Dieser Prozesstag beginnt mit Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft zum Beweisantrag der Verteidigung von Ralf Wohlleben, zahlreiche Zeugen zur Entlastung von Wohlleben in den Prozess zu laden. Dieser Antrag sei abzulehnen. Später verkündet Götzl den Beschluss, dass die Anträge aus der Nebenklage zum Anschlag in der Kölner Keupstraße abgelehnt werden. Zum Ende des Verhandlungstages verliest Zschäpe-Verteidigerin RAin Sturm den Antrag, Prof. Dr. Pedro Faustmann von der Ruhr-Universität-Bochum als selbst geladenen Sachverständigen zu hören.
Der Verhandlungstag beginnt um 09:49 Uhr. Götzl: „Dann geht es um Stellungnahmen zum Beweisantrag Wohlleben, Stichwort: Zeugen He. u.a. Hier hatten Sie sich Stellungnahmen vorbehalten?“ OStA Weingarten beantragt, den Antrag abzulehnen, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen für die Entscheidung aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung seien. Die Verteidigung Wohlleben habe die Einvernahmen von acht Zeugen beantragt, in deren Wissen 66 Beweisbehauptungen, je nach Zählweise zumindest 69 einzelne Sachverhalte gestellt würden. Die Verteidigung habe bereits am 16.02.2017 das Ziel verfolgt, dem Senat zweierlei nahezubringen, zum einen, dass es dem Angeklagten Wohlleben nicht möglich gewesen sei, zu erkennen, dass Böhnhardt und Mundlos die Mordtaten begehen würden, und zum anderen, dass sich Wohlleben stets gegen Gewalt ausgesprochen habe. Infolge der Ablehnung dieser Anträge vom 07.03.2017 wollten die Antragsteller dieses Beweisziel nunmehr durch eine technisch-inhaltliche Konkretisierung der ursprünglichen Anträge erreichen. Dies sei nicht zu kritisieren, es sei eine vom Gesetzgeber durchaus intendierte Möglichkeit; gleichwohl müsse der Verteidigung Wohlleben der Erfolg erneut versagt bleiben.
Die Verteidigung Wohlleben möge zur Kenntnis nehmen, so Weingarten weiter, dass eine Strategie, die darauf abziele, reihenweise Leumundszeugen zu benennen, keinen Erfolg haben könne, wenn sie fern des verfahrensgegenständlichen Lebenssachverhalts [phon.] seien. Zeugenwahrnehmungen könnten materiell dann keinen Einfluss haben, wenn sie sich nicht spezifisch auf den gegen Wohlleben erhobenen Vorwurf beziehen, sondern nur ganz allgemein auf dessen Person. Die entscheidenden Fragen, ob Wohlleben mit der Begehung ideologisch motivierter Morde gerechnet hat, und mit welcher Motivation [phon.] er die angeklagte Beihilfehandlung möglicherweise vorgenommen hat, könnten nur durch dessen innere Einstellung erklärt werden [phon.]. Was andere Personen gewusst, gewollt oder geschlussfolgert haben wollen, sei dabei prinzipiell bedeutungslos.
Sämtliche Einschätzungen stammten von objektiv bewertungsinkompetenten Zeugen, denen die vollständige Tatsachenlage eben gerade fehle, so Weingarten. Die „objektive Unbrauchbarkeit derartiger Fremdeinschätzungen“ über Wissen und Wollen Wohllebens zeige sich schon daran, dass wesentliche unter Beweis gestellte Bewertungen der Zeugen durch die Äußerungen Wohllebens selbst konterkariert würden. Zudem habe Wohlleben alle Untergetauchten persönlich getroffen. Die als erwiesen unterstellte Äußerung gegenüber We., dass er nicht wisse, wo die Drei sich aufhalten, habe sich damit bereits als Lüge erwiesen.
Auch eine Gesamtschau aller unter Beweis gestellten Einzeltatsachen ändere daran nichts, so Weingarten. Alle behaupteten tatzeitnahen Angaben Wohllebens seien doch schon allein deshalb nur Schall und Rauch, weil er sich eben doch an der Lieferung einer Waffe mit Schalldämpfer beteiligt und seine Unterstützungstätigkeit verheimlicht hat. Auf die Frage, was er sich bei der Lieferung der Waffe konkret gedacht hat, könne sich der Umstand, dass Wohlleben sich gegenüber Dritten als friedvoll und friedliebend geriert habe, daher nicht auswirken, weil er sich diesen Zeugen ggü. gerade nicht aufrichtig geäußert habe.
Götzl: „Und zum Beweisantrag Stichwort Zeuge [Maik] We.?“ Auch zu diesem Antrag nimmt Weingarten Stellung und beantragt, ihn wegen Bedeutungslosigkeit abzulehnen. Aus der von den Verteidigern Wohllebens unter Beweis gestellten Tatsache, dass We. im Jahr 2007 ein Beamter vom K1 der KPI Saalfeld mitgeteilt habe, dass eine Zusammenhang zwischen dem Mord an Michèle Kiesewetter und den sogenannten „Türkenmorden“ bestehen könnte, werde der Senat keine Schlüsse ziehen wollen. Der Antrag enthalte keinerlei Tatsachen oder Hilfstatsachen, die einen Erkenntnisgewinn vermitteln könnten. Der Umstand, dass We. von einem Unkundigen gehört habe, dass es einen Zusammenhang geben könnte, sei lediglich zu belegen geeignet, dass We. 2007 eben von einer solchen Spekulation gehört hat, deren Hintergründe dem Zeugen aber nicht bekannt seien. Dass dies irgendeinen Einfluss auf die richterliche Überzeugungsbildung haben könnte, sei nicht ersichtlich.
Götzl spricht ein Schreiben der NK-Vertreter_innen Bliwier, Dierbach, Kienzle und Top an: „Da geht es um das Selbstladungsrecht. Eine Vorabstellungnahme des Senats ist nicht vorgesehen zu Rechtsfragen. Hinweise habe ich letztes Mal schon gegeben. Soll dazu Stellung genommen werden?“ [Es geht um die Frage, ob Eyal Weizman von Forensic Architecture als SV gehört wird oder nicht.] RAin Dierbach: „Ich weiß es natürlich, dass das nicht üblich ist. Nur angesichts der Kosten, die so eine Art von Ladung auslöst, bitten wir schon darum. Sie haben Recht, es ist nicht vorgesehen, aber es ist auch nicht unzulässig nach der StPO. Es kann ja nicht sein, dass wir jemanden aus London anreisen lassen und dann wird der nicht vernommen aufgrund eines mangelnden Selbstladerechts. Wir haben deshalb nochmal Stellung genommen, um diesen Bedenken Rechnung zu tragen.“ Bundesanwalt Diemer: „Ich sehe auch nicht veranlasst, dass der Senat ohne jeden Antrag oder Anlass eine Rechtsexpertise abgibt. Das ist im Selbstladerecht angelegt und im präsenten Beweismittel, dass es einfach auf Risiko des Ladenden, dessen geht, der das prozessual betreiben will. Und dann wird sich zeigen, ob es zulässig ist oder nicht.“
Dierbach: „Ich erwarte kein Rechtsgutachten vom Senat, aber ich meine: Wir spielen doch nicht Lotto. Das ist eine ernsthafte Veranstaltung hier. Wenn es an der Ecke schon anfängt! Denn normalerweise hat der Selbstladende, in der Regel der Verteidiger, ein solches Recht, so dass die Vernehmung eines präsenten Zeugen nicht daran scheitert, dass das Selbstladungsrecht verneint wird. Und insofern gebietet es die Situation hier. Wenn der Senat der Meinung ist, ein solches Selbstladungsrecht besteht nicht, dann kann man damit umgehen. Ich verstehe nicht, in wessen Interesse das sein soll: ‚Laden Sie mal und dann sehen wir mal!‘ Und zwar vorgeschaltet der Frage [phon.]: Ist ein solcher selbstgeladener Sachverständiger überhaupt ‚präsent‘ im Sinne des 245? Das ist nicht nur sinnvoll, sondern geboten. Und das ist ganz weit weg von einer Expertise.“
Dann verkündet Götzl den Beschluss, dass die Anträge aus der NK zum Anschlag in der Kölner Keupstraße vom 351. Verhandlungstag abgelehnt werden, weil sie für die Entscheidung tatsächlich ohne Bedeutung seien.
Die Antragssteller sehen die tatsächliche Bedeutung der unter Beweis gestellten Umstände einerseits darin, dass die vom Anschlag betroffenen Personen nicht nur unter den unmittelbaren Folgen der Tat vom 09.06.2004 zu leiden hätten. Aufgrund der gegen sie selbst gerichteten Ermittlungen sowie aufgrund der durch staatliche Stellen verursachten Presseberichterstattung, die die „organisierte Kriminalität“ als Urheber des Anschlags verdächtigten, hätten die betroffenen Personen mittelbar erhebliche psychische Leiden und auch finanzielle Verluste erlitten. Die beantragte Beweisaufnahme würde demnach ergeben, dass diese mittelbaren Folgen nicht auf dem Anschlag als solchem, sondern auf der Behandlung der betroffenen Personen durch Polizei, durch andere staatliche Behörden und durch die Öffentlichkeit beruhen würden. Es erschließt sich dem Senat jedoch nicht, dass die konkret unter Beweis gestellten Umstände belegen würden, die als mittelbar bezeichneten Schäden würden auf der Behandlung der betroffenen Personen durch Polizei, durch andere staatliche Behörden und durch die Öffentlichkeit beruhen. Dass die als erwiesen unterstellten Tatsachen – also beispielsweise Betreffzeilen von Lageberichten, Weisungen des Innenministeriums, Einschätzungen in OFA-Berichten und Äußerungen eines Ministers – ursächlich oder wenigstens mitursächlich für einen mittelbaren Schadenseintritt waren, ist ein Beweisziel der Antragsteller. Die bloßen Umstände – und nur diese sind unter Beweis gestellt -, dass Polizei, andere staatliche Behörden oder die Öffentlichkeit in der bezeichneten Weise agierten, belegen aber nicht, dass auf diesem Verhalten ein mittelbarer Schaden beruht.
Andererseits sehen die Antragsteller die tatsächliche Bedeutung der unter Beweis gestellten Umstände darin, die Behörden hätten jedenfalls von Anfang an erkennen können, dass es sich bei dem Anschlag um einen mit hoher Wahrscheinlichkeit „rassistischen Terrorakt“ gehandelt habe. Die Ermittlungsbehörden hätten dies aber nicht öffentlich kommuniziert und nicht bei ihren Ermittlungen berücksichtigt. Für die Angeklagte Zschäpe sei es jedenfalls nicht vorhersehbar gewesen, dass die Ermittlungsbehörden die Geschädigten über Jahre wie Verdächtige behandeln und ein entsprechendes Bild in der Öffentlichkeit kommunizieren würden. Die beschriebenen mittelbaren Folgen dürften daher der Angeklagten Zschäpe bei der Strafzumessung nicht „strafschärfend“ zugerechnet werden. Der Senat muss nicht eingehen auf die Frage, ob die von den Antragstellern behauptete mittelbare Schädigung durch – zusammengefasst – staatliches bzw. staatlich verursachtes Verhalten überhaupt kausal verursacht wurde und ob, was die Antragsteller meinen, derartige Schädigungen dem Staat zuzurechnen seien. Unabhängig von dieser Frage kann nämlich festgestellt werden, dass diese mittelbaren Schäden für die Angeklagte Zschäpe, sollte sie wegen dieser Tat verurteilt werden, nicht vorhersehbar waren. Das von den Antragstellern in den Raum gestellte Staatsverschulden, das durch die unter Beweis gestellten Umstände belegt werden soll, ist demnach auch vor dem Hintergrund dieser von den Antragsteller verfolgten Argumentationslinie tatsächlich ohne Bedeutung.
Der Eintritt derartiger außerhalb der Tatbegehung liegender Schäden liegt im konkreten Fall außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung. Es ist nämlich nicht davon auszugehen, dass verschiedene staatliche, deutsche Stellen zum Teil sogar wider besseres Wissens Erkenntnisse bei ihren Ermittlungen und Äußerungen nicht berücksichtigten und vielmehr den unmittelbaren Opfern des Anschlags durch ihr Verhalten zum Teil gegen die eigene Kenntnislage noch weitere Schäden zufügten. Mit einem derartigen Verlauf musste die Angeklagte, Verurteilung und Durchführung der Strafzumessung unterstellt, nicht rechnen.
Götzl verkündet, dass den Anträgen zu Akten der StA Gera nicht nachgekommen wird. Es handele sich um Beweisermittlungsanträge, so Götzl. Es folgen die üblichen allgemeinen Ausführungen zu Beweisermittlungsanträgen. Dann sagt er, dass die Aufklärungspflicht nicht dazu dränge, die bezeichneten Akten beizuziehen. Die Antragsteller begehrten die Beiziehung von zwei UJs-Verfahren [Verfahren gegen Unbekannt]. Es lägen jedoch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die angeklagten Personen sowie Mundlos und Böhnhardt einzeln oder gemeinsam in die Begehung der Taten involviert waren, die Gegenstand dieser Verfahren waren.
Götzl verkündet die Verfügung, dass in Abänderung der Verfügung vom 07.03.2017 den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen bis zum 17.05.2017 gesetzt wird.
Zschäpe-Verteidigerin RAin Sturm verliest den Antrag , Prof. Dr. Pedro Faustmann von der Ruhr-Universität-Bochum als selbst geladenen SV zum Beweis folgender Tatsachen anzuhören: Das von SV Prof. Dr. Saß in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten einschließlich seiner Ausführungen auf die Vernehmung durch den Vorsitzenden und seiner Antworten auf die Befragung der Prozessbeteiligten genüge nicht den anerkannten wissenschaftlichen Standards für ein forensisch-psychiatrisches und kriminalprognostisches SV-Gutachten. Dies ergebe sich folgenden Tatsachen, die sich wiederum aus dem SV-Gutachten von Faustmann ergäben.
Der Sachverständige Prof. Dr. Faustmann ist auf die Erstattung seines Gutachtens vorbereitet, wird am morgigen Hauptverhandlungstag, dem 26.04.17, präsent sein und kann auf dieser Grundlage unmittelbar zur Sache gehört werden.
Sturm nennt die Unterlagen, die Faustmann zur Vorbereitung seines Gutachtens zur Verfügung gestanden hätten, dann sagt sie, dass Faustmann mit Schreiben der Unterzeichner vom 27.03.2017 über den zuständigen Obergerichtsvollzieher am 28.03.2017 durch Übergabe der Ladung an eine bei dem Adressaten beschäftigte und hierfür bevollmächtigte Person geladen worden sei.
Götzl: „Sollen denn Stellungnahmen erfolgen?“ Bundesanwalt Diemer: „Wir würden gern Stellung nehmen, allerdings hätten wir da gern Zeit bis morgen.“ NK-Vertreter RA Behnke: „Auch von mir, aber ich bräuchte mindestens eine halbe Stunde.“ Götzl: „Ja, gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir das auch zu morgen früh machen. Sind denn sogleich noch Anträge? Erklärungen? Keine. Dann wird unterbrochen und wir setzen morgen um 09:30 Uhr fort.“ Der Verhandlungstag endet um 15:23.
Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.
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