Stahl: „Vorhin erwähnten Sie, dass auf den Einzelfall bezogen dieser Katalog auch modifiziert und angepasst werden muss durch den Gutachter. Was heißt modifiziert und angepasst?“ Saß: „Man muss z. B. schauen, ob hinsichtlich des genannten Gesichtspunktes Informationen vorliegen oder sogar überzeugende Informationen oder widersprüchliche Informationen.“ Stahl: „Das würde ich nicht ‚anpassen‘ oder ‚modifizieren‘ nennen.“ Saß: „Die Kriterien werden nicht verändert, aber wenn ich versuche, nach einem dieser Kriterien die Materialien zu bewerten, muss ich mich natürlich danach richten, welche Informationen und welche Informationen welcher Güte zu einem Gesichtspunkt vorliegen. Und dann komme ich dazu: Hinsichtlich eines Kriteriums sind die Informationen widersprüchlich, hinsichtlich eines anderen reichen sie nicht aus und hinsichtlich eines dritten wird recht überzeugend, was mit dem Kriterium gemeint ist, durch die vorhandene Informationslage getragen.“
Stahl: „Dann hatten wir das Kriterium 1 besprochen beim letzten Mal. Ich würde mich gern dem zweiten Kriterium widmen: ‚eine Schuldzuweisung nach außen, etwa zu Opfern, Außenstehenden und Umweltbedingungen‘, das wären Bedingungen, um die Externalisierungstendenz zu bejahen. Worauf bezieht sich die ‚Schuldzuweisung nach außen‘, bezieht sich das auf Delikte oder die Persönlichkeit [phon.]?“ Saß: „Auf Delikte, wie auch sonst hinsichtlich bestimmter Aspekte der Lebensführung, dass man da eine Tendenz erkennt, auf eine Außenverursachung hinzuweisen. Ich habe die Beispiele ja wiederholt genannt und angesprochen.“ Stahl: „Ja, das war diese vielfach angesprochene Externalisierungstendenz, die Sie bei Frau Zschäpe festgestellt haben wollen. Die beruht ja nun auf verschiedensten Beobachtungen von Ihnen. Aus welchen Gründen sind Sie der Meinung, kann man das auch auf die Delinquenz letztlich übertragen?“ Saß: „Naja, wenn ich es richtig sehe, wird hinsichtlich eines Teils der hier angeklagten Delikte betont, dass es nicht eigenes, sondern Verursachung durch andere ist.“ Stahl lehnt sich zurück. Saß: „Ich bin fertig.“ Stahl bleibt zunächst in seiner zurückgelehnten Position, dann beugt er sich zum Mikrofon und sagt: „Dann müsste ich nochmal nachfragen, wie das Kriterium zu verstehen ist, ‚Schuldzuweisung nach außen, zu Opfern und Umweltbedingungen‘, inwieweit erkennen Sie das im Fall von Frau Zschäpe?“ Saß: „Sie haben doch selber gesagt, dass die Externalisierungstendenz von mir mit zahlreichen Beispielen verbunden worden ist, und auf die berufe ich mich.“
Stahl: „Da muss ich nachfragen: Diese wenigen Tendenzen, die Sie gemeint haben bei ihr zu erkennen, das führt dazu, dass man das auf die Delinquenz insgesamt überträgt, oder wie?“ Saß: „Nee, so nicht.“ Stahl: „Erklären Sie es mir! Ich verstehe es halt nicht.“ Saß: „Die Externalisierungstendenz, dafür sind zahlreiche Beispiele angeführt worden. Was die Delinquenz angeht, so hat Frau Zschäpe gesagt, dass bei bestimmten Delikten, nämlich Tötungsdelikten und den Sprengstoffgeschichten, sie diese nicht mitgetragen oder gewollt hat, sondern sie die Verursachung da ganz bei Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gesehen hat. Wenn man von Szenario 2 ausgeht, dann wäre das eine Verschiebung nach außen. Auch was die Brandstiftung angeht, ist gesagt worden, dass das auf den Wunsch der Verstorbenen zurückgeht. Auch da wird die Verursachung außen gesehen und die eigene Autorschaft, wenn es sie gegeben hat, negiert. ‚Wenn es sie gegeben hat‘ ist die Vorsichtsregel wegen des Szenarios, weil ich ja keine Sachverhaltsbeurteilung treffe.“ Stahl: „Sie sagen ja, dass Sie auch Beobachtungen in der Hauptverhandlung in die Anwendung der Kriterien aufgenommen haben. Haben Sie da auch solche Externalisierungstendenzen beobachtet?“ Saß: „Von dem, was ich beobachtet habe, nicht. Man kann überlegen, ob in den schriftlichen Erklärungen, die Frau Zschäpe über die Verteidiger eingeführt hat, ob dort so etwas eine Rolle spielt. Und dort ist durchaus eine gewisse Tendenz, die wesentliche Verursachung oder die der schwersten Vorkommnisse bei anderen zu sehen und nicht bei sich selbst.“
Stahl: „Das Kriterium 3 möchte ich mal überspringen. Bei der ‚aktiven Gestaltung der Tatumstände bzw. der Taten‘ führen Sie aus: ‚In Szenario 2 wäre dies ebenfalls zu bejahen.‘ Würden Sie das konkreter ausführen?“ Saß: „In Szenario 2, wenn man von der Anklage ausgeht, wäre ja von einem im Großen und Ganzen einverständigen und informierten und arbeitsteiligen – bestimmte Personen mit bestimmten Funktionen – Vorgehen zu sprechen. Und so ist das gemeint.“ Stahl: „Also arbeitsteilig?“ Saß: „Nein, ich habe ja drei Adjektive genannt.“ Stahl: „Sie sprechen ja von ‚aktiver Gestaltung‘. Wieso ist das jetzt gestaltend?“ Bundesanwalt Diemer: „Muss ich beanstanden. Seite 49 unten, da steht eindeutig, im letzten Absatz, was Prof. Saß gemeint hat. 49 unten. Einfach mal durchlesen! Die Frage ist beantwortet.“ Stahl: „Die Beanstandung muss ich zurückweisen, alldieweil auf Seite 49 steht: ‚aktiv in Planungen und Vorbereitungen einbezogen gewesen wäre‘. Und wenn ich danach frage, was ‚aktive Gestaltung der Tatumstände‘ heißt, was er da zugrunde legt, dann ist das keine Wiederholungsfrage.“ Saß: „‚Aktive Gestaltung‘ ist eine Formulierung, die ich nicht für Frau Zschäpes Fall entwickelt habe, sondern die wortwörtlich bei den Kriterien ist. Und das wäre ein Beispiel dafür, dass die Kriterien und ihre Anwendung auf den Einzelfall abzustimmen sind. Und soweit ich das aus der Hauptverhandlung weiß, gibt es keine konkreten Kenntnisse über Tatplanungen. Deswegen würde ich das nicht unterstellen. Ich mache mir die Anklage nicht zu eigen, aber ein Informiertsein, ein einverständiges und arbeitsteiliges Vorgehen, wie in der Anklageschrift, wird von mir im Großen und Ganzen im Szenario 2 unterstellt. Wenn ich das nicht soll, dann kann ich eigentlich gar nichts sagen, wenn ich nicht von bestimmten Hypothesen ausgehen soll. Und ich habe ja beide Hypothesen geprüft: Die erste, dass das alles nicht der Fall war im Szenario 1. Und die zweite, im Szenario 2, dass es im Großen und Ganzen so gewesen ist – ebenfalls mit bestimmten Konsequenzen.“
Stahl: „Kriterium 5: ‚eine Spezialisierung auf bestimmte Delinquenztypen‘. Welche Auswirkungen hat eine ‚Spezialisierung‘ auf die Frage des Vorliegens eines Hanges? Und ab wann kann man von einer Spezialisierung sprechen?“ Saß sagt, er könne sich an eine ganze Reihe gewichtiger Fallgestaltungen bei der Frage der Sicherungsverwahrung erinnern, wo gerade die Frage des immer wieder ähnlichen Vorgehens – etwa bei Banküberfällen, wo Leute nach dem gleichen Muster als Geisel genommen wurden – relevant gewesen sei. Saß: „Da sind Fertigkeiten erworben worden, Gewohnheiten [phon.] erworben worden, ein modus operandi erworben worden und das ist sicherlich zu berücksichtigen. Jemand der es gewöhnt ist, seine Delikte in bestimmter Weise zu begehen, da liegt die Vermutung näher, als wenn das ein Einzeldelikt gewesen ist. Sie wollten noch eine Frage stellen?“ Stahl: „Ab wann man von einer Spezialisierung ausgehen kann?“ Saß: „Da verlangen Sie mehr von mir, als ich Ihnen geben kann. Wollen Sie wissen, ob es drei oder sieben oder 14 sind? Wenn es ein erkennbares, mehrfach wiederholtes Muster ist. Also wenn es etwa zwölf oder 17 oder auch sechs Banküberfälle nach einem bestimmten Muster sind, dann würde ich so argumentieren. Was die Tötungshandlungen angeht, würde ich ähnlich formulieren.“ Stahl: „Es geht mir um das Allgemeine.“ Saß: „Wenn ein Delinquenztyp wiederholt nach einem bestimmten Muster angewandt wurde. Aber nur ein Schelm gibt mehr als er hat. [phon.]“
Stahl: „Nochmal zu Ihrem Resümee auf Blatt 52: Sie führen dann aus, Mitte des zweiten Absatzes: ‚Deshalb müsste meines Erachtens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass bei entsprechenden Möglichkeiten eine Fortführung ähnlicher Verhaltensweisen angestrebt wird.‘ Welche konkreten Möglichkeiten?“ Saß: „Das habe ich an anderer Stelle angedeutet. Z. B. die Frage, ob es wieder ein Szenario mit rechtsradikal ausgerichtetem Hintergrund für sogenannte Gesinnungstaten gibt. Eine Umgebung, aus der heraus Straftaten dieser Art begangen werden können.“ Stahl: „Was meinen Sie damit für eine Umgebung? Wie konkret meinen Sie das?“ Saß: „So wie ich es gesagt habe. Ein Zusammenwirken oder sich in einer Gruppe zu befinden, in der rechtsradikales Gedankengut eine Rolle spielt und eine Bereitschaft zu Straftaten vorhanden ist oder entwickelt wird. Also im Grunde eine Extrapolation dessen, was in der Vergangenheit war.“ Stahl: „Da sind drei Personen Anfang 20 auf der Flucht, im Untergrund, wie man das nennen mag. Kann man das irgendwie fortführen in der Person von Frau Zschäpe? Gibt es diese Möglichkeiten erneut?“ Saß: „Da möchte ich auf den letzten Absatz auf Seite 52 verweisen, wo ich dazu Stellung genommen habe.“ Stahl: „Habe ich gesehen, mir geht es um Ihre Formulierung ‚bei entsprechenden Möglichkeiten‘. Frau Zschäpe wird nie wieder Anfang 20 sein und sie wird auch nie wieder mit anderen Menschen Anfang 20 im Untergrund zusammenleben.“
Saß: „Das Alter meine ich nicht, sondern, so wie ich es eben ausgeführt habe, ein Zusammensein oder ein Gruppenzusammenhang, in dem rechtsradikales Gedankengut und vielleicht auch die Bereitschaft zu Aktionen rechtsradikaler Art einschließlich Delinquenz eine Rolle spielen. Ich denke, dass das doch verständlich ist, was ich sage. Natürlich kann ich keine ganz konkrete Situation konstruieren. Aber das es rechtsradikale Kreise gibt, in denen es auch zu Aktionen kommt, das ist ja nicht fernliegend. Ich weiß nicht, was Sie da von mir möchten. Ich dachte, das reicht, wenn ich das in dieser allgemeinen Form skizziere. Die konkrete Ausgestaltung käme dann sowieso in einer Situation, die wir jetzt nicht haben.“ Stahl: „Mir ging es schon darum, dass Sie die entsprechenden Möglichkeiten, die Sie meinten, dass Sie das schildern.“ Saß: „Gut, dann habe ich es jetzt versucht.“ Stahl: „Herr Vorsitzender, also ich würde gerne mich mit meinen Kollegen abstimmen und bräuchte da eine Pause dazu.“ Götzl: „Dann legen wir die Mittagspause ein. Dann wird die Hauptverhandlung bis 12:45 Uhr unterbrochen.“
Um 12:49 Uhr geht es weiter. Götzl: „Dann setzen wir fort.“ Stahl: „Ja, Herr Prof. Dr. Saß, ich möchte nochmal zurückkommen auf die Grundlagen der Erarbeitung dieser Kriterien, und zwar auf die Frage, ob die ausgewählten Fälle ungeachtet der Literatur, die ausgewertet worden ist, wie Sie sagten, ob die ausgewählten Fälle von Ihnen und Ihrem Kollegen auch hinsichtlich Repräsentativitätsgesichtspunkten Aussagen zulassen?“ Saß: „Dazu kann ich sagen, dass erstens Frauen unter den Gutachtensfällen eine verschwindend kleine Rolle spielen und sogenannte politische Gesinnungstaten auch etwas sehr Seltenes sind.“ Stahl: „Das war jetzt die Antwort?“ Saß: „Ja.“ Stahl: „Dann sind die Fälle nicht repräsentativ oder wie darf ich die Antwort verstehen?“ Saß: „Wenn Sie sie für eine standardisiertes Untersuchungsinstrument heranziehen wollten, dann wären sie nicht repräsentativ in dem Sinne, wie ich es im Methodenteil erläutere. Es geht aber um Gesichtspunkte, die für die Fallanalyse von Bedeutung sind, und diese neun Kriterien, die sind, glaube ich, auch für diesen Fall anwendbar. Es ist immer die Frage, ob die Gesichtspunkte sich eignen. Ich habe kein standardisiertes Untersuchungsinstrument entwickelt, der Herr Habermeyer auch nicht, es gibt keins.“ [phon.]
Stahl: „Wozu diente dann die Auswertung der von Habermeyer und Ihnen herangezogenen Fälle?“ Saß: „Um nach wichtigen Gesichtspunkten zu suchen, die sich für die Analyse von Fällen, wo die Frage Sicherungsverwahrung gestellt ist, von Bedeutung sind. Nach unserem Ermessen waren sie von Bedeutung, auch im Zusammenspiel mit der Sichtung von Literatur, auch unter Berücksichtigung dessen, was in standardisierten Instrumenten als wichtig angesehen wird. Gesichtspunkte eines standardisierten Untersuchungsinstruments sind ja auch dann hilfreich, wenn das Verfahren selbst keine Anwendung findet. Es ist ja nicht so, dass etwas neu erfunden wurde oder neu entdeckt wie ein neuer Kontinent, sondern der vorhandene Wissensfundus wurde geordnet und mit bestimmten Merkmalen, die sich zur Analyse eignen, strukturiert. Das ist eigentlich die Funktion so eines Kriterien- oder Merkmalskataloges.“ Stahl: „Sie hatten vorhin erwähnt, dass die Kriterien im Einzelfall anzupassen oder zu modifizieren seien, der Gutachter schauen muss, ob sie geeignet sind. Auf die Frage, was unter der Eignung zu verstehen ist, hatten Sie gesagt: hilfreich, geeignet und informativ. Wofür?“ Saß: „Für die gestellte Frage. Hang ist ein juristisches Konstrukt, aber der Psychiater beschreibt die Voraussetzungen, etwa die Persönlichkeit oder die fragliche Einbettung der Delinquenz in die Entwicklung der betreffenden Person, die sozialen Beziehungen.“ Stahl: „Dann gibt es aber auch Fallkonstellationen, wo die Kriterien nicht geeignet sind oder einzelne dieser neun?“ Saß: „Einzelne, würde ich sagen. Ein Punkt ist sicherlich: Sind Informationen da, um es einzuschätzen?“
Stahl: „Dann geht es mir noch um eine andere Frage. Ich werde später irgendwann einmal wahrscheinlich im Plädoyer etwas dazu sagen müssen. Bitte sagen Sie mir, ob ich das richtig zusammengefasst [phon.] habe.“ Saß wirft ein: „Am liebsten würde ich dann kommen, Herr Stahl.“ Stahl: „Ich habe Ihr Gutachten so verstanden, dass bei Zugrundelegung des Szenarios 2 – wesentlich die Darstellung der Anklage – Sie davon ausgehen, unterstellt das trifft zu, dass bei Frau Zschäpe die Hangkriterien erfüllt sind.“ Saß: „Überwiegend.“ Stahl: „Und das liegt daran, dass Sie über die Dauer des Verfahrens bei Frau Zschäpe nichts feststellen konnten, was Ihnen hinreichend belastbar oder authentisch erschien, dass sie sich abgewendet hat.“ Saß: „Das würde ich nicht unterschreiben.“ Stahl: „Sondern?“ Saß: „Die Feststellung des Hanges, die ja Gerichtsaufgabe ist und sich auf die Beschreibungen der Persönlichkeit usw. durch den Sachverständigen stützt, ist eine vorwiegend retrospektive Sache. Sie stützt sich auf das, was in der Vergangenheit abgelaufen ist. Die Feststellung der Gefährlichkeit ist eine prospektive Angelegenheit. Und die Beobachtung in der Hauptverhandlung, die ja verschiedene Zielrichtungen hatte und die ich für die Beurteilung verschiedener Fragen herangezogen habe, hat in meinen Augen keine belastbaren, konkreten Hinweise für eine grundlegende Änderung ergeben, so dass der retrospektive Anteil nicht umgeworfen wird durch die Beobachtungen in der Hauptverhandlung. Umgeworfen ist etwas lax formuliert. Nicht relativiert. Aber wichtig erscheint mir schon die Differenzierung in diese beiden Aspekte.“
Stahl: „Und im Hinblick auf die künftige prognostische Darlegung einer Gefährlichkeit? Habe ich denn das jetzt richtig verstanden: Wenn ich unterstelle, der Hang ist gegeben und ich habe nichts festgestellt, was dafür spricht, dass sie sich abgewendet hat, bleibt es dabei?“ Saß: „Das ist etwas verkürzt und zugespitzt, aber wenn man es richtig und gutwillig versteht, dann ist das so.“ Stahl atmet betont lange aus und sagt dann: „Sie sagten ja, dass Sie in dieser Zeit in der Hauptverhandlung nichts Belastbares beobachten konnten bei Frau Zschäpe, das den Schluss zuließe, dass sie sich von der inneren Haltung [phon.] abgewandt hätte. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie im Prinzip gar nichts in Bezug auf Haltungsfragen beobachtet.“ Saß: „Da haben Sie mich nicht richtig verstanden. Ich habe gesagt, dass ich nichts hinsichtlich der Gedankeninhalte habe feststellen können, außer dem, was in den schriftlichen Geschichten gekommen ist. Aber dass etwa das Verhalten in der Verteidigerfrage oder das Verhalten bei emotional potentiell berührenden Zeugenaussagen bei meiner Beurteilung eine Rolle gespielt hat, das habe ich ja ausgeführt wiederholt, auch detailliert und an Beispielen.“ Stahl: „Das hatten Sie gesagt, das stimmt. Wobei diese Ausführungen, dass Sie nämlich aufrichtiges Bedauern und ähnliches vermisst hätten oder es vermissen lassen [phon.], dass…“ Saß wirft ein: „So war mein wording nicht, aber von der Richtung stimmt es.“ Stahl weiter: „Das ist doch wohl der Ansatz, dass Sie sagen, es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass sie eine [phon.] Haltung geändert hätte.“ Saß: „Tut mir leid, das habe ich mindestens fünfmal wiederholt. Wenn Sie mich das immer wieder fragen, dann entstehen nur sprachliche Nuancierungen, aus denen Sie möglicherweise etwas ziehen wollen. Ich habe etwa nicht gesagt: ‚vermissen lassen‘. Ich habe versucht, den Sachverhalt mehrfach schriftlich und mündlich mit größter Präzision zu formulieren. Ständige Wiederholung stört diese Präzision.“
Götzl weist darauf hin, dass die Frage auch letztlich suggestiv sei. Stahl entgegnet, er wolle es nur verstehen, der SV bleibe bei einem derart schwierigen Thema aber an den Formulierungen, die er im Manuskript verwendet habe, und wolle es nicht mit Leben füllen. Stahl sagt, er müsse sich kurz mit seinen Kolleg_innen beraten. Während Stahl sich mit Sturm und Heer berät, redet Zschäpe mit ihrem Wahlverteidiger RA Borchert. Stahl: „Können wir für 5 Minuten unterbrechen?“ Götzl: „Dann unterbrechen wir einfach bis Viertel nach.“
In der Pause gibt es intensive Gespräche zwischen Sturm, Stahl, Heer und RA Borchert, RA Grasel hört zu. Danach zeigt Zschäpe Borchert etwas an einem Schriftstück, liest wohl auch etwas vor. Dann redet Zschäpe wieder intensiv auf Borchert ein, lässt auch mal die Hand auf den Tisch fallen.
Um 13:21 Uhr geht es weiter. Stahl: „Ich habe nur noch eine Frage, Herr Prof. Dr. Saß. Und zwar auf Seite 50 in der Mitte schildern Sie ja, dass unter Zugrundelegung des zweiten Szenarios aus forensisch-psychiatrischer und kriminalprognostischer Sicht wichtige Anhaltspunkte dafür gegeben seien, ‚dass es sich bei der Angeklagten tatsächlich um einen tief eingeschliffenen inneren Zustand mit entsprechenden Verhaltensdispositionen gehandelt hat‘. Dann führen Sie auf, was das im Einzelnen ist und ganz am Ende des Absatzes beschreiben Sie dann u.a.: ‚Vielzahl schwerer Delikte, die massiv gegen die Normen menschlichen Zusammenlebens verstießen und insbesondere sich über die natürliche Tötungshemmung hinwegsetzten, auch wenn eine evtl. Beteiligung der Angeklagten nur in mittelbarer Weise geschehen sei‘.“ Was genau setzen Sie jetzt bei dieser Darstellung voraus oder wovon gehen Sie aus?“ Saß: „Ja, ich denke, dass das da steht.“ Stahl: „Dass sich Frau Zschäpe über die ihr angeborene, natürlich Tötungshemmung hinweggesetzt hat, auch wenn nur mittelbar?“ Saß: „Ja, ‚hat‘ habe ich ja sorgfältig vermieden. Ich habe ja immer im Konjunktiv formuliert, die Bedingungen für meine Schlussfolgerungen. [phon.] Ich habe nicht konstatiert, dass es etwas so sei.“ Stahl: „Aber was meinen Sie jetzt damit?“ Saß: „Womit? Mit dem ganzen Satz? Sie haben einen komplexen Satz vorgelesen.“ Stahl: „Ist ein sehr, sehr langer Satz, deswegen nur das, was mich interessiert: Es beginnt damit, was Anhaltspunkte wären, dann kommt eine Aufzählung und als weiterer Anhaltspunkt wird dann hier ausgeführt: ‚Vielzahl schwerer Delikte, die massiv gegen die Normen menschlichen Zusammenlebens verstießen und insbesondere sich über die natürliche Tötungshemmung hinwegsetzten, auch wenn eine evtl. Beteiligung der Angeklagten nur in mittelbarer Weise geschehen sei‘. Das ist ja aus psychiatrischer Sicht schon ein wichtiger Aspekt, wenn sich ein Mensch über diese Tötungshemmung hinwegsetzen würde, was Sie da annehmen.“ Saß: „Dem Satz liegen mehrere Aussagen zugrunde: 1. Es gibt natürliche Tötungshemmung. 2. Es kostet viel Energie oder es ist ein sehr einschneidendes Ereignis, sich darüber hinwegzusetzen. 3. Dieses Einschneidende ist in meinen Augen noch drastischer, wenn es im unmittelbaren Gegenüber geschieht und nicht nur mittelbar aus der Ferne. Aber ein Sich-hinwegsetzen über die Tötungshemmung wäre es, wenn man von Szenario 2 und einem Mitwissen ausgeht, auch. Nur wäre es noch gravierender bei den Personen, die unmittelbar die Tat begangen haben. Da ist also eine kleine Abstufung drin hinsichtlich mittelbarer und unmittelbarer Betätigung. Ich dachte, das sei verständlich, so wie ich es ausgedrückt habe.“ Stahl: „Ich bin bis dato immer davon ausgegangen, dass die angeborene natürliche Tötungshemmung eben einen Menschen hindert, in der unmittelbaren konfrontativen Auseinandersetzung den letzten Stich, Schlag, Schuss auszuführen.“ Saß: „Hindern sollte, muss man sagen. Und ich habe es eben sozusagen abgestuft, dass es ein drastischerer Verstoß gegen die Tötungshemmung ist, wenn man unmittelbar die Handlung vollzieht, aber nicht, wenn es mittelbarer ist [phon.].“
RAin Sturm setzt die Befragung fort. Sturm: „Ein paar Nachfragen: Sie hatten vorhin im Hinblick auf die von Habermeyer und Ihnen untersuchten Fälle darauf hingewiesen, dass geringe Anteile von weiblichen Probanden und von politisch motivierten Handlungen dabei gewesen seien. Jetzt ausschließlich bezogen auf Prognosegutachten, wie viele weibliche Personen haben Sie untersucht ungefähr?“ Saß: „Ich würde mal sagen unter zehn, weil es extrem selten ist. Etwa ein Zehntel bei der Straffälligkeit insgesamt und bei schweren Gewalt- und Sexualdelikten noch viel weniger.“ Sturm: „Und wie viele – losgelöst vom Geschlecht zunächst – Probanden, bei denen politisch motivierte Straftaten im Raum standen, haben Sie untersucht?“ Saß: „Größenordnung acht.“ Sturm: „Und eine Schnittmenge zwischen Frauen und denen?“ Saß: „Ja, ich meine, vielleicht drei Frauen. Das waren damals Prognosegutachten im Rahmen der RAF-Zeit.“ Sturm: „Können Sie das zeitlich ungefähr eingrenzen, wann Sie diese erstellt haben?“ Saß: „Anfang der 90er. Und weitere mit politisch motiviertem Zusammenhang in der jüngsten Zeit, aber mit Männern, im Zusammenhang mit den ISIS-usw. -Geschehnissen, wobei das politisch-religiös ist.“
Sturm: „Macht das einen Unterschied für die Begutachtung, ob Sie die Begutachtung quasi während der Hauptverhandlung, also anlässlich eines Prozesses, bei dem Taten erst nachgewiesen werden sollen oder nachzuweisen sind, vornehmen oder bereits im Rahmen des Strafvollzugs?“ Saß: „Ja, natürlich, es gibt viele Unterschiede.“ Sturm: „Können Sie die darstellen?“ Saß sagt, die Datenlage, die Informationslage sei natürlich eine ganz andere, es sei eine ganz andere Beurteilungssituation. Sturm: „Spielt die Frage des Verteidigungsverhaltens da auch eine Rolle?“ Saß: „Also, Verteidigungsverhalten meinen Sie jetzt, bezogen auf den Strafprozess?“ Sturm: „Genau.“ Saß: „Bei der Prognose später höchstens historisch. [phon.] Ja, es spielt auch eine Rolle, aber keine entscheidende.“ Sturm: „Gibt es dazu Untersuchungen?“ Saß: „Wozu?“ Sturm: „Zu dem Verteidigungsverhalten, inwieweit das für die Begutachtung eine Rolle spielt oder nicht.“ Saß: „Eigentlich nicht, aber es gibt Untersuchungen gerade in letzter Zeit, auch in FPPK [Zeitschrift „Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie“] veröffentlicht, ich glaube von Endres [phon.], weiß es aber nicht ganz genau, dass der Gesichtspunkt Tatleugnung Ja oder Nein, dass untersucht wird, wie da der Einfluss ist. Da gibt es die Auffassung, dass ein offenes [phon.] Zur-Tat-stehen eine wichtige Voraussetzung ist, um therapeutisch an dem Thema zu arbeiten [phon.]. Ob sogenannte Tatleugner eine schlechtere Prognose haben, das ist empirisch nicht entschieden.“
Sturm: „Was ist die Grundlage Ihrer Beurteilung, dass es eine geringere Rolle spielt?“ Saß: „Es gibt viele Informationsquellen, auch in diesem Fall, und eine Quelle ist das Verteidigungsverhalten, wie es in den schriftlichen Einlassungen ausgeführt ist, und das Verhalten gegenüber den beiden Verteidigergruppen.“ Sturm: „Ich habe Sie vorher so verstanden auf Befragung des Kollegen, dass Sie keine Anhaltspunkte für ein Aufgeben der zugrunde liegenden Haltung festgestellt haben, Szenario 2 unterstellt. Insofern frage ich Sie, ob insoweit nicht das Verteidigerverhalten [phon.] eine ganz entscheidende Rolle für die Beobachtungen oder nicht getätigten Beobachtungen spielt.“ Saß: „Es ist so, wie ich es ausgedrückt habe, dass Hinweise für Umkehr, Erschütterung – belastbare, konkrete – nicht erkennbar waren für mich.“ Sturm fragt, inwieweit – unterstellt, dass es sich bei dem Verhalten um Verteidigungsverhalten und nicht um nonverbale Kommunikation mit bspw. Saß handelt – Saß dazu komme, dessen Rolle als gering zu bewerten. [phon.] Saß: „Es sind etwa zehn Bereiche, aus denen ich meine Informationen genommen habe, und einer ist auch das Verhalten gegenüber den beiden Verteidigergruppen und ein weiterer ist das, was in den schriftlichen Einlassungen steht.“
Sturm: „Für mich sind das beides Komplexe, die das Verteidigungsverhalten betreffen, insoweit verstehe ich nicht, wenn Sie sagen, Verteidigungsverhalten spielt keine Rolle.“ Saß: „Habe ich das gesagt ‚keine Rolle‘?“ Sturm: „Oder eine geringe Rolle.“ Saß: „Ja, es spielt eine geringe Rolle im Unterschied [phon.] zu den anderen Bereichen.“ OStA Weingarten sagt, er müsse das nicht in eine Beanstandung kleiden, aber er habe den Eindruck, dass mglw. ein Missverständnis zwischen „Verteidigungsverhalten“ und „Verteidigerverhalten“. Sturm: „Ich spreche ausschließlich vom Verhalten von Frau Zschäpe und hatte Sie [Saß] so verstanden, dass es für die Begutachtung eine geringe Rolle spiele.“ Saß: „Also, es ist wichtig als einer oder zwei Komplexe. Einer ist das Verhalten gegenüber den beiden Verteidigergruppen und das andere ist das Verhalten in den schriftlichen Angaben und auch der mündlichen [phon.]. Das sind zwei Aspekte von in der Größenordnung 10, die für mich bedeutend waren.“ Sturm: „Sie hatten vorhin ausgeführt, dass es einerseits die retrospektive Bewertung gibt, da haben Sie eben verschiedene Informationen, Sachverhalte zusammengetragen, die es dem Gericht ermöglichen zu prüfen, ob ein Hang vorliegt, und andererseits die Betrachtungsweise, ob weiterhin eine Gefahr ausgeht, Straftaten zu erwarten sind. Welche Prognoseinstrumente gibt es?“ Saß: „Wofür jetzt?“ Sturm: „Für die Frage der Gefährlichkeitsprognose.“
Götzl sagt, er habe auch hier den Verdacht, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Saß: „Dazu habe ich ausführlich, in meinen Augen umfassend Ausführungen gemacht im methodischen Vorspann meines Gutachtens, den ich mindestens zweimal hier erläutert habe, einmal bei der Gutachtenerstattung und bei der Befragung durch das Gericht.“ Sturm: „Ich wollte nur sichergehen. Das heißt, was Sie vorgetragen haben, das bezieht sich ausschließlich auf die Frage der Prognose, nicht auf das Vorliegen eines Hanges?“ Saß: „Für das Vorliegen eines Hanges gibt es kein Untersuchungsinstrument.“ Sturm: „Habe ich Sie dann richtig verstanden, dass Sie sagen, es gibt Prognoseinstrumente, standardisierte, die haben Sie hier nicht angewandt, da nicht einschlägig?“ Saß sagt, das sei nicht sein „wording“. Saß weiter: „Ich berufe mich ausdrücklich auf das, was ich versucht habe, in sehr differenzierter und sorgfältig abgewägter Form ausführlich und detailliert im Gutachten darzustellen. Wenn Sie das jetzt verkürzen, stimme ich ungern zu. Deswegen kann ich das so nicht beantworten.“ Götzl: „‚Einschlägig‘ ist auch nicht gefallen, aber weil Sie ja kein Experte sind, nehme ich vieles hin.“ Sturm: „Da stimme ich zu. Dennoch eine weitere Frage: Sie sprachen von forensisch-psychiatrischer Sicht und kriminologischer Sicht. Können Sie etwas zu kriminologischen Untersuchungen zur Entwicklung bei weiblichen Delinquenten sagen im Hinblick auf die Entwicklung von Gefährlichkeit mit zunehmendem Alter?“ Saß: „Mir ist da keine spezielle Untersuchung dazu bekannt. Es ist generell Auffassung, die auch durch Studien angeregt [phon.] wird, dass zumindest bei den Männern die Gefährlichkeit mit dem Alter abnimmt, wobei es auf die Deliktart ankommt. Ich sehe keine vernünftigen Gründe, warum das bei Frauen anders sein sollte.“ Sturm: „Haben Sie das mit in die Begutachtung eingestellt?“ Saß: „Wenn ich Sie nicht missverstehe, kommen wir wieder zu der Frage des Zeitpunktes, zu dem der Zustand beurteilt wird. Darüber war ja schon ausführlich in der Befragung mit Herrn Rechtsanwalt Stahl gesprochen worden. Ich hebe ganz wesentlich auf den gegenwärtigen Zeitpunkt ab. Ich halte mich daran, was in Rechtsprechung und neuerdings Gesetzschreibung [phon.] vorgesehen ist.“
Sturm: „Sie hatten ausgeführt, dass eine Exploration natürlich sehr viel mehr Informationen geliefert hätte. Das hat nicht stattgefunden. Frage: Welche Fragen hätten Sie Frau Zschäpe im Rahmen einer Exploration gestellt?“ Saß: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da würden wir jetzt zwei Stunden verbringen. Eine Exploration zieht sich über eins, zwei, drei Tage hin und enthält eine Fülle von Fragen. Ich will es umreißen: u.a. zur Biographie, zur Persönlichkeit, zum Werdegang, zu den familiären Verhältnissen, zur Schule, vorher noch zum Kindergarten, mögliche Berufsausbildung, mögliche Berufstätigkeit, soziales Umfeld, Beziehungen, die eingegangen wurden, Partnerschaften, dann zur Delinquenz, wenn Delinquenz vorliegt, selbstverständlich Gesundheitszustand, Familienanamnese, eigene Anamnese, Suchtanamnese.“ Sturm: „Sie hatten hier auch ausgeführt, dass insoweit eine ganze Menge an Informationen im Rahmen der Hauptverhandlung oder hier zusammengetragen wurden. Zum Thema Delinquenz konkret: Welche weiteren Fragen hätten Sie an Frau Zschäpe zum Thema Delinquenz im Rahmen einer Exploration gehabt?“ Saß: „Also das sind alles hypothetische Fragen, nicht?“ Sturm: „Richtig.“
Saß: „Ich hätte die gesamte Delinquenzvorgeschichte anhand von geeigneten Fragen mit Frau Zschäpe besprochen, vorausgesetzt, Sie wäre dazu bereit. Manche Probanden sparen ja die Delinquenz aus. Das muss man dann sehen.“ Sturm: „Gleichwohl: Welche konkreten Fragen hätten Sie, wenn Frau Zschäpe heute Rede und Antwort stehen würde, hätten Sie an Frau Zschäpe?“ Götzl: „Das sind hypothetische Fragen!“ Sturm: „Selbstverständlich, Prognose ist ja auch hypothetisch.“ [phon.] Götzl: „Der Sachverständige hat den Themenbereich umrissen.“ Sturm zu Saß: „Welche weitergehenden Fragen hätten Sie an Frau Zschäpe gehabt?“ Saß: „Das ist schwer zu sagen, weil ich nicht weiß, wie der Gang der Exploration wäre. Bei der Lebensgeschichte wären wir irgendwann in zeitliche Regionen gekommen, wo die Frage von Regelverstößen kommt, wie so die Stellung zu Regeln ist. Das wäre sicher erörtert worden, und dann eben bei der Zeit in den eins, zwei, drei, vier Jahren vor dem Untertauchen, wo es fragliche Delikte gegeben haben soll. Auch die Fragen, die beim Zeugen Rei. erörtert worden sind. Ich kann Ihnen jetzt nicht genau sagen, wie der Wortlaut der Fragen gewesen wäre. Ich weise darauf hin, dass sich in der Regel eine Frage aus den Antworten auf die vorherige Frage ergibt, so dass es ein vielästiger Fragenbaum wäre, den wir hier entwickeln müssten.“
Sturm schweigt eine Weile, dann sagt sie: „Mich interessiert im Augenblick der Komplex Fragen zur Delinquenz, was sind geeignete Fragen zur Beantwortung der Gutachtensfrage?“ Saß: „Das will ich in der allgemeinen Form nicht beantworten, weil es auf die Gesprächsatmosphäre ankommt. Einen Probanden fragt man: ‚Kam es mal zu Strafverfahren?‘ Bei anderen kommt man anders darauf. Dafür gibt es kein Schema, das ist im Grunde genommen Propädeutik der Gesprächsführung [phon.]. Es gibt auch Begutachtungssituationen, wo man das anhand des Vorstrafenregisters abhandelt. Manchmal kommt der Proband auch selbst drauf: ‚Das erste Mal vor Gericht war ich, als ich das Moped geklaut habe.‘ Es sind tausend Szenarien denkbar, ich kann nicht genau sagen, wie im Fall einer Exploration von Frau Zschäpe der Gesprächsablauf gewesen wäre. Ich hätte mich bemüht, das angemessen zu tun.“ Sturm: „Mit welcher Frage hätten Sie denn den Komplex Delinquenz eröffnet?“ Saß: „Das habe ich beantwortet, das hängt vom Gesprächsverlauf ab.“ Sturm: „Unterstellt, dass der Gesprächsverlauf von Ihnen als erfahrenem Gutachter gesteuert wird im Rahmen der Exploration, mit welcher Frage hätten Sie diesen Bereich eröffnet?“
NK-Vertreter RA Narin beanstandet die Frage als Wiederholungsfrage und ungeeignet. Sturm: „Das ist unzutreffend. Die Frage wurde nicht beantwortet, sondern ausgewichen [phon.], zum zweiten ist sie auch nicht ungeeignet, denn sie betrifft ja die Methodik im Rahmen einer Exploration.“ Saß: „Dass ausgewichen wurde, trifft nach meiner Auffassung nicht zu.“ Sturm: „Deswegen habe ich meinen Eindruck geschildert.“ Saß: „Und ich habe meinen dagegen gehalten.“ Sturm: „Ich halte die Frage aufrecht.“ Götzl: „Zur Klarstellung: Sprechen sie von Gutachtensfragen oder von Fragen des Gutachters an den Probanden?“ Sturm: „Also ich bin jetzt überrascht, weil ich glaube, dass Sie als Fachmann, Herr Vorsitzender, auf dem Gebiet das verstanden haben. Es geht ganz klar um Explorationsfragen.“ Götzl: „Und darum, wie üblicherweise gefragt wird, oder wie er konkret das gemacht hätte? Das wäre hypothetisch.“ Sturm: „Ich will wissen, welche Frage er an Frau Zschäpe gerichtet hätte.“ Saß: „Zum einen, diese Annahme, die Sie eingeflochten haben, dass ich als erfahrener Gutachter die Befragung [phon.] steuere, ist nur partiell richtig. Mir ist wichtig und ich versuche, es so anzulegen, dass möglichst viel Aktivität vom Probanden selbst kommt. Es gibt dafür den Begriff des Gesprächs mit ungerichteten Fragen, wo man versucht zu erreichen, dass der Proband sagt, was ihm wichtig ist. In meinen Augen besteht eine Kunst darin, nicht zu präformieren [phon.] mit Fragen, sondern den Gesprächsverlauf offen zu halten [phon.], möglichst viel von der Gestaltung beim Probanden zu lassen. Natürlich gibt es eine Steuerung, indem man sagt: ‚Wie war es mit Krankheiten?‘ ‚Wie war das Verhältnis zur Mutter?‘ ‚Waren Sie im Kindergarten?‘ Aber da, wo es sozusagen ans Eingemachte, ans Wichtige geht, versucht man viel den Probanden gestalten zu lassen. Ich halte es für möglich, dass bei der Frage der Delinquenz das auch vom Probanden selbst kommt, und möglicherweise knüpft man da an und fragt: ‚Haben Sie das mehrfach gemacht?“ oder ‚Haben das damals alle gemacht?‘ Aber man kann in meinen Augen nicht in allgemeingültiger Form sagen, wie der Wortlaut einer Frage wäre.“
Götzl: „Die Frage setzt das aber voraus und insofern ist sie problematisch. Sie setzen das voraus.“ Sturm: „Ich suche gerade etwas.“ Während Sturm sich mit ihren Kollegen berät unterhält sich Zschäpe wieder angeregt mit RA Borchert. Sturm: „Ja, der Kollege hat mir geholfen das in Worte zu fassen. Und zwar weggehend von: ‚Wie würden Sie eine Befragung beginnen?‘ Welche Bereiche der Delinquenz interessieren Sie denn für die Begutachtung bzw. für die Beantwortung der hier im Raum stehenden Fragen?“ Saß: „Eigentlich alle.“ Sturm: „Und das wären?“ Saß: „Wann es begonnen hat, in welcher sozialen Situation, die Durchführung, wie, ob alleine oder in Gruppen, Reaktion der Umwelt, ob entdeckt, ob es Bestrafungen gab, ob es sich geändert hat und ganz, ganz viele andere Fragen, die sich ja aus den Antworten ergeben.“ Sturm: „Warum haben Sie diese Fragen hier nicht gestellt? Sie haben ja die Möglichkeit gehabt.“ Saß: „Also angesichts der Situation in der Hauptverhandlung und angesichts der Art, wie mit meinen Fragen, wenn ich sie mündlich gestellt habe, umgegangen wurde, und angesichts des Prozederes mit schriftlicher Antwort nach Monaten, habe ich es nicht für sachgemäß [phon.] gehalten, eine solche Frage zu stellen wie, wann Frau Zschäpe mit Delinquenz begonnen hat.“ Sturm: „Weil Sie davon ausgehen, dass die Antwort keine Aussagekraft hat für Sie?“ Götzl: „Suggestiv, beanstande ich. Sie geben ihm die Antwort vor.“ Sturm: „Warum haben Sie diese Fragen dann nicht gestellt?“ Götzl: „Wiederholungsfrage.“ Saß sagt, er habe dazu gerade Ausführungen gemacht. Sturm: „Warum war es nicht sachdienlich?“ Saß: „Weil es mir mit dem Prozedere nicht möglich erschien, sozusagen auf diesem Wege die Exploration, die ich sonst durchgeführt hätte, nachzuholen. Eine Exploration geschieht ganz anders und lässt sich nicht in dieser sehr künstlichen Situation nachholen. Der Mangel lässt sich nicht durch Einreichen schriftlicher Fragen sozusagen heilen. Und mündliche Fragen des Sachverständigen wurden nicht beantwortet. Überhaupt hieß es, Fragen des Sachverständigen würden nicht beantwortet, sie wurden nur beantwortet, weil das Gericht sie dann gestellt hat. Aber auf diese Weise eine Delinquenzanamnese zu machen, habe ich nicht für möglich gehalten. Halte ich auch immer noch nicht für möglich.“ Es folgt eine Unterbrechung bis 14:14 Uhr.
RAin Sturm setzt mit ihrer Befragung fort: „Ja, in Ihrem Manuskript, welches Sie hier auch vorgetragen haben, auf Seite 16 haben Sie ausgeführt: ‚Frau Zschäpe hat sich in ihrer Selbstdarstellung ähnlich geäußert, wobei allerdings aus psychiatrischer Sicht auffällt, wie nüchtern, sachlich, emotionsarm und unpersönlich ihre schriftliche Schilderung wirkte. Über Ziele, Wünsche, Hoffnungen und Träume, über tiefergehende Gemütsbewegungen, langfristige Ziele und Wertvorstellungen war weder aus ihren eigenen Erklärungen noch aus den Angaben von Zeugen beim Versuch entsprechender Fragen etwas zu erfahren.‘ Meine Frage: Weshalb haben Sie zumindest insoweit keine konkreten Fragen an Frau Zschäpe gerichtet?“ Saß: „Weil ich an Frau Zschäpe keine Fragen richten konnte. Es gab die Erklärung von Frau Zschäpe und Verteidigern, dass Fragen des Sachverständigen nicht beantwortet werden.“ Sturm: „Aber der Vorsitzende hat Fragen übernommen und Frau Zschäpe hat sie durchaus beantwortet.“ Saß: „Also Fragen zu stellen, die ich sonst in einer Exploration gestellt hätte, schien mir nicht sachdienlich. Fragen nach Interessen, Freizeitaktivitäten etc. habe ich meines Erachtens gestellt und die sind auch beantwortet worden, dass man Serien geschaut habe. Insofern wurden die beantwortet, aber nicht ergiebig.“ Sturm fragt nach Fragen zu tiefergehenden Gemütsbewegungen. Saß: „Waren nicht zu gewinnen.“ Sturm: „Daher die Frage, warum Sie da nicht nachgefragt haben.“ Götzl: „Das ist gerade beantwortet worden.“ Sturm: „Gut, dann weil Sie es nicht für sachdienlich erachtet haben?“ Saß beginnt: „Nein, das ist das eine …“
Götzl fällt Saß ins Wort und richtet sich an RAin Sturm, die sich gerade mit ihrem Kollegen RA Heer berät: „So funktioniert es tatsächlich nicht, wenn Sie eine Frage stellen und sich dann mit dem Kollegen unterhalten.“ Sturm zu Saß: „Sie hatten gerade angesetzt.“ Saß: „Ja. Es kommt mir ein bisschen paradox vor. Zunächst wird die Exploration verweigert. Dann wird, wenn ich Fragen stelle, nahezu systematisch dazwischen gegangen und unterbunden. Und dann wird gesagt, Fragen des Sachverständigen werden nicht beantwortet. Und jetzt wollen Sie von mir wissen, warum ich die und die Frage nicht gestellt habe. Hätte es eine Situation gegeben, dass Fragen beantwortet worden wären und nicht mit solchem Verzug, dann hätte ich Fragen gehabt. [phon.]“ Sturm: „Liegt diesem Vorgehen die Annahme zugrunde, dass Antworten, die Sie möglicherweise erhalten hätten, insoweit für Sie keinen Wert gehabt hätten?“ Saß schweigt kurz, dann sagt er: „Also, es sind ja Antworten gekommen oder es ist eine gekommen, auf die Frage nach Freizeitbeschäftigungen, Interessen und Lektüren, meine ich. Die hat für mich Bedeutung, allerdings ist es so, dass die Antwort darauf in meinen Augen relativ inhaltsarm war.“ Sturm: „Im Hinblick auf die Prognose, die Sie hier abgeben sollen, wäre es da nicht gleichwohl relevant gewesen, unter den gegebenen Bedingungen Frau Zschäpe zu fragen, was sie noch in Zukunft von ihrem Leben erwartet …“ RA Narin: „Ich beanstande …“ Götzl: „Erst zu Ende stellen lassen!“Sturm setzt fort: „… und zwar im Falle der Zugrundelegung von Szenario 2?“ Narin beanstandet die Frage als rein hypothetisch und daher ungeeignet, Götzl lässt die Frage aber zu.
Saß: „Tiefergehende Gemütsbewegungen, langfristige Ziele und Wertvorstellungen lassen sich in dem einzigen Frageszenario, was mir hier möglich war, nicht sachdienlich, sachgemäß behandeln, sie setzen eine Interaktion im Gespräch voraus. Dass dem so ist, wird auch indiziert durch die relativ karge, inhaltsarme Antwort auf die eine schriftliche Frage, die ich dazu gestellt habe.“ Götzl: „Im Übrigen: Sollte es relevant sein, kann sich Frau Zschäpe auch jederzeit dazu äußern.“ Sturm: „Wir sind bei der Befragung des Sachverständigen, dann liegt das wirklich neben der Sache.“ Götzl: „Aber sehen Sie bitte, dass es um die Frage der Prognose, § 66 StGB geht.“ Nach kurzem Schweigen sagt Sturm: „Ja, Herr Vorsitzender, ich habe dann für heute keine weiteren Fragen mehr zunächst, ich müsste das nochmal durchgehen.“ Götzl: „Ich hatte aber die Zeit eigentlich dafür vorgesehen, dass wir den Sachverständigen heute befragen können.“ RA Stahl: „Nur zur Erläuterung unseres Vorgehens: Weil wir heute erneut festgestellt haben, wie schwierig das ist, würden wir gerne anhand des Fragenkonzeptes klären, was er alles beantwortet hat, ob noch einzelne Fragen zu stellen sind. Ich denke, das geht schon.“
RA Borchert: „Ich hätte noch Fragen und das würde auch den Kollegen die Gelegenheit geben, sich das nochmal anzuschauen und über weitere Fragen nachzudenken. Ich möchte zunächst auf einen Gesichtspunkt eingehen, der schon vielfach angesprochen wurde, der Herr Sachverständige ist bereits mehrfach darauf eingegangen und die Kollegin hat das aufgegriffen, die Bewertung des Verhaltens der Mandantin als nüchtern, sachlich, emotionslos [phon.]. Ich möchte nochmals die Erklärung der Mandantin vom 09.12.2015 vorhalten und ihn fragen, ob er dabei bleibt oder das revidiert. In dieser Erklärung, Blatt 52: ‚Ich fühle mich moralisch schuldig, dass ich zehn Morde und zwei Bombenanschläge nicht verhindern konnte. Ich fühle mich moralisch schuldig, dass ich nicht in der Lage war auf Uwe Mundlos und auf Uwe Böhnhardt entsprechend einzuwirken, unschuldige Menschen nicht zu verletzen und nicht zu töten. Ich hatte Angst davor, dass sich beide umbringen und dass ich mit ihnen meine Familie, allen voran Uwe Böhnhardt, verlieren würde. Ich fühle mich moralisch schuldig, dass bei 15 Raubüberfällen die betroffenen Personen körperlichen und seelischen Schaden davon getragen haben – um selbst finanziell gesichert leben zu können. Ich wünschte, dass Tino Brandt früher aufgeflogen, wir noch vor dem Untertauchen verhaftet und die vielen Straftaten nicht passiert wären. Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen Opfern und Angehörigen der Opfer der von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangenen Straftaten.‘ Später hat Sie noch einen Satz in der Erklärung vom 29.09.2016 ergänzt, den ich nicht vergessen möchte und auch nochmal zitieren möchte, als sie ausgesagt hat: ‚Ich verurteilte die Taten, die Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen haben, sowie mein eigenes Fehlverhalten, wie ich es schon zum Ausdruck gebracht habe in meinen vorherigen Stellungnahmen‘. Kann man da von emotionslos, sachlich, unpersönlich nach wie vor ausgehen? Ist es ohne Empathie [phon.], wenn man vorträgt, dass man sich moralisch schuldig bekennt?“ Saß: „Das ist jetzt natürlich eine Frage der Bewertung. Sie selbst haben darauf hingewiesen, dass für den sprachlichen Ausdruck die gewählten Verteidiger zuständig gewesen seien. Deswegen stellt sich [phon.] die Frage der Authentizität. Wenn man das als eigene moralische Haltung ansieht, wäre es so, wie ich es im Szenario 1 unterstellt habe. Ich habe also versucht, sozusagen beiden Möglichkeiten Rechnung zu tragen.“
Borchert: „Dann würde ich auf Szenario 2 kurz eingehen, weil ich mir diesbezüglich Gedanken gemacht habe, dass man auch ein Szenario 3 hätte vortragen müssen. Szenario 1: Stellungnahme der Mandantin. Szenario 2: Anklageschrift ohne subjektive Beweiswürdigung. Und Szenario 3, nämlich Anklage vor einer kritischen Bewertung der Beweiserhebung [phon.]. Wobei dem Sachverständigen eine Beweiswürdigung gar nicht zusteht. [phon.]“ Saß: „Sie haben ja wahrscheinlich mitbekommen, dass ich mich wirklich sorgfältigst darum bemüht habe, Ihrem Versuch, mich zu einer Beweiswürdigung zu bringen, dem nicht nachzugeben.“ Borchert: „Aber Sie schildern mehrfach, es sei nicht plausibel, was die Mandantin geäußert hat. Ist das keine Beweiswürdigung?“ Saß: „Wenn ich meinen Eindruck geschildert habe, ob etwas plausibel ist, dann habe ich solche Formulierungen gewählt, um deutlich zu machen, dass ich keine Beweiswürdigung gemacht habe [phon.].“ Borchert: „Anderer Punkt: Die Mandantin hat sich ja nach vier Tagen Kreuz-und-Quer-Reisen durch Deutschland selbst bei der Polizei gestellt. Ich vermisse jegliche Ausführungen dazu, wie das psychiatrisch, psychologisch zu bewerten ist. Man könnte Überlegungen anstellen, dass sie sich gestellt hat und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass sie sich der Verantwortung stellt und sich von der rechten Szene getrennt hat [phon.], da sie in dieser nicht untergetaucht ist und diese Möglichkeit ja bestanden hätte [phon.].“ Saß: „Also Ihre Frage enthält zwei Anteile, glaube ich. Der erste ist, ob das Sich-stellen bei der Polizei bedeutet, dass sie sich ihrer Verantwortung stellt. Das könnte man so sehen, wobei es darauf ankommt, was man darunter versteht; sich zu stellen kann vielseitig determiniert sein. Aber man kann es sicherlich auch so deuten, wie Sie es deuten. Dass das gleichzeitig eine Distanzierung von der rechten Szene bedeutet, kann ich nicht sehen. Es ist auch nichts dahingehend geäußert worden.“
Borchert: „Kann man den Schluss nicht ziehen aufgrund der Tatsache, dass Sie nicht bei Ihren damaligen Freunden in der rechten Szene untergetaucht ist?“ Götzl: „Es ist schwierig, wenn Sie vom Sachverständigen Beweiswürdigung verlangen. Sie können die alternativen Szenarien gerne abfragen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, dann wird es einfacher.“ Borchert: „Ich kann das so in eine Frage fassen: Wenn zu unterstellen ist, dass aufgrund des Sich-stellens bei der Polizei zu unterstellen ist, dass sie sich von der rechten Szene abwendet, wie ist das gutachterlich zu bewerten mit Blick auf den Hang?“ Saß: „Hinsichtlich Hang habe ich ja gesagt, dass das weitgehend retrospektiv wäre, das würde sich nicht ändern. Ändern würde sich möglicherweise etwas prospektiv bei der künftigen Gefährlichkeit. Wenn es zu unterstellen wäre, dass sie sich von der rechten Szene abwendet, dann würde das ein Indiz sein, dass eher das Szenario 1 zu gelten hat. [phon.]“ Borchert: „Sie hat sich dazu geäußert.“ Saß: „Aber nicht in der ersten Äußerung.“ Borchert: „Macht das für Sie einen Unterschied, 2015 oder 2016?“ Saß: „Wenn man mich davon entbindet wieder, das als Beweiswürdigung zu machen: In meinen Augen und auch aus psychiatrischer Sicht ist schon von Bedeutung, wann man eine Äußerung macht, in welcher Verfahrenssituation. Ich erinnere daran, dass es bei Begutachtungen frühere Äußerungen gibt und dann spätere Äußerungen und das spielt auch für den Gutachter eine Rolle, aber im Wesentlichen ist das richterliche Beweiswürdigung.“ Borchert: „Ich muss die Anschlussfrage zurückstellen, um nachzuschauen, wann das war. Man kann in einer ersten Erklärung nicht alles auf einmal beantworten. Deswegen haben wir gesagt, wir beantworten sämtliche Fragen. Dies nur als Erklärung nebenher.“ RA Narin beanstandet, dass der Verteidiger eine Erklärung abgebe. NK-Vertreter RA Scharmer: „Sämtliche Fragen wurden gerade nicht beantwortet. Das ist schlicht falsch.“ Borchert: „Da gebe ich Ihnen recht, sämtliche vom Gericht gestellte Fragen, Ihre Fragen nicht.“ Saß: „Meine auch nicht.“
Borchert: „Sie haben sich nicht gutachterlich geäußert bezüglich der Zeit seit der Inhaftierung. Haben Sie die Gefangenenakte beigezogen zum Verhalten in der JVA?“ Saß: „Nein.“ Borchert fragt, ob es dafür einen bestimmten Grund gebe. Saß: „Also an sich ist das nicht üblich, während eines Strafverfahrens die Gefangenenpersonalakte beizuziehen. Ich kann mich an kein Verfahren erinnern, wo das gemacht wurde.“ Borchert: „Worauf bezieht sich das, Vorgaben vom Gericht?“ [phon.] OStA Weingarten beanstandet: „Die Vorgaben des Gerichts hat der Sachverständige ausführlich erläutert im Gutachten. Die Frage ist beantwortet, auch und gerade hinsichtlich der nicht zum Gegenstand gehörenden Gefangenenakte.“ Borchert: „Die Frage bleibt aufrechterhalten.“ Saß beginnt: „Also, das Gericht hat mir keinerlei Vorgaben gemacht, alles was …“ Weingarten: „Die Frage war doch beanstandet.“ Borchert: „Dann bitte ich um eine Entscheidung des Vorsitzenden.“ Götzl erläutert, dass Borchert jetzt Stellung nehmen könne. Borchert: „Ich war zu schnell, Entschuldigung!“ Weingarten: „Nur dass keine Missverständnisse entstehen. Mir reicht auch die Entscheidung des Vorsitzenden.“ Götzl: „Ja, aber ich kann trotzdem eine Unterbrechung machen. Ich lasse mir auch nicht vorschreiben, wie ich zu verfahren habe. Was Ihnen reicht, Herr Weingarten, ist nicht die Frage.“ Es folgt eine Unterbrechung bis 14:52 Uhr.
Danach sagt Götzl, dass die Anhörung des SV unterbrochen wird. Götzl in Richtung von RA Borchert: „Gibt es Anhaltspunkte, Gesichtspunkte, die für die Begutachtung von Relevanz sind, die sich aus der Gefangenenpersonalakte ergeben?“ Borchert: „Es wird ein Beweisantrag vorbereitet, ich kann aber meine Fragen nicht unterbrechen, um einen Beweisantrag zu stellen. Der Beweisantrag wird vorbereitet und gestellt werden.“ Götzl: „Dann wird das Thema von Ihrer Seite beackert werden?“ Borchert: „Es ist schon beackert. Ich habe die Frage natürlich vor einem Hintergrund gestellt.“ Götzl: „Worum geht es? Geht es um die Beiziehung der Gefangenenpersonalakte?“ Borchert: „Nein, es geht um eine Zeugenbefragung.“ Götzl: „Es könnte der Eindruck entstehen, dass Sie eine Relevanz der Gefangenenpersonalakte sehen.“ Borchert: „Es kann sich auch eine Relevanz ergeben insofern, dass in der Gefangenenakte nichts steht, Stichwort Disziplinarmaßnahmen, in fünf Jahren Haft. Ich werde dem Sachverständigen auch noch aus dem Gutachten Nedopil Vorhalte machen.“
Götzl: „Na gut, dann setzen wir fort. Die Frage, die Sie gestellt haben, wurde von Frau Rechtsanwältin Sturm gestellt, ist eine Wiederholungsfrage.“ Borchert: „Die Frage, die ich stellte wollte, ist, ob es für den Gutachter von Interesse ist, wie sie sich in der JVA verhalten hat.“ Götzl: „Das ist eine neue Frage.“ Saß: „Wenn in der Gefangenenpersonalakte solche Informationen drin sind, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zulassen, dann ist das für den Gutachter von Interesse.“ Borchert: „Und wenn Zeugen, etwa Bedienstete der JVA, die seit Jahren mit ihr zu tun haben, etwas aussagen können?“ Saß: „Also, verneinen tue ich das nicht. Ich weiß ja nicht, was die Zeugen sagen. Grundsätzlich ist es so, je mehr Informationen ich habe, umso sicherer ist die Beurteilungsgrundlage.“ Borchert hält aus dem Gutachten des psychiatrischen SV Prof. Nedopil von 2015 [zur damaligen Situation Zschäpes]vor, dass die Belastungen, denen Zschäpe ausgesetzt sei, so nachvollziehbar sie auch sein mögen, für die meisten Menschen über längere Zeiträume nur schwer ertragbar seien und zu psychischen und psychosomatischen Reaktionsbildungen führten; diese beeinträchtigten die weitere Belastungsfähigkeit und führten zu einem Kreislauf, in welchem sich Belastungen und psychophysische Erschöpfung gegenseitig verstärkten, was letztendlich zu einer Zunahme der Symptomatik führe. Borchert: „Ist dies im Detail bekannt, was ich vorgehalten habe?“
RA Scharmer: „Also ich kann die Frage nicht beanstanden, weil das Gutachten den Verfahrensbeteiligten nicht als Aktenbestandteil vorliegt.“ Er könne das Gutachten zwar auf der Geschäftsstelle einsehen, so Scharmer, wenn Vorhalte erfolgen, könne er aber nicht einschätzen, ob das z. B. aus dem Zusammenhang gerissen ist. Scharmer: „Ich nehme an, die Verteidigung hat es, die Nebenklägervertreter wohl nicht. Wenn es zum Gegenstand gemacht wird, es war ja immerhin eine Exploration [phon.], dann müssten wir es auch während der Verhandlung zur Verfügung haben.“ Nach kurzer Diskussion folgt eine Unterbrechung, wohl zum Kopieren. Um 15:33 Uhr geht es weiter.
Borchert: „Ich bin stehen geblieben beim Vorhalt aus dem Gutachten Prof. Dr. Nedopil, ich habe dort aus Seite 14 zitiert. Meine Frage dazu ist, ob Sie das im Rahmen der Einschätzung, dass bei Frau Zschäpe Empathie fehlen würde, mit berücksichtigt haben.“ Saß: „Ja, ich habe das mit berücksichtigt, ich habe das auf Seite 33 auch kenntlich gemacht, dass es im Frühjahr 2014 doch eine erhebliche Belastung gegeben hat mit der Folge gesundheitlicher Beschwerden. Und ich habe dann gesagt, man wird insoweit von einer Belastungsreaktion sprechen können, dies auch mit der Erklärung von Frau Zschäpe aus Januar 2017 verbunden, wo sie auch von Belastungen gesprochen hat.“ Borchert: „Ist diese Belastung heute noch weiter vorliegend?“ Saß: „Zumindest die gesundheitlichen Auswirkungen in Form von massiven psychovegetativen Beschwerden sind heute, soweit man erkennen kann, nicht mehr oder nicht in dem Ausmaß vorhanden.“ Borchert: „Physischer oder psychischer Art?“ Saß: „Beides.“ Eine Belastungsreaktion sei psychovegetativ oder psychosomatisch, daher schließe das beide Aspekte ein, so Saß.
Borchert: „Ich will nochmal darauf zurückkommen, wie Frau Zschäpe gewirkt hat. Haben Sie dabei berücksichtigt, dass ganz allgemein aus Sicht eines Angeklagten oder einer Angeklagten ein emotionales Auftreten in Bezug auf Zeugenvernehmungen, in Bezug auf die Anklagevorwürfe, dass ein solches Verhalten aus Sicht der Angeklagten so gewertet werden könnte, dass ein Geständnis abgelegt wird? Können Sie dazu aus Ihrer Erfahrung etwas sagen?“ Saß: „An solch eine Schlussfolgerungen habe ich, ehrlich gesagt, nicht gedacht.“ Borchert: „Haben Sie nie erlebt, dass eine Angeklagte sehr aufgewühlt auf einen Vorwurf reagiert hat und das Gericht daraus Schlüsse für den Anklagevorwurf gezogen hat?“ Saß: „Nein, kann ich mich nicht dran erinnern. Ich verweise auch auf Seite 32. Ich habe berücksichtigt, dass es zumindest in der Anfangszeit die strenge Anweisung der Verteidiger gab, nach Darstellung von Frau Zschäpe, sich sehr zu beherrschen. Ich habe aber auch Ausführungen dazu gemacht, dass bei Hinzutreten der zweiten Verteidiger und Wechsel der Strategie, dass dann die Notwendigkeit der strengen Beherrschung nicht mehr im selben Maß gegeben war.“ Zudem habe es, so Saß weiter, bei Zschäpe auch von Anfang an eine breite Variabilität von Verhaltensweisen [phon.] gegeben. Saß: „Aber dass eine gewisse Verfremdung durch die Verfahrenssituation besteht, ist sicherlich richtig und habe ich berücksichtigt.“
Borchert: „Wenn ich Ihnen entgegenhalte, dass dieser Eindruck aus meiner Sicht falsch ist, würden Sie mir widersprechen?“ Saß verweist erneut darauf, dass er die Verfremdung durch die Verfahrenssituation berücksichtigt habe. Borchert: „Wie Sie wissen, war ich nur bei einem geringen Teil der Verhandlungstage anwesend. Ich habe mir schildern lassen, wie einige Vertreter der Nebenklage reagiert haben, teilweise sehr aggressiv gewesen seien, und auch die Darstellung in der Presse war nicht sonderlich freundlich. Darauf wollte ich mich beziehen. [phon.]“ Saß sagt, es gebe eine sehr ausführliche Wiedergabe der Hauptverhandlung in der vorbereitenden Stellungnahme, wo er versucht habe, die von ihm beobachtete Verfassung von Zschäpe in Bezug zum Thema in der Hauptverhandlung zu setzen. Saß weiter: „Dass es belastende Situationen gab, da stimme ich Ihnen durchaus zu.“ Borchert: „Können Sie ein Beispiel nennen, wie sich Frau Zschäpe hätte verhalten sollen, um nicht formal und unpersönlich zu wirken?“ Saß: „Ist nach meiner Erinnerung mindestens einmal schon erörtert worden, ich habe dazu auch ein Beispiel genannt, bei dem man sich eine andere Reaktion hätte vorstellen können.“ Borchert: „Können Sie mir das Beispiel nennen?“ RA Narin beanstandet die Frage als „eindeutige Wiederholungsfrage“. Götzl lässt die Frage aber zu.
Saß: „Das Beispiel, was ich da gebracht habe, war die Befragung einer Geschädigten aus einer Sparkasse, das müsste zweite Hälfte 2016 gewesen sein, also weit nach dem Hinzutreten der zweiten Verteidiger. Das war, soweit ich das für mich und andere registrieren konnte, eine durchaus berührende Situation, wo die Zeugin die erheblichen Ängste und traumatisierenden Erfahrungen geschildert hat, insbesondere die Angst, nicht mehr nach Hause zu den Kindern zu kommen. Das war ein Beispiel dafür, es gäbe andere.“ Borchert: „Nicht bezogen auf die Zeugin, bezogen auf Frau Zschäpe: Wie hätte sie sich verhalten sollen, ohne hier zu wirken, als ob sie Selbstmitlied an den Tag legt, ohne den Eindruck heuchlerischen Verhaltens zu hinterlassen?“
RA Scharmer beanstandet die Frage: „Es ist Aufgabe des Sachverständigen, dem Gericht mit sachverständiger Hilfe zu ermöglichen, das Verhalten der Angeklagten zu würdigen im Hinblick auf Hang etc., nicht, wie sich Frau Zschäpe hätte verhalten sollen. Das ist im Übrigen eine subjektive Einschätzung. Frau Zschäpe hat sich verhalten und das ist zu würdigen. Es ist ja auch keine Lehrstunde dazu, wie man besser eine Einlassung verfasst.“ Borchert: „Es muss die Frage erlaubt sein, welche Reaktion denn gezeigt werden muss, damit es nicht formal und unpersönlich ist.“ Narin: „Es kommt erschwerend hinzu: Die Frage wurde schon durch genau Herrn Borchert gestellt.“ Borchert: „Sie wurde nicht konkret beantwortet.“ NK-Vertreter RA Elberling: „Ich möchte mich der Beanstandung anschließen. Die Frage geht zudem von einer falschen Prämisse aus, sie setzt gewillkürtes Verhalten voraus. Vieles von dem, was der Sachverständige berücksichtigt, ist aber Verhalten, das nicht gewillkürt ist. Die Frage ist von daher ungeeignet.“ OStA Weingarten: „Wir hatten eine vergleichbare Situation auch schon, als nach Formulierungsvorschlägen für Liebesbriefe gefragt worden war.“ Bei günstigster Auslegung sei der Frage eine methodologische Zielrichtung zu entnehmen, welche Regungen vermisst worden sind. Weingarten: „Aber das wäre eine Wiederholungsfrage, der Sachverständige hat sich dazu geäußert, etwa in Bezug auf den Angeklagten Schultze.“ Götzl sagt, es handele sich in der Tat um eine Wiederholungsfrage.
RAin Sturm: „Die Frage ist auch schon bei der ersten Befragung nicht beantwortet worden. Insofern ist es richtig, dass sie nochmal aufgebracht wird. Und es geht darum, das Gegenstück dazu abzufragen: Was würde man in einem Gesicht lesen oder wahrnehmen, wenn es betroffene oder entsprechende Reaktionen zeigen würde?“ Götzl berät sich mit Richter Lang und Richterin Odersky, dann sagt er in Richtung von Borchert: „Bleibt die Frage aufrechterhalten?“ Borchert: „Ja.“ Scharmer: „Also, um da zu intervenieren: So wie Herr Oberstaatsanwalt Weingarten oder Frau Rechtsanwältin Sturm das ausgelegt haben, würde ich die Beanstandung nicht aufrechterhalten. Aber ich gehe davon aus, wenn ein erfahrener Rechtsanwalt wie Herr Borchert eine Frage stellt, dann hat er die Frage so gestellt und nicht in der wohlwollenden Auslegung von Herrn Weingarten. Ich stelle anheim.“ Götzl fragt Borchert, ob er die Frage so stelle, wie Weingarten sie ausgelegt hat. Borchert: „Ich muss gestehen, ich habe es nicht mehr in Erinnerung.“ Götzl wiederholt Weingartens Auslegung. Borchert: „Wenn es dem Ziel dient, würde ich mich der Auslegung anschließen.“ Götzl: „Dann wird die Beanstandung offensichtlich nicht aufrecht erhalten.“
Saß: „Es fällt mir schwer zu sagen, wie sie sich hätte verhalten sollen. Ich habe in allgemeiner Form ausgeführt als anderes Beispiel die Aussage von Herrn Schultze, und dass man sich auch andere Reaktionen in der Mimik und Gestik vorstellen können, mit denen einer Betroffenheit oder einem Mitleid oder innerer Beteiligung Ausdruck gegeben wird.“ Borchert: „Ist Ihnen eine weitere Konkretisierung möglich, außer ein Mienenspiel, das Betroffenheit zeigt?“ [phon.] Saß: „Ja, Mienenspiel, ich meine die gesamte Psychomotorik. Mienenspiel ist wichtig, aber auch Körperhaltungen, Bewegungen.“ Borchert: „Ich habe augenblicklich keine Frage. Darüber muss ich nochmal nachdenken, was er mit Körperhaltungen und Bewegungen meint, um Betroffenheit auszudrücken.“
Dann setzt Zschäpe-Verteidiger RA Grasel mit der Befragung fort. Grasel nennt den Zeugen Patrick Ku. und fragt, ob dessen Aussage in Bezug auf den Ratschlag von Zschäpe, sich von der rechten Szene fernzuhalten, nicht von Bedeutung für Saß gewesen sei. Saß: „Ich weiß nicht, ob ich gesagt habe ’nicht von Bedeutung‘ oder ’nicht von ausschlaggebender Bedeutung‘. Letzteres würde ich sagen.“ Grasel: „Wäre aus Ihrer Sicht das Gegenteil von Bedeutung gewesen, wenn sie ihn also zur Teilnahme ermutigt hätte?“ RA Narin beanstandet die Frage als ungeeignet und „höchst hypothetische Vorstellung über eine Sachverhalt, der so nie geschehen ist“. Grasel: „Der Sachverständige bewertet das Verhalten dahingehend, dass ein Abraten von der rechten Szene wenig Bedeutung hätte, dann liegt die Gegenfrage, wie wäre das Gegenteil zu bewerten gewesen, auf der Hand.“ Götzl: „Ja, gut, wir reden grundsätzlich über die Variante, die zur Debatte steht, also irgendwelche hypothetischen Varianten müssen wir nicht diskutieren.“ Grasel: „Ich möchte die Einschätzung des Sachverständigen zur stattgefundenen Situation hinterfragen.“ [phon.] Narin: „So eine vermeintliche Stellungnahme von Frau Zschäpe hätte zudem in einem gewissen Kontext stattgefunden, der zu berücksichtigen wäre. So kann man das nicht hypothetisch aufstellen. Der Sachverständige ist doch kein Hellseher!“
Grasel: „Ich halte an der Frage fest.“ Weingarten: „Die Beanstandung ist insoweit richtig, als dass der Sachverständige nicht dazu da ist, hypothetische Sachverhalte zu begutachten, sondern gegebene.“ Weingarten sagt, er könne auch hier eine methodologische Fragestellung erkennen; die Frage führe zwar vielleicht nicht weiter, mglw. sei sie aber zulässig. Narin: „Nachdem sich Herr Weingarten so ins Zeug gelegt hat, kürze ich ab und nehme sie mal zurück.“ Saß: „Zu berücksichtigen, wenn man über die gegebene und die spekulierte [phon.] Antwort nachdenkt, zu berücksichtigen ist die Gesamtsituation, dass man sich damals auf der einen Seite in der rechten Szene befunden hat bzw. eine Lebensführung hatte, die im Verborgenen war und darauf abzielte, das was eigentlich stattfindet, nicht offenbar werden zu lassen. Damit ist die offenbar in der Realität gegebene Antwort gut vereinbar. Sie ist aber nicht von großem Gewicht in meinen Augen. Es sei denn, dass das eine Abkehr von bisherigen Verhaltensweisen bedeutet, aber die hätte sich dann auch anders, etwa in – jetzt komme ich auch schon ins Spekulieren – einer Änderung der Lebensführung ausgedrückt. Während sicherlich ein offenes Bekenntnis in dieser Situation, während man sich verbergen will, anders zu bewerten wäre. Aber das erscheint mir zu spekulativ.“ Grasel: „‚Sicherlich anders zu bewerten‘, wie wäre es anders zu bewerten?“ Saß: „Jetzt wollen Sie mich dazu anhalten, immer weiter zu spekulieren. Es wäre dann so zu bewerten, dass es eher plausibel wäre, dass es eher der eigenen Einstellung entspricht, weil es gegen einen gewissen Widerstand wegen des Verbergens angehen würde. Aber wie gesagt, viel zu spekulativ. Ich benutze es nicht wegen des spekulativen Charakters.“
Grasel: „Sie gehen im Gutachten davon aus, dass bei Vorhandensein einer rechtsradikalen Gruppierung mit der Bereitschaft zu Straftaten Sie davon ausgehen würden, dass Frau Zschäpe sich an derartigen Taten beteiligen würde, richtig?“ Saß: „Ich gehe nicht davon aus, aber ich habe eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gesehen.“ [phon.] Grasel: “ Woran machen Sie fest, dass sie beabsichtigt, zukünftig in solchen Kreisen zu verkehren?“ Saß: „Jetzt kommen wir nochmal auf den Zeitpunkt zu sprechen. Ich fühle mich gehalten, die Fragen zu beantworten auf Grundlage des gegenwärtigen Zustandes, nicht, wie er nach einer möglicherweise verhängten Haftstrafe ist. Ich habe mich auf das zu stützen, was gegenwärtiger Zustand ist. [phon.]“ Grasel: „Woran machen Sie es gegenwärtig fest?“ Saß: „Tut mir leid, auch das ist wiederholt gesagt worden. Ich weise darauf hin, dass ich das an mehreren Tagen schon ausgeführt habe.“ Grasel: „Das kann ich so nicht nachvollziehen. Woran machen Sie es gegenwärtig fest, dass sich Frau Zschäpe in der rechten Szene bewegt oder verkehrt?“ NK-Vertreter RA Bliwier beanstandet: „Dieser Punkt ist Gegenstand von mehreren stundenlangen Befragungen und Ausführungen des Sachverständigen gewesen.“ Narin: „Und falscher Vorhalt. Er hat nie gesagt, sie verkehre gegenwärtig in rechten Kreisen.“ Grasel: „Es geht genau darum, dass er das für die Zukunft annimmt.“ Götzl: „Die Frage wurde gestellt und beantwortet. Wenn Sie bestimmte Aspekte ansprechen wollen, gerne, aber nicht in dieser Allgemeinheit.“ Grasel: „Dann muss ich die Mitschriften konsultieren und gegebenenfalls später darauf zurückkommen.“ Götzl: „Sind zunächst mal weitere Fragen der Verteidigung Zschäpe? Wir werden morgen fortsetzen.“ Aus der Verteidigung Zschäpe meldet sich niemand. Götzl wendet sich an die anderen Verfahrensbeteiligten: „Sind für heute noch Fragen?“
RA Scharmer: „Nachdem Kollege Borchert das Gutachten Nedopil ins Spiel gebracht hat, zwei Aspekte, Herr Prof. Saß: Sie haben ausgeführt, dass ein Teil der Aspekte zum einen Mimik und Gestik, zum anderen auch das Verhalten gegenüber Verteidigungslagern, sage ich mal, war. Jetzt finden sich in der Exploration Nedopil dazu wiedergegeben mögliche Angaben von Frau Zschäpe. Die würde ich gerne vorhalten mit der Frage, ob das für Sie relevante Gesichtspunkte sind.“ Scharmer hält aus dem Gutachten von Nedopil vor: in Bezug auf die Hauptverhandlung habe Zschäpe berichtet, dass sie zunächst gedacht habe, dass sie es einfach so schaffe; sie habe geglaubt, dass sie das Schweigen durchhalten, die Fassade aufrechterhalten könne; im Gerichtssaal gehe es aber zu wie in einem Kriegsgebiet, die „Vorwürfe und Zermürbungstaktiken der Nebenklage“, die Zeitverzögerungen, Kränkungen und Beleidigungen, die Vergeudung von Zeit auf Nebenkriegsschauplätzen würden sie zunehmend zermürben; sie könne aber nicht abschalten, weil sie auf der einen Seite ihre Fassade bewahren wolle und auf der anderen Seite aufpassen müsse, damit die Anwälte auch in ihrem Sinne agieren würden, es wäre ansonsten schon wiederholt zu Fehlern bei der Verteidigung gekommen.
Dann hält Scharmer einen weiteren Abschnitt aus Nedopils Gutachten vor, demzufolge es Reibungsverlust gebe auch durch gewisse unterschiedliche Meinungen zwischen ihr und den Anwälten, wodurch auch das Misstrauen erklärlich sei, welches im Laufe des letzten Jahres auch einmal zum Mandatsentzug hätte führen können. Als weiteres belastendes Ergebnis, so der Vorhalt weiter, habe Zschäpe die Vorführprozedur aufgeführt, die eine Stunde lang dauere und für sie ein entwürdigendes Drama darstelle. Zunehmend belastend sei, liest Scharmer weiter vor, laut Zschäpe auch geworden, dass sie in den Zeiten zwischen den Verhandlungen keine Erholung mehr finde, weil sie jetzt zu Arztbesuchen müsse, weil sie sich auf die Zeugenvernehmungen vorbereiten müsse, sie glaube, dass sie ihre Anwälte bei der Befragung unterstützen und gegebenenfalls korrigieren müsse, dazu finde sie schon gar keine Kraft mehr. Dann stellt Scharmer seine Frage: „Ich frage nur: Wäre das für Ihre Einschätzung relevant?“ Saß: „Also in meinen Augen ist das nichts grundsätzlich neues und anderes, sondern etwas, was die Einschätzung stützt. Auf der einen Seite wird deutlich, dass das Verfahren eine Belastung darstellt, wobei die Belastungen im Bereich des Verhaltens der [phon.] Nebenklage liegen, nicht etwa im Gegenstand, um den es geht. Es hätte ja auch sein können, dass die Vergegenwärtigung der Taten als Belastung erscheint. Es wird auch deutlich, dass Frau Zschäpe sich durchaus bemüht, Kontrolle und Einfluss hinsichtlich des Verhaltens der eigenen Rechtsanwälte zu behalten, wenn sie ausführt, die würden sonst Fehler machen, dass sie die unterstützen und kontrollieren müsse. Also das ist ein Hinweis, dass durchaus eigene Aktivität und eigener Gestaltungs- und Kontrollwille da ist, obwohl es ihr schwerfällt durch die Belastungen des Verfahrens. Was später offensichtlich nicht mehr im selben Maße der Fall war. Und was deutlich wird: Die Belastungen sind prozessuale Verhaltensweisen von Prozessbeteiligten, nicht, was auch denkbar wäre, Betroffenheit oder Leid oder irgendetwas, was sich auf die Tatvorwürfe bezieht.“
Scharmer: „Es ging ja um die Frage Mimik und Gestik, auf Seite 5 findet sich ein Absatz unter dem, den ich vorgehalten habe: ‚Zunehmend falle es ihr auch schwerer, unbeweglich im Gerichtssaal zu verbleiben oder sich hinter dem Laptop zu verstecken, um sich abzulenken.‘ Ist diese Einschätzung von Relevanz für Sie?“ Saß: „Ja, das wären die Fragen, die man bei direktem Gesprächskontakt gestellt hätte. Im Grunde hat Frau Zschäpe hier meine Vermutung bestätigt, die als subjektive Einschätzung kritisiert wurde. Sie war subjektiv [phon.], aber sie wird jetzt durch Eigenbericht unterstützt.“
RA Borchert: „Dann bitte auch Vorhalt des folgenden Satzes: ‚Dies falle insbesondere dann schwer, wenn Bekannte aus früheren Zeiten über sie reden würden und sie nicht in der Lage sei, etwas richtig zu stellen oder zu erklären, dass sich etwas geändert habe.‘ Bleiben Sie dann bei Ihrer Einschätzung, Herr Sachverständiger, wenn sie sagt, dass das der Grund sei?“ Saß: „Hier steht nicht, dass das der Grund sei, hier steht, dass falle ihr dann besonders schwer. Das Hervorheben einer Beispielsituation. [phon.] Wenn Bekannte genannt werden, dann kommt mir der Gedanke an die Aussage des Zeugen Rei., die mit Missfallen quittiert wurde, auch in Richtung der Verteidigung. Was sich hinter der Formulierung verbirgt, etwas richtig zu stellen, das weiß ich nicht, da kann man Verschiedenes drunter verstehen.“ Die Befragung des Sachverständigen wird unterbrochen. Götzl fragt RA Borchert: „Bis wann können wir mit dem Beweisantrag rechnen?“ Borchert: „Ich bemühe mich. So schnell wie möglich, spätestens morgen früh.“ Saß: „Darf ich darauf hinweisen, dass ich übermorgen verhindert bin?“ Götzl: „Ja, das ist klar.“ Der Verhandlungstag endet um 16:13 Uhr.
Das Blog „NSU-Nebenklage: „Und täglich grüßt das Murmeltier – Fortsetzung der Befragung Prof. Saß. Auch heute wurde die Befragung des Sachverständigen Prof. Saß durch die verschiedenen VerteidigerInnen Zschäpes fortgesetzt. Teilweise entstand der Eindruck, als würde diese Art der Befragung Zschäpe mehr schaden als nutzen.“
https://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/02/14/14-02-2017/