Protokoll 349. Verhandlungstag – 21. Februar 2017

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An diesem Prozesstag sagt Manfred Br. von der Jugendgerichtshilfe als Auskunftsperson aus. Er berichtet über den Werdegang des Angeklagten Carsten Schultze. Es geht darum, ob dieser zum Zeitpunkt der angeklagten Straftat unter strafrechtlichen Gesichtspunkten als Erwachsener oder Jugendlicher gelten könne. Er kommt zu dem Schluss, dass „Schultze zum Tatzeitpunkt nach seiner geistigen, sittlichen und seelischen Reifung und Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.“ Dann stellt NK-Vertreter RA Reinecke einen Beweisantrag, der zeigen soll, dass die Aussage von Beate Zschäpe, sie habe vom Anschlag in der Kölner Probsteigasse aus der Presse erfahren, nicht stimmen kann.

Auskunftsperson:

  • Manfred Br. (Jugendgerichtshilfe, Bericht zum Angeklagten Schultze)

Heute ist Fototermin. Um 09:43 Uhr betreten die Angeklagten den Saal. Nachdem Kameraleute und Fotograf_innen den Saal verlassen haben, betritt der Senat den Saal. Um 09:48 Uhr beginnt der Verhandlungstag. Anwesend ist heute für die Jugendgerichtshilfe Manfred Br. [zuletzt 183. Verhandlungstag].

Götzl: „Wir kämen zunächst zu dem angekündigten Beweisantrag.“ Zschäpe-Verteidiger RA Grasel: „Der konnte aus organisatorischen Gründen nicht fertiggestellt werden, tut mir leid.“ Götzl: „Das kann ich nicht einordnen, was heißt das? Gut, ist Ihre Sache, aber aber wir müssen schon sehen, dass das Verfahren nicht verzögert wird. Wann soll er denn gestellt werden? Soll er denn überhaupt gestellt werden?“ Götzl sagt, der Antrag werde ja benötigt, um dann mit der Befragung des SV Prof. Saß weitermachen zu können. Grasel: „Das ist mir durchaus bewusst, allerdings bedarf es einer Abklärung.“ Götzl: „Ja, das will ich schon geklärt haben. Sie kennen das Programm für diese Woche. Für morgen ist Prof. Dr. Saß geladen. Wie stellen Sie sich das Prozedere aus Ihrer Sicht vor?“ Grasel: „Ich gehe davon aus, dass von den drei Kollegen noch Fragen kommen morgen, das ist aber nur meine Annahme, und ich werde mich bemühen den am Donnerstag zu stellen.“ Götzl: „Also ich hatte ihre Kollegen so verstanden, dass sie warten wollen, welcher Zeuge noch in Betracht kommt.“ Zschäpe-Verteidiger RA Heer: „Das ist zutreffend, wir wollten den Beweisantrag abwarten.“ Götzl: „Insofern hängen wir jetzt in der Luft.“ Grasel: „Dessen bin ich mir bewusst. Es gibt eine Begründung, die mich bislang daran gehindert hat, die möchte ich aber jetzt nicht ausbreiten.“ Götzl: „Na gut. Wann soll denn der Beweisantrag dann gestellt werden?“ Grasel: „Ich kann Ihnen nur die gleiche Antwort geben wie gerade eben: Sobald dieser letzte Aspekt geklärt ist. Ich werde mich nicht auf ein Datum festlegen, morgen oder übermorgen. Ich bemühe mich, aber ich kann es Ihnen nicht versprechen.“ Götzl: „Wir werden jetzt mal zehn Minuten unterbrechen bis 10:05 Uhr.“

Um 10:07 Uhr geht es weiter. Götzl: „Dann wird bekanntgegeben, dass wir für morgen Frau Ha. geladen haben zum Thema Verhalten von Frau Zschäpe in der JVA München.“ Heer: „Wer ist das denn?“ Götzl: „Das ist die zuständige Abteilungsleiterin der JVA München. Und ich bitte Sie dann auch, sich auf die weitere Befragung des Sachverständigen einzustellen. Dann kämen wir, Herr Br., zu Ihrem Bericht.“

Manfred Br.
: „Ich habe ja bereits als Zeuge ganz ausführlich zum Lebenslauf Stellung genommen.“ Br. macht noch einmal einige allgemeine Ausführungen zur Biographie von Schultze. Dann kommt er zu Schultzes Zugehörigkeit zur rechten Szene: „Wie gelangte er eigentlich in der rechten Szene? Schultze antwortete: Den Anfang machte eine Begegnung in der Unterkunft seiner Lehrlingsausbildung 1997.“ Schultze habe Marco H. kennengelernt, habe diesen einfach attraktiv gefunden, auf einer erotischen Basis anziehend. Schultze habe begonnen, sich anders zu kleiden, habe sich eine Bomberjacke angezogen, eine schwarze Hose und habe begonnen, sich auch für rechte Musik zu interessieren. H. habe Lieder der „Zillertaler Türkenjäger“ gehabt.

Br.: „Und er merkt: Diese andere Kleidung wertet ihn auf, die Leute schauen anders auf ihn und nehmen ihn anders wahr. “ Ein wichtiger Punkt sei eine Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in München im März 1997 gewesen. Schultze sei sehr fasziniert gewesen von dem, was dort passiert. Schultze habe Kontakt zu gehabt, der ihn mitgenommen habe zu den und zum . Anfangs habe Schultze geholfen, Plakate zu kleben, Demos zu organisieren und sei mitgegangen zu Treffen. Im Frühjahr 1999 sei Schultze stellvertretender Vorsitzender des -Kreisverbandes geworden, sein erstes Amt. Dann sei er Stützpunktleiter der JN geworden, habe junge Menschen geschult, habe Veranstaltungen gemacht. Schultze habe aber auch Freizeitaktivitäten wie Trinken gehen betont. Im Februar 2000 sei dann Schultzes Wahl in den Bundesvorstand der JN erfolgt. Br.: „Und das ist ein Zeitpunkt, wo er zunehmend merkt: ‚Ich bin hier in einer Situation, dass ich meine wahre sexuelle Identität in der rechten Szene nicht ausleben kann.‘ Öfter hört er Kommentare von anderen, dass Schwulsein nicht akzeptiert wird, dass es keine Sache ist, die einen adelt.“ Im August 2009 [gemeint ist vermutlich 2000]habe Schultze ein neuntägiges Unterbindungsgewahrsam nach einer Hausdurchsuchung erlebt wegen der „Rudolf-Heß-Woche“, so Br. weiter. Br.: „Danach trifft er Wohlleben und andere und sieht sich dem Spott der Leute ausgesetzt. Danach ist ihm klar: Ich muss hier raus, das sind nicht mehr meine Leute, ich gehöre hier nicht her. Solange braucht er, um diesen Schritt zu tun.“

Br. weiter: „Ich habe den Herrn Schultze 13 Jahre nach der vermeintlichen Tat getroffen und gesprochen und ich gehe von einem Tatzeitalter von 20 Jahren aus. Und es geht darum, sich dem anzunähern: Welche geistige und sittliche Reife hat Herr Schultze damals wohl gehabt?“ Br. spricht von Reifekriterien auf der Grundlage der „Marburger Richtlinie“, die 1954 herausgebracht worden seien und 1991 angepasst worden seien, weil die Begriffe „geistige“ und „sittliche Reife“ durchaus schwammig seien. Br.: „Ich habe mir dazu angeschaut: Welche Lebensplanung hat Herr Schultze? Er geht zunächst aus sexuell bestimmten Motiven und einer Protesthaltung gegen die Eltern in die rechte Szene, lässt sich erst ein bisschen darin treiben, ist dann aber sehr zielstrebig, beschafft sich Zeitschriften, beschafft sich ein Postfach. Und er versucht viele Kontakte aufzubauen, um immer mehr Informationen aus dieser Szene zu bekommen, und wird auch sehr aktiv. Er zahlt aber einen sehr hohen Preis, da die Kontakte in zunehmendem Maße eine Verleugnung der eigenen Bedürfnisse nach sich ziehen.“ Schultze habe sehr lange gebraucht, bis zum Jahr 2000, um zu merken, dass er sein Leben neu planen muss; nachdem er sich aus der Szene gelöst hat, habe Schultze begonnen, sein Leben neu zu planen. Deswegen gehe er, Br. davon aus, dass Schultze davor keine realistische Lebensplanung gehabt habe. Zur Einstellung Schultzes zu Arbeit und Schule sagt Br., dass Schultze sehr vom Elternhaus geprägt sei, es ließen sich hier keine Merkmale finden, die von denen eines gleichaltrigen Heranwachsenden abweichen, so Br. Br.: „Er zieht das eigentlich gut durch bis zum Realschulabschluss, dann die Ausbildung. Es gibt dann einen Moment, wo er etwas sorglos ist und sich sagt: Ich hab keinen Bock mich vom Arbeitsamt fördern zu lassen. Er weiß aber, dass das Elternhaus ihn unterstützt. Im Großen und Ganzen ist eine Ernsthaftigkeit gegenüber Schule und Arbeit festzustellen, die altersentsprechend ist.“

Br.: „Wie sieht es mit der Eigenständigkeit gegenüber den Eltern aus? Er versucht mit 17,18, Eigenständigkeit zu demonstrieren, in dem er politische Einstellungen vertritt, die seinem Vater und seiner Mutter nicht gefallen. Aber das gehört zu einer normalen Entwicklung, dass man in Widerspruch zu den Eltern geht. Was nicht festzustellen ist, ist, dass er ein erhöhtes Anlehnungsbedürfnis an die Eltern hat, Hilfe erwartet. Das ist altersentsprechend gelaufen bei ihm.“ Zum Umgang Schultzes mit Gleichaltrigen sagt Br., da sehe es schwieriger aus: „Er siedelt sich im unteren Drittel der Klassengemeinschaft an, er kriegt mit, dass er anders eingeschätzt wird als viele andere in der Klasse und er gab mir gegenüber zu verstehen, dass er nicht gerade vor Selbstbewusstsein gestrotzt hat.“ Nach seiner eigenen Schilderung habe Schultze einige belastende Erlebnisse gehabt. Dem psychiatrischen SV Leygraf habe Schultze auf Frage geantwortet, dass er Kontakt zur rechten Szene gesucht habe, weil er „mehr sein wollte“.

Br.: „Für mich ist es schwer zu beurteilen, ob er seinerzeit seinen Alltag altersentsprechend bewältigt hat. Dazu fehlt eine authentischer Gesamteindruck. Ich habe ihn damals nicht vor mir: Wie war er körperlich entwickelt? Wie hat er gesprochen? Aber was auffällt: Er scheint sehr zielgerichtet an einer politischen Karriere zu arbeiten, von 1997 bis 2000. Er selber bezeichnet sich auch als kommunikativ, zugänglich und aufgeschlossen. Jedoch spricht aus manchen Äußerungen ein gesteigertes Geltungsbedürfnis. Und das trifft man häufig bei Menschen an, deren Selbstwertgefühl nicht besonderes ausgeprägt ist. Das ist typisch für junge Menschen, spricht aber nicht für die Reife eines erwachsenen Menschen. Er sagt: Bei den Rechten sei es plötzlich sehr wertschätzend gewesen. [phon.] Das war schon ein tolles Gefühl, wenn ein Polizeiauto neben ihm angehalten habe und es hieß: ‚Guten Tag, Herr Schultze‘. Und die Aufmerksamkeit der Medien, so dass man das Gefühl gehabt habe, man könne was bewirken. Zu mir hat er gesagt, er sei geschmeichelt gewesen, als er gefragt wurde, ob er die Telefonkontakte zu Böhnhardt und Mundlos übernimmt. Und auf die Frage zur Bedeutung der Beschaffung der Waffe: ‚Ich hatte das Gefühl, dass ich was Tolles gemacht habe.‘ Da übersteigert jemand sein Selbstwertgefühl. Ich kann rückblickend nicht beurteilen, wie es um seine Eigenständigkeit gegenüber Peers bestellt war. Im politischen Handeln ist er an älteren Kameraden orientiert, lässt sich teilweise von denen führen und nimmt Aufträge entgegen, etwa den Diebstahl des Motorrads, die Akten und Ausweisdokumente aus der Wohnung von Beate Zschäpe. Da betont er auch, dass Mundlos und Böhnhardt ihn ‚Kleener‘ genannt hätten. Auf der anderen Seite hat er selbst mehrere politische Ämter bekleidet und Verantwortung gegenüber Jüngeren übernommen. Das ist meines Erachtens nach nur mit einem eigenständigen, überzeugenden Auftreten zu bekommen [phon.]. Wenn man sich abschließend nochmal die psychosexuelle Entwicklung von 13 bis 21 anschaut, treten, davon bin ich überzeugt, Verzögerungen und Beeinträchtigungen zu Tage. Die Entwicklung und Ausfüllung einer eigenen Geschlechterrolle ist eine elementare Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz.“

Und diese Zeit sei sehr prägend, so Br., das „So-tun-als-ob“ dürfe sich bei Schultze auch auf andere Lebensbereiche ausgewirkt haben, z. B. auf das Verhältnis zu den Eltern, wo der Vater das Schwulsein nicht geduldet hätte, aber auch auf Freizeit und Arbeitswelt. Br.: „Durch sein spätes Coming-Out im November 2000 fehlen authentische sexuelle oder partnerschaftliche Beziehungen bis zu diesem Zeitpunkt ganz. Erst wenige Monate vor dem 21. Lebensjahr beginnt er sich dann zu seiner Homosexualität zu bekennen. Etwa zum gleichen Zeitpunkt, wo er die rechte Szene verlässt. Der weitere Werdegang erweckt den Anschein, als ob ein neues Leben begonnen wird. Unter Abwägung aller mir bekannten Gesichtspunkte gehe ich davon aus, dass Herr Schultze zum Tatzeitpunkt nach seiner geistigen, sittlichen und seelischen Reifung und Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.“ Götzl: „Haben Sie sonst noch ergänzenden Vortrag?“ Br.: „Nein.“ Damit ist der Bericht von Br. abgeschlossen.

Götzl: „Sind denn von Seiten der Verfahrensbeteiligten heute noch Anträge vorgesehen oder Erklärungen abzugeben?“ NK-Vertreter RA Elberling regt, wie letzte Woche angekündigt, zum Thema [Zeuge Schüller, 348. Verhandlungstag] an, einen instruierten Mitarbeiter des VS Hamburg als Zeugen zu hören oder dort ein Behördenzeugnis anzufordern. Das Gelände in Hetendorf sei zwar in Niedersachsen, so Elberling, aber es sei ein Projekt von aus Hamburg gewesen, so dass der VS Hamburg die besten Informationen dazu haben dürfe.

Dann stellt NK-Vertreter RA Reinecke einen Beweisantrag. Er beantragt, 1. Chris Me., Leiter der Unternehmenskommunikation bei der dpa, Lars Fr. von der Freien Presse Chemnitz und Michael Ta., Geschäftsführer der Mediengruppe Thüringen Verlag GmbH, zu vernehmen:
Die Beweiserhebung wird ergeben, dass die dpa im Jahre 2001 über den Bombenanschlag in der Probsteigasse nicht berichtet hat. Die Beweiserhebung wird weiter ergeben, dass auf dieser Grundlage auch in Sachsen und Thüringen verbreitete Lokalzeitungen, wie insbesondere die Freie Presse und die Thüringer Allgemeine mit ihren jeweiligen Lokalausgaben und -ablegern im Jahre 2001 nicht über den Anschlag in der Probsteigasse berichtet haben.
Begründung: Durch die Beweiserhebung wird an einem weiteren Punkt deutlich, dass die Angeklagte Zschäpe in ihrer Einlassung nicht die Wahrheit gesagt hat. Die Angeklagte hat sich zu ihrer Kenntnis über den Anschlag in der Probsteigasse wie folgt eingelassen: „In den folgenden Wochen wurde nur das Nötigste gesprochen. So erfuhr ich vom Bombenanschlag in der Probsteigasse in Köln erst, als ich sie nach Berichten in der Presse darauf ansprach, ob sie etwas damit zu tun hätten. Vor der heftigen Diskussion Mitte Dezember 2000 hatte ich mehrfach mitbekommen, dass die beiden über Köln sprachen. Beide berichteten mir, dass sie die Aktion vor Weihnachten vorbereitet hätten. Uwe Böhnhardt habe die Bombe in seinem Zimmer gebaut und nach unserer intensiven verbalen Auseinandersetzung hätten sie diese nach Köln verbracht. Es war
Uwe Böhnhardt, der den Korb mit der Bombe im Geschäft deponierte, während Uwe Mundlos in Sichtweite vor dem Geschäft gewartet hatte.“

Nach dieser Behauptung will die Angeklagte also durch (mehrere) Berichte „in der Presse“ von dem Anschlag erfahren haben. Tatsächlich wurde aber – abgesehen von Zeitungen in Köln und Umgebung – über diesen Bombenanschlag gar nicht berichtet. In einer E-Mail vom 17.02.2017 teilte der Zeuge Me. dem Unterzeichner dazu bedauernd mit: „Wir haben damals direkt nach der Explosion nicht über den Anschlag berichtet. Der Grund klingt in den Ohren der Opfer vielleicht etwas zynisch, aber für die bundesweite Berichterstattung war der Vorfall einfach nicht relevant genug. Zumal die Hintergründe der Tat ja völlig unklar waren.“ Aufgrund der Beweiserhebung wird sich also herausstellen, dass die Angeklagte nicht aus „Berichten in der Presse“ auf die Probsteigasse aufmerksam geworden sein kann. Das Eingeständnis der Angeklagten Zschäpe, dass sie vom Bombenanschlag in der Probsteigasse wusste, erlaubt daher nur den Rückschluss, dass sie von vornherein in die Anschlagpläne eingeweiht war, sie nicht aus der Presse sondern unmittelbar, von Mundlos und Böhnhardt von dem Anschlag erfahren hatte, ohne dass sie diese gefragt hat.

NK-Vertreterin RAin Lunnebach: „Ich schließe mich an und weise darauf hin, dass ich ja an Frau Zschäpe die Frage gestellt hatte, wie sie vom Anschlag erfahren hatte. Diese Frage ist nicht beantwortet worden.“ Weitere NK-Vertreter_innen schließen sich an.

OStA Weingarten sagt, der GBA nehme keine Stellung zum Antrag der Verteidigung Wohlleben auf Verlesung einer Presseerklärung: „Das im Hinblick auf Ihre Verfügung von gestern.“ Dann nimmt er
Stellung zum Antrag der Verteidigung Wohlleben auf Vernehmung von weiteren Kontaktpersonen [348. Verhandlungstag]. Es handele sich um einen Beweisermittlungsantrag. Die Behauptung, die drohenden Taten seien nicht erkennbar gewesen, stelle ersichtlich ein verfolgtes Beweisziel in Gestalt einer Negativtatsache dar. Schlussfolgerungen, Meinungen oder fremdpsychische Tatsachen seien nicht Gegenstand des Zeugenbeweises. [phon.] Tatsachen, die den Schluss zuließen, fehlten im Antrag gänzlich. Es mangele außerdem an der Konnexität zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung. Es sei nicht nachvollziehbar, inwiefern die benannten Zeugen die Unmöglichkeit der Ausbildung fremdpsychischer Positivtatsachen [phon.] wahrgenommen haben können. Sie könnten allenfalls dazu Angaben machen, wie sie selbst die Gefährlichkeit von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos eingeschätzt haben. Die Zeugen wären also ein gänzlich ungeeignetes Beweismittel, so Weingarten weiter.

Ein Zeuge sei dann ein absolut untaugliches Beweismittel, wenn er zu Vorgängen aussagen soll, die sich in der Gedanken- und Gefühlswelt eines anderen Menschen abgespielt haben. Es fehle an der Darlegung von Tatsachen, die die Zeugen theoretisch überhaupt hätten wahrnehmen können. Und selbst wenn man den Antrag dahingehend auslegen wollte, dass ein doppeltes Formulierungsversehen vorliegt und dass die Zeugen bekunden sollen, dass sie persönlich die Gefährlichkeit von Mundlos und Böhnhardt nicht gesehen haben, könne ein in diesem Sinne unterstelltes Beweisergebnis die Schuld- und Rechtsfolgenfrage in diesem Verfahren nicht beeinflussen und wäre daher in diesem Verfahren tatsächlich ohne Bedeutung. Der Senat werde aus dem dann unter Beweis gestellten Umstand, dass die benannten neun Zeugen die Gefährlichkeit von Mundlos und Böhnhardt nicht erkennen konnten, keinesfalls den Schluss ziehen, dass auch der Angeklagte Wohlleben den gefährlichen Hintergrund von Mundlos und Böhnhardt nicht erkannt hat. So werde etwa diejenige Person, die vom Verlangen von Mundlos und Böhnhardt nach einer scharfen Schusswaffe weiß, mglw. zu einem anderen Schluss kommen als derjenige, der dies nicht weiß.

Hinsichtlich des Antrags auf die Einvernahme von acht weiteren Zeugen zum Beweis der Tatsache, dass Wohlleben Gewalt stets abgelehnt habe, beantragt Weingarten, dem Antrag nicht nachzukommen. Es handele sich um eine Pauschalbehauptung eines immerwährenden und unabhängig aller Sachverhaltsvarianten bestehenden inneren Zustandes. Es handele sich nicht um einen Beweisantrag im Sinne des § 244 StPO. Zwar möge es sich noch um eine bestimmte innerpsychische Tatsache handeln. Gegenstand des Zeugenbeweises könnten jedoch nur solche Umstände sein, die mit dem Beweismittel unmittelbar bewiesen werden können. In dem Antrag würden indes konkrete, von den Zeugen wahrgenommene Anknüpfungstatsachen überhaupt nicht mitgeteilt. Insofern würden auch die Vernehmungsprotokolle nicht weiter helfen. Es sei die Bringschuld des Antragstellers und nicht Aufgabe des Senats, potentiell relevante Tatsachen heraus zu destillieren. Unter Aufklärungsgesichtspunkten seien die Vernehmungen auch unergiebig. Soweit sich der Antrag darauf stütze, dass Wohlleben sich für ein „Europa der Vaterländer“ ausgesprochen habe und nicht ausländerfeindlich gewesen sei, sagt Weingarten: „Der Angeklagte Wohlleben mag sich ausdrücklich in diesem Sinne geäußert haben, es ist jedoch im Sinne des § 244 tatsächlich ohne Bedeutung, ob sich der Angeklagte Wohlleben unmittelbar für ein ‚Europa der Vaterländer‘ ausgesprochen hat und Ausländern nicht feindselig begegnet ist. Die Äußerungen Wohllebens gegenüber den acht Zeugen sowie das Fehlen ausländerfeindlicher Äußerungen sowie vorhandener achtender Äußerungen lassen im Hinblick auf seine Motive im Hinblick auf die angeklagte Handlung keine Rückschlüsse zu.“ Nach dem vorläufigen Beweisergebnis spreche nichts dafür, dass der Angeklagte Wohlleben sich ggü. den benannten Zeugen über seine Motive im Zusammenhang mit der Lieferung von Waffen an Böhnhardt und Mundlos geäußert hat. Hingegen habe sich der Angeklagte gegenüber den Angeklagten Schultze und Gerlach zur Waffenlieferung geäußert, ggf. auch gegenüber dem Zeugen . Weingarten: „Der Senat wird aus Äußerungen gegenüber den benannten Zeugen also keine Schlüsse im Hinblick auf die Motive ziehen wollen.“ Auch in der Gesamtschau der Beweisanträge ergebe sich aus den Anträgen keine Beweisbedeutung.

Zschäpe-Verteidiger RA Stahl: „Das ist ja offenbar verschriftet, was Oberstaatsanwalt Weingarten vorgelesen hat. Ob wir das vielleicht haben können?“ Weingarten: „Nicht alles, was der Generalbundesanwalt verschriftet, ist für die Verteidiger bestimmt. Wenn der Senat das wünscht müsste ich das in Form bringen und könnte das zu Protokoll geben. Initial war das nicht angedacht.“ NK-Vertreter RA Scharmer: „Der GBA hat Bezug genommen auf eine Verfügung von gestern. Die ist mir nicht bekannt.“ Götzl: „Da ging es um die Anforderung dieser Presseerklärung. Sind dann noch Anträge oder Erklärungen? Dann unterbrechen wir für heute und setzen morgen um 09:30 Uhr fort.“ Der Verhandlungstag endet um 10:56 Uhr.

Das Blog „NSU-Nebenklage„: „Heute ging es zunächst um den schon mehrfach angekündigten Beweisantrag der Verteidigung Zschäpe zu deren Verhalten in der JVA. Zur Überraschung aller teilte Verteidiger Grasel mit, der Antrag sei immer noch nicht fertig, er könne auch nicht versprechen, dass er diese Woche noch fertig werde. Nun ist ja für morgen und übermorgen erneut der Sachverständige Prof. Saß geladen, und der soll letztlich nur zu den Ergebnissen dieser Beweisaufnahme Stellung nehmen (wahrscheinlich mit dem Ergebnis, dass sie nichts an seiner Einschätzung ändert […]). Das Gericht kam daher jetzt der Verteidigung zuvor und lud kurzerhand die zuständige Abteilungsleiterin aus der Justizvollzugsanstalt Stadelheim für morgen als Zeugin – möglich, dass die Verteidigung dann auf ihre mysteriöse Zeugin ganz verzichtet oder dass ihr Antrag, so er denn noch kommt, abgelehnt wird, weil er nichts wesentlich Neues mehr verspricht. Heute gab zudem der Vertreter der Jugendgerichtshilfe eine Stellungnahme dazu ab, ob auf den Angeklagten Schultze, der bei der Übergabe der Mordwaffe 20 Jahre alt war, Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist. Er sprach sich, ähnlich wie zuvor der Sachverständige Prof. Leygraf, für die Anwendung von Jugendstrafrecht aus, und zwar auf Grund von Entwicklungsverzögerungen. […] Die endgültige Entscheidung über diese Frage wird das Gericht im Urteil treffen.“
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/02/21/21-02-2017/

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