Protokoll 360. Verhandlungstag – 27. April 2017

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An diesem Prozesstag stellt der von der sog. „Alt-Verteidigung“ Beate Zschäpes geladene Sachverständige, Prof. Dr. Pedro Faustmann, sein methodenkritisches Gutachten zum Gutachten von Prof. Dr. Henning Saß vor.

Sachverständiger:

  • Prof. Dr. Pedro Faustmann (Forensischer Psychiater, methodenkritisches Gutachten zum Gutachten von Prof. Dr. Henning Saß)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:47 Uhr. Heute gibt es zur Begrüßung von Götzl nur ein kurzes „Guten Morgen“; normalerweise wendet sich Götzl allen Verfahrensbeteiligten zu und sagt vier oder fünf Mal „Guten Morgen“, bevor er zur Feststellung der Präsenz kommt. Anwesend sind heute wieder die Sachverständigen Prof. Dr. Henning Saß und Prof. Dr. Pedro Faustmann. Nach der Präsenzfeststellung sagt Götzl: „Dann würde ich Sie bitten, Herr Prof. Dr. Faustmann, hier vorne Platz zu nehmen.“ Faustmann wird als Sachverständiger belehrt und gibt seine Personalien zu Protokoll. Er ist forensischer Psychiater an der Ruhr-Universität Bochum. Dann sagt Götzl: „Es geht um eine Gutachtenserstattung. Ich würde Sie bitten, Ihr Gutachten zu erstatten.“

Faustmann: „Ich habe ein Gutachten erstattet, vorbereitend, aus methodenkritischer Sicht im Hinblick auf das hier im Verfahren erstattete Gutachten durch Prof. Dr. Saß, so wie es mir aus dem letzten Jahr in schriftlicher Form vorlag, dann aus dem Skript, was hier vorgetragen wurde, und mir schriftlich als Zusammenfassung vorgelegten Notizen zur Anhörung von Prof. Dr. Saß. Mit Methodenkritik ist grundsätzlich gemeint: Methodenkritik beinhaltet einerseits – und das ist üblich bei der Beurteilung von wissenschaftlichen Arbeiten -, dass man sich mit den Forschungsmethoden auseinandersetzt und man schaut, ob sich Mängel im Forschungsprozess finden, im Hinblick auf Fehler, Auswertung von Daten und Messfehler. Darüber hinaus geht es aber auch darum, sich kritisch damit auseinanderzusetzen, mit welchen theoretischen Vorannahmen, Vorhaltungen oder Vorausurteilen an ein Untersuchungsobjekt vom jeweiligen Ersteller herangegangen wurde bzw. in welcher Form die Fragestellung gefasst wurde. Dazu gehört auch: Wie sind durch den Sachverständigen im Gutachten die Rahmenbedingungen, auf die er zurückgreift, definiert und operationalisiert, aufgrund derer er zu seinen Schlussfolgerungen kommt? Welchen Rahmen gibt er sich selber, um zu einer Schlussfolgerung zu kommen? Dieser Bereich der Bedingungskonstellation ist essentiell. Und in dem Sinne habe ich mir das, was mir zur Verfügung stand, Schritt für Schritt angeschaut und geprüft, ob sich daraus Rahmenbedingungen und Schlussfolgerungen feststellen lassen. Das was Prof. Saß vorgetragen hat, liegt ja allen vor. Trotzdem will ich da Stück für Stück Bezug nehmen.“

Faustmanns Gutachten ist so aufgebaut, dass zunächst Inhalte des Gutachtens von Prof. Saß zusammenfassend wiedergegeben werden: „Es wird im Gutachten von Prof. Dr. Saß zur Methodik festgehalten, dass die Gutachtensthematik in diesem Verfahren gemäß den Hinweisen des Senats vom 29.11.2012 und 22.09.2016 die psychopathologischen Voraussetzungen für die Fragen der Schuldfähigkeit, eine evtl. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und in einer evtl. Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sind. Es wird Bezug genommen darauf, dass die im Senatsbeschluss vom 12.01.2017 genannten Mindestanforderungen der Arbeitsgruppen beim BGH aus den Jahren 2005 und 2006, an deren Entwicklung und Publikation der Sachverständige Prof. Dr. Saß mitgewirkt hat, berücksichtigt sind. Es wird weiter ausgeführt, dass Prof. Dr. Saß darauf verweist, auch an einer gegenwärtigen Arbeitsgruppe zur Revision beteiligt zu sein. Es wird darauf verwiesen, dass die Mindestanforderung Empfehlungen darstellen und nicht Leitlinien oder gar Vorschriften. Es wird des Weiteren darauf verwiesen, dass die Ausführungen der Verteidiger von Frau Zschäpe vom 20. und 21.12.2016 zu der vorläufigen Stellungnahme vom 19.10.2016 Gelegenheit geben, einige Verdeutlichungen vorzunehmen, um möglichen Missverständnissen bei der Aufnahme und Bewertung des Gutachtens entgegenzuwirken. Ich habe die Explorationsfrage ausgeklammert, weil ich mich auf das stütze, was tatsächlich im Gutachten zugrunde gelegt wurde. Es wird von Prof. Dr. Saß ausgeführt, dass er sich an Materialien auf die Beobachtung und Information aus der Teilnahme an der weit überwiegenden Zahl der Hauptverhandlungstage stütze und sich in seinem Gutachten auf Anknüpfungstatsachen aus der Hauptverhandlung beschränke. Es folgen dann Fragen von Prof. Saß zur Explorationsfrage. Das stelle ich nicht in den Mittelpunkt, diese Erläuterungen habe ich nicht kritisiert.

Hinsichtlich der Ansicht, beim Fehlen einer psychiatrischen Diagnose gehe die Zuständigkeit auf Sachverständige aus Psychologie oder Kriminologie über, teilt Prof. Saß mit, dass dies ihm ähnlich abwegig erscheine wie die Meinung, dass ohne Exploration keine Begutachtung möglich sei. Prof. Saß führt weiter aus, dass in der forensischen Psychiatrie Kenntnisse in Psychologie, Kriminologie, Rechtsmedizin und anderen Disziplinen zur Ausbildung, wie zum Praxisfeld gehören. Prof. Saß verweist auf die vor 10 Jahren gegründete Zeitschrift für forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie im Springer-Verlag, deren Mitherausgeber er ist. Saß teilt mit: ‚Auch wenn es, wie hier, um die Einschätzungen von Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmalen geht, die weitgehend im gesunden Bereich liegen, so verfügt der Psychiater über einen breiten empirischen Hintergrund hierzu. Deutlich wird das auch in der psychiatrischen Psychotherapie, wo es ja nicht nur um pathologische Störungen geht, sondern um das Erleben und Verhalten von gesunden Menschen in schwierigen, belastenden Lebensumständen oder Konflikten.'“

Faustmann kommt dann zu seiner eigenen Bewertung: „Zur Methodenkritik: Zum Fach der forensischen Psychiatrie gehören Kenntnisse in Psychologie, Kriminologie, Rechtsmedizin und anderen Disziplinen zur Ausbildung wie zum Praxisfeld. Gleichermaßen lernt der Kriminologe, Rechtsmediziner, Jurist in Strafverfahren, der Psychologe während Ausbildung und Praxistätigkeit die Grundlagen der forensischen Psychiatrie, der Psychiatrie im Allgemeinen, wie auch anderer medizinischer Disziplinen kennen. Auch der Psychiater lernt in seiner Weiterbildung das Fach Neurologie kennen, während des Medizinstudiums lernt jeder Mediziner sämtliche Fächer des medizinischen Fachgebietes im operativen und nicht-operativen Bereich, in den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin und auch in der Medizinischen Psychologie kennen. Aus diesen in Studium und Praxis erworbenen Kenntnissen außerhalb des eigenen Fachgebietes lassen sich weder Expertise auf fachärztlichem Niveau, noch im Hinblick auf eine Qualifikation als Sachverständiger ableiten. Auch die Aktivität als Mitherausgeber der Zeitschrift für forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie schreibt weder dem forensischen Psychiater entsprechende Sachverständigenkenntnisse in Psychologie und Kriminologie, noch dem Psychologen und/oder Kriminologen entsprechende Sachverständigenkenntnisse im Fachgebiet der forensischen Psychiatrie zu, jedenfalls nicht objektiv nachvollziehbar.

Es handelt sich eben um eine Tätigkeit als Mitherausgeber, und es sind z.B. für den Bereich der Psychologie und Kriminologie, andere Mitherausgeber gesondert persönlich benannt. Zur ärztlichen Facharztweiterbildung des Psychiaters gehört eine mindestens einjährige Weiterbildung im Fach Neurologie, ohne dass hier der entsprechende Facharztstandard eines Facharztes für Neurologie erreicht wird, dies gilt gleichermaßen für den Facharzt für Neurologie, der im Rahmen seiner Weiterbildung mindestens ein Jahr Weiterbildung im Fach Psychiatrie zu absolvieren hat, ohne diesbezüglich die Qualifikation eines Facharztes für Psychiatrie erworben zu haben. Aus methodenkritischer Sicht ist als Grundlage für die Erstellung eines Sachverständigengutachten im hier beauftragten Bereich die fachärztliche Qualifikation und Zusatzqualifikation und/oder durch Hochschulabschluss erworbene wissenschaftliche Fachkompetenz erforderlich. Es ist nicht richtig, dass es in der psychiatrischen Psychotherapie um das Erleben und Verhalten von gesunden Menschen in schwierigen, belastenden Lebensumständen oder Konflikten geht, wenn diese nicht einen im psychopathologischen Sinne Schweregrad an Beeinträchtigungserleben und/oder psychosozialen Auswirkungen erreichen, um im Sinne des ICD 10, z. B. unter F43.-, Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörung, klassifiziert werden können.

Dies gilt gleichermaßen im Hinblick auf die Frage des Schweregrads und der Erheblichkeit im psychopathologischen, wie im psychosozialen Bereich der Auswirkungen für den Bereich der unter F48.- klassifizierten anderen neurotischen Störung, d.h. es gilt zu prüfen, ob entsprechende Konflikte das Erleben und Verhalten eines gesunden Menschen derart im psychopathologischen Sinne und/oder im Hinblick auf psychosoziale Auswirkungen beeinträchtigen, dass es Krankheitswertigkeit im Sinne des ICD 10, wie für die beispielhaft genannten Bereich der Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörung, erlangt hat.“ Faustmann zählt mehrere unter ICD-10, F43 und F48 genannte Störungen auf. Dann fährt er fort: „Grundsätzlich muss aber festgehalten werden, dass vor einer psychiatrischen Psychotherapie eine psychiatrische Diagnose zu stellen ist.“

Faustmann weiter: „Prof. Saß nimmt Bezug auf die Mindestanforderung für Schuldfähigkeitsgutachten, bei denen es, so von Prof. Saß auszugsweise zitiert, in Abschnitt D heißt: ‚Es gehört zu einer sorgfältigen forensischen Begutachtung im psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychologischen Bereich, dass diagnostisch auch auf die Persönlichkeit und eine evtl. Persönlichkeitsstörung eingegangen wird‘. Ferner sei dort auch von akzentuierten Persönlichkeitsmerkmalen die Rede, auf die Prof. Saß noch später zurückkommen werde. Zur Methodenkritik hier: Da Prof. Saß Bezug auf Abschnitt D der genannten Mindestanforderungen nimmt, muss darauf hingewiesen werden, dass dieser Abschnitt D sich auf ‚Mindestanforderungen bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung von Beschuldigten mit Persönlichkeitsstörung oder sexueller Devianz‘ bezieht, und dass im Anschluss an den von Prof. Saß zitierten Abschnitt im Hinblick auf die von Prof. Saß angesprochenen akzentuierten Persönlichkeitsmerkmale im Abschnitt D zu entnehmen ist: ‚Die hier vorgelegten Anhaltspunkte sind immer dann heranzuziehen, wenn die Untersuchung Hinweise auf akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale und Auffälligkeiten ergibt, die unter dem Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit zu fassen sind‘.

D.h., es wird in den genannten Mindestanforderungen auf die darin enthaltene inhaltliche Ausrichtung auf Beschuldigte mit Persönlichkeitsstörung verwiesen und auf solche Personen, bei denen sich in der Untersuchung Hinweise für akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale und Auffälligkeiten ergeben, die dem Schweregrad entsprechend unter dem Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit zu subsumieren wären. Eine weitere Operationalisierung, was mit akzentuierten Persönlichkeitsmerkmalen gemeint ist, findet sich hier nicht. Der Begriff ‚Persönlichkeitsakzentuierung‘ ist auch nicht in dem von Prof. Saß im Literaturverzeichnis genannten Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie operationalisiert. Die genannten Mindestanforderungen beschäftigen sich unter I. im Abschnitt D mit der Begutachtung von Persönlichkeitsstörungen mit dem unter 1.1 erfolgten Hinweis, dass das Gutachten die Kriterien von ICD-10 oder DSM IV TR zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung berücksichtigen sollte. Es wird diesbezüglich in den Mindestanforderungen ausgeführt, dass von besonderer Bedeutung die Beachtung der allgemeinen definierten Merkmale von Persönlichkeitsstörungen in den beiden Klassifikationssystemen ist. Es wird dort unter 1.2 weiter ausgeführt: ‚Da zum Konzept der Persönlichkeitsstörung eine zeitliche Konstanz des Symptombildes mit einem überdauernden Muster von Auffälligkeiten in den Bereichen Affektivität, Kognition und zwischenmenschlichen Beziehungen gehört, kann eine zeitlich umschriebene Anpassungsstörung die Diagnose nicht begründen.‘ Unter 1.3 wird ausgeführt, dass rezidivierende, sozial deviante Verhaltensweisen sorgfältig von psychopathologischen Merkmalen einer Persönlichkeitsstörung getrennt werden müssen. Es wird darauf verwiesen, dass sich Auswirkungen von Persönlichkeitsstörungen nicht nur im strafrechtlichen Kontext zeigen.“

Faustmann: „Es wird von Prof. Saß auf die besondere Bedeutung äußerer Aspekte des individuellen Verhaltens und der beobachtbaren Interaktion mit anderen Personen bei Wahrnehmung aus der Hauptverhandlung verwiesen und ausgeführt, dass von besonderem Interesse dabei die Psychomotorik sei. So wie Prof. Saß mitteilt, wird davon ausgegangen, dass die Psychomotorik das Resultat einer Integration von psychischen und motorischen Funktionen darstellt, weshalb sich psychische Sachverhalte mehr oder weniger auch im Bewegungsspiel widerspiegeln. Es wird Bezug genommen auf die 6. Auflage des von Peters 2007 veröffentlichten Lexikons Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Dieses Lexikon liegt mittlerweile seit Ende 2016 in der 7. Auflage vor. Methodenkritisch ist festzustellen, dass es sich nicht um eine zitierfähige wissenschaftliche Originalliteratur handelt. Es ist aber auch von der inhaltlichen Sicht aus sehr differenziert dieser Abschnitt anzuschauen.

In dem von Peters vorgelegten Lexikon wird unter dem Stichwort Psychomotorik Bezug genommen auf die durch psychische Krankheiten und Störungen bedingten Auswirkungen und beobachtbaren Veränderungen in Mimik, Gestik und Motorik, insbesondere bei Psychosen. Auf die Beurteilung der Psychomotorik des nicht psychisch erkrankten oder gestörten Menschen wird nicht eingegangen. Es liegen keine operationalen Kriterien vor, auf die sich Beobachtungen und deren Bedeutungszuschreibungen wissenschaftlich begründen und nachvollziehen lassen. Dies gilt insbesondere, wenn aus den beobachteten Aspekten von Mimik, Gestik und Motorik auf emotional affektive Prozesse geschlossen wird. Eine zum Beispiel im Bereich der klinischen Psychologie international anerkannte Methodik zur Beurteilung affektiver Prozesse anhand der Mimik ist das Facial Action Coding System, welches insbesondere von Frau Prof. Dr. Bänninger-Huber vom Institut für Psychologie der Universität Innsbruck vertreten wird. Hier wird also wissenschaftlich systematisch untersucht im Rahmen von Therapieprozessen und anderen Beziehungskonstellationen, inwieweit sich Affekte aus der Mimik auch reliabel ableiten lassen.

Der Hinweis von Prof. Saß: ‚von daher ist der subjektive Charakter der Einschätzung durch den Gutachter zu betonen, die allerdings auf dem empirischen Erfahrungshintergrund jahrzehntelanger Untersuchungen und Beobachtungen im forensischen Bereich beruhen‘, dieser Ansatz ist bei fehlender, wissenschaftlicher Begründung und Nachvollziehbarkeit nicht als Basis für ein Sachverständigengutachten zu werten. Der alleinige Hinweis auf einen empirischen Erfahrungshorizont an Beobachtungen macht nicht klar, welche Basis für die eigene Einschätzung gegeben ist. Legt man allgemeine Kriterien wissenschaftlicher Arbeit zugrunde, so ist die subjektive Einschätzung von Verhaltensbeobachtungen allenfalls als Basis für eine Hypothesengenerierung zu werten, sie wird nicht durch den Hinweis auf die Entscheidung des Empfängers des Gutachtens, ob das Vorgetragene einleuchtend und überzeugend ist, im wissenschaftlichen Sinne objektiviert. Es muss dazu differenziert angemerkt werden, dass Mimik, Gestik und Motorik bei psychischen Erkrankungen und Störungen qualitativ bereits durch erhebliche Abweichungen auffallen und einer nach psychopathologischen Kriterien psychischen Befundung zugänglich sind. Schwerwiegende psychische Erkrankungen führen zu schweren Störungen des Gangbildes, z. B. schwere depressive Zustände, schizophrene Zustände, bilden sich für jeden erkennbar ab. Anders verhält es sich bei Mimik, Gestik und Motorik im Spektrum des psychisch gesunden Menschen.

Die Beurteilung hier ist im wissenschaftlichen Sinne den Fachgebieten der differenziellen Psychologie, medizinischen Psychologie und klinischen Psychologie zuzuschreiben. Hier muss im Falle der differenziellen Psychologie insbesondere zwischen Traits und States differenziert werden. Kann ich auf ein überdauerndes Merkmal schließen oder ist es eine situativ gebahnte, an den Kontext gebundene Äußerung? An dieser Stelle sei auf die bereits im Medizinstudium gelehrten besonderen Effekte im Rahmen von Interaktionen und Untersuchungssituationen verwiesen. Auch in der Allgemeinliteratur sind diese Effekte diskutiert, sie haben aber auch eine wissenschaftliche Grundlage. Gerade im Hinblick auf die ’selbsterfüllende Prophezeiung‘, bei der die Vorhersage ihre Erfüllung selbst bewirkt, und den ‚Versuchsleiter- oder Untersuchereffekt‘, bei dem das Verhalten des Versuchsleiters bzw. Untersuchers durch Nähe/Distanz, Mimik, Gestik und Äußerungen usw. das Verhalten der beobachteten Person beeinflusst.

Weiter teilt Prof. Saß mit, dass die Erhebung eines psychischen Befundes, seine Interpretation und die diagnostische Bewertung den Regeln eines wissenschaftlichen Vorgehens unterliegt und es bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung in methodischer Hinsicht um die erfahrungswissenschaftliche Untersuchung eines Einzelfalles geht: ‚Diese beruhte darauf, dass der Sachverständige über den jeweiligen, empirisch gewonnenen Erkenntnisstand des Fachgebietes verfügt und aufgrund dessen in der Lage ist, begründete Aussagen über den Einzelfall zu treffen, indem er die individuell gewonnenen Daten und Informationen in Bezug zum generellen Wissensstand des Faches setzt.‘ Methodenkritisch ist festzuhalten: Wenn unter diagnostischer Bewertung die Zuordnung zu den diagnostischen Systemen des ICD-10 und DSM zu verstehen ist, dann geht es um die Beurteilung psychischer Erkrankungen und/oder Störungen und betrifft das Fachgebiet der Psychiatrie. Wenn mit ‚Erkenntnisstand des Fachgebietes‘ das Fachgebiet der Psychiatrie, einschließlich der forensischen Psychiatrie, gemeint ist, dann bezieht sich dies eben auf die weiter oben genannte ‚diagnostische Bewertung‘, die die entsprechenden Klassifikationssysteme zugrunde legt. Der Erkenntnisstand des Fachgebietes – Psychiatrie und forensische Psychiatrie – beinhaltet nicht die außerhalb der diagnostischen Bewertungen differenziellen Beurteilungen des
psychisch gesunden Menschen. Diese Aufgabe fällt bei wissenschaftlicher Begründung in das Fachgebiet der Psychologie, hier insbesondere der differenziellen Psychologie. Es gibt eine eigene Fachzeitschrift, die sich ausschließlich den Persönlichkeitsdifferenzierungen im sogenannten Normalbereich zuwendet.

Von Prof. Saß wird auf in geeigneten Fällen standardisierte Untersuchungsinstrumente zur Einschätzung von Gefährlichkeit und Rückfallrisiken als mögliche Erkenntnisquellen bei der
forensisch-psychiatrischen Beurteilung der Kriminalprognose verwiesen. Methodenkritisch ist dazu anzumerken: Sofern diese standardisierten Untersuchungsinstrumente vom Psychiater bzw. forensischen Psychiater eingesetzt werden, so ist zunächst eine das Fachgebiet – Psychiatrie bzw. forensische Psychiatrie – betreffende diagnostische Zuordnung zu leisten.

Prof. Saß führt des Weiteren aus, dass im Hinblick auf die Gegebenheit des Einzelfalles hier ein klinisch-idiographisches Beurteilungskonzept als Ausgangspunkt angewandt wird. Methodenkritisch ist anzumerken: Grundsätzlich ist auch hier bei der Bearbeitung wichtiger
Bereiche aus der Biographie und der Persönlichkeit sowie der delinquenten Vorgeschichte und ihrer Einbettung in jeweilige biographische Zusammenhänge zunächst zu prüfen, ob und inwiefern überhaupt ein psychisches Krankheits- und/oder Störungsbild vorliegt, um dann im nächsten Schritt das klinisch-idiographische Beurteilungskonzept anwenden zu können. Es heißt ja klinisch-idiographisches Beurteilungskonzept. D.h., wenn keine psychische Krankheit und/oder Störung im klinischen Sinne vorliegt, dann ist es nicht Aufgabe des Psychiaters und/oder forensischen Psychiaters, sich mit den kriminologischen und/oder psychologischen Variablen zu beschäftigen.

Prof. Saß verweist auf die Mindestanforderung für Prognosegutachten hinsichtlich der Informationsgewinnung mit Verweis auf dortigen Abschnitt 11.1. Methodenkritisch ist anzumerken: In der genannten Publikation Mindestanforderung für Prognosegutachten ist unter ‚II.2 Diagnose und Differentialdiagnose‘ ausgeführt, dass die Erhebung der Information abgeschlossen wird mit der
Benennung einer möglichst genauen Diagnose, ’sofern ein forensisch-psychiatrisch zu beschreibender Sachverhalt vorliegt. An dieser Stelle sind auch differentialdiagnostische Optionen zu benennen. Die eingehende Diskussion der Diagnose und der ihr in diesem Fall zugrunde liegenden Sachverhalte sowie der Differentialdiagnose erfolgt dann hier oder im Rahmen der Beurteilung.‘ Dahle führt in seiner Übersicht zu den methodischen Grundlagen der Kriminalprognose u.a. aus: ‚Obwohl gesetzlich nicht explizit gefordert, dürfte Konsens darüber bestehen, dass es beim Rückgriff auf nicht juristische Sachverständige im Rahmen strafrechtlicher Entscheidungen um die Nutzung verhaltenswissenschaftlicher Expertise zum Zwecke der Verbesserung der Prognosezuverlässigkeit geht – dieser Tenor liegt auch den Mindeststandards für Prognosegutachten zugrunde.‘ Es wird auf die Grundvarianten von Prognosemethoden verwiesen, zum einen das statistische, aktuarische oder nomothetische Prognoseverfahren und auf der anderen Seite das idiographische Wissenschaftsmodell mit der retrospektiven Erklärung der individuellen Ursachen der bisherigen Delinquenz ohne Auflistung vorgegebener Einzelmerkmale und Regeln. ‚Es geht vielmehr darum, den komplexen Prozess der Urteilsbildung durch methodische Vorgaben zu systematisieren, um ihn auf eine wissenschaftlich kontrollierbare Grundlage zu heben und nachvollziehbar zu machen‘.

Prof. Dr. Saß teilt unter ‚1.2, Zusammenstellung der relevanten Informationen‘ zur gesundheitlichen
Vorgeschichte im Hinblick auf die medizinische Anamnese mit, dass sich weder aus den Akten, noch aus den Informationen in der Hauptverhandlung irgendwelche Verdachtsmomente für wesentliche Gesundheitsstörungen ergeben haben. Auch im Hinblick auf lebenssituative Belastungen – Reaktion auf den Tod der beiden Lebenspartner, Verlust der bisher gewohnten
Existenz – wird ausgeführt, dass passagere suizidale Gedanken zwanglos einfühlbar erscheinen und nicht für eine erhöhte Disposition zur psychischen Erkrankung sprechen. Des Weiteren wird ausgeführt, dass sich auch für eine klinisch bedeutsame Störung der Impulskontrolle keine belastbaren Anhaltspunkte ergeben haben. Im Hinblick auf die Frage eines problematischen Alkoholkonsums wird ausgeführt, dass sich weder Hinweise auf einen kontinuierlichen Alkoholkonsum, noch auffällige Zustände von Trunkenheit finden und keine Verdachtsmomente für ein Suchtgeschehen erkennbar seien. Diese Ausführungen sind auf der Basis festgestellter qualitativer Merkmale nachvollziehbar.

Unter 1.2.2 wird zu Biographie und früherer Entwicklung ausgeführt, dass einige Gesichtspunkte hervorgehoben werden sollen, die aus psychopathologischer und entwicklungspsychologischer Sicht von Interesse seien. Es wird ausgeführt, dass es sich bei der Formulierung ‚aus psychopathologischer und entwicklungspsychologischer Sicht‘ nicht um eine Psychopathologisierung und Psychiatrisierung des Normalen handelt. Es wird des Weiteren darauf verwiesen, dass es sich bei der Ansicht, dass bei fehlender Feststellung ‚einer Psychopathologisierung‘ das Gebiet der Psychiatrie ende, offenbar um ein grundlegendes Fehlverständnis eines Zentralbegriffs der Psychiatrie handele. Es wird ausgeführt, dass Psychopathologie nicht die Bezeichnung für eine Erkrankung oder psychische Störung sei, so dass ‚eine Psychopathologie‘ auch nicht fehlen könne. Psychopathologie stelle vielmehr die Lehre von der Erkennung, Beschreibung und Ordnung abnormer seelischer Phänomene dar. Dies geschehe vor dem Hintergrund der Kenntnis des gesamten Seelenlebens in seinen gesunden, wie in seinen gestörten Formen. Es sei Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, bei der Untersuchung auf Abnormes auch die Überlappungsbereiche in das nicht krankhaft veränderte Seelenleben zu prüfen.

Dies geschehe auch unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte des Normalen, wie auch der gestörten Entwicklung der Persönlichkeit. Methodenkritisch ist festzuhalten, dass an dieser Stelle nicht mitgeteilt wird, was mit entwicklungspsychologischen Aspekten gemeint ist und ob und wenn ja, welches Modell der Entwicklungspsychologie zugrunde gelegt wird: Banduras Theorie des Sozialen Lernens, Freuds Phasen der psychosexuellen Entwicklung, Piagets Stufenmodell oder Kohlbergs Modell der Entwicklung der Moral. Wenn man Entwicklungspsychologie als Terminus erwähnt, muss man die Frage stellen: In welchem Kontext? Welche Teile der Entwicklung sollen hier zugrunde gelegt werden? Des Weiteren ist festzustellen: Wenn man das von Prof. Dr. Saß zitierte Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie von Peters zugrunde legt, so ist die dortige Definition so operationalisiert, dass sie die ‚Lehre von den Leiden der Seele‘ bezeichnet: ‚Die Psychopathologie kann sich verstehen als die Wissenschaft von der Anwendung psychologischer Denkkategorien auf psychische Krankheiten bzw. psychisch Kranke.‘

Prof. Saß teilt weiter mit: Unter dem einleitenden Satz ‚zurück zur Biographie von Frau Zschäpe‘ folgen zunächst chronologische Abhandlungen und Fakten zur Lebensgeschichte. Es wird mit Hinweis auf eine in diese Darstellung von Frau Zschäpe eingeflochtene kleine Bemerkung, ‚dass sie wegen der Geldknappheit damals begonnen habe, sich innerhalb des Freundeskreises an kleineren Diebstählen zu beteiligen‘ ausgeführt, dass es hier für den psychiatrischen Beobachter so aussehe, als zeige sich zum ersten Mal eine gewisse Tendenz von Frau Zschäpe, die Verantwortlichkeit auf
auftretende Probleme und eigenes Verhalten, wie auch Fehlverhalten anderen Personen oder Umständen zuzuordnen: ‚Im Übrigen gibt es hinsichtlich der ‚kleineren Diebstähle‘ offenbar auch eine deutliche Tendenz zum Bagatellisieren, also zum Herabspielen der damaligen Handlungen durch Frau Zschäpe, sofern davon auszugehen ist, dass die Schilderungen des Zeugen Re. im Großen und Ganzen zutreffend waren‘. Es wird ausgeführt, dass diese Formulierung vom Referenten mit Bedacht gewählt wurde und der Tatsache Rechnung tragen soll, dass es sich beim Externalisieren und Bagatellisieren nicht um objektiv messbare Befunde handelt, sondern um eine Einschätzung durch den Untersucher. ‚Ob sie plausibel ist, wird damit ausdrücklich der Beurteilung des Lesers oder Adressaten des Gutachtens überlassen.‘

Methodenkritisch ist festzuhalten: Wenn man zugrunde legt, dass es bei Anwendung eines idiographischen Wissenschaftsmodells weniger um die Auflistung vorgegebener Einzelmerkmale und Regeln gehe, sondern darum, den komplexen Prozess der Urteilsbildung durch methodische Vorgaben zu systematisieren, um ihn auf eine wissenschaftlich kontrollierbare Grundlage zu heben und nachvollziehbar zu machen, so entzieht sich Prof. Saß diesem wissenschaftlichen Auftrag, wenn er darauf hinweist, dass die Plausibilität seiner Einschätzung als Untersucher ausdrücklich der Beurteilung des Lesers oder Adressaten des Gutachtens überlassen wird. Es ist nicht richtig, dass es sich beim Externalisieren und Bagatellisieren nicht um objektiv messbare Befunde handelt. In der Psychologie ist durch Operationalisierung und Prüfung der Testgütekriterien auch die objektive Messung von Externalisieren und/oder Bagatellisieren möglich. Methodenkritisch ist zudem anzumerken, dass dann, wenn aus der in einem zeitlichen und situativen Rahmen beschriebenen Erlebens- und Verhaltensweisen einer Person – State-Merkmal – auf eine Eigenschaft, hier nämlich die Verantwortlichkeit für auftretende Probleme und eigenes Verhalten, wie auch Fehlverhalten anderen Personen oder äußeren Umständen zuzuordnen, wie auch die Zuschreibung einer deutlichen Tendenz zum Bagatellisieren, abgeleitet wird, so muss dies im wissenschaftlichen Sinne als zu prüfende Hypothese formuliert werden. D.h., es muss geprüft werden, ob die hier von Prof. Saß auf der Basis der genannten Anknüpfungen geleistete Schlussfolgerung im Verlauf durch weitere Erlebens- und Verhaltensbeobachtungen oder Feststellungen gestützt oder verworfen werden muss im Sinne eines überdauernden Merkmals der Persönlichkeit.

Bei Prof. Saß folgt im Weiteren die Einschätzung: ‚Dagegen scheint die Beziehung zur Mutter weitgehend durch Enttäuschung, Ablehnung und Desinteresse gekennzeichnet zu sein, wobei es wohl zumindest in der Vergangenheit auch Züge einer gewissen Rigorosität und Unversöhnlichkeit gegeben hat. Für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Ich-Identität dürften die genannten Bedingungen bei dem jungen Mädchen und der Heranwachsenden eine gewisse Belastung bedeutet haben.“ Weiter heißt es auf Seite 15, mittlerer Abschnitt: ‚zu den wunden Punkten in der eigenen Herkunftsfamilie gehörte wohl auch“. Diese Formulierungen entziehen sich der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit, da sie nicht hypothesengeleitet formuliert sind, sondern so offen formuliert sind, dass der Leser hier grundsätzlich nur zustimmen kann, aber nicht weiß, welchem Inhalt er hier eigentlich zustimmt, da nicht klar ist, in welcher Weise die genannten Aspekte der Beziehung zur Mutter für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Ich-Identität bei dem jungen Mädchen und der Heranwachsenden eine gewisse Belastung bedeutet haben. Es ist nicht klar, was mit ‚wunden Punkten‘ gemeint ist.

Prof. Saß teilt anhand der Zeugnisse mit, dass sich daraus, wie aus den sonstigen Informationen die Einschätzung ableiten lasse, dass die Intelligenz der Probandin wohl im Durchschnitt liege. Die hier durch Prof. Saß geleistete Feststellung einer wohl im Durchschnitt liegenden Intelligenz der Probandin wird als überdauerndes Merkmal durch den schulischen Werdegang, die Zeugnisse, einschließlich Abschlusszeugnis sowie eine nach der Schule erfolgte Gärtnerinnenausbildung begründet. Das ist nachvollziehbar. Es folgen von Prof. Saß Angaben zum beruflichen Werdegang und zur Selbstdarstellung mit der Bewertung letzterer Ausführung aus psychiatrischer Sicht im Sinne einer nüchtern, sachlich, emotionsarm und unpersönlich wirkenden schriftlichen Schilderung. Es wird insgesamt als Schlussfolgerung festgehalten, dass die genannten Umstände nicht als Hinweise auf gravierende soziale Belastungen und Defizite oder eine psychische Gestörtheit zu werten sind. Methodenkritisch ist festzuhalten, dass auf der Basis der mitgeteilten Inhalte dieser psychiatrischen Einschätzung zu folgen ist.

Dann folgen auf Seite 17/18 unter dem Aspekt der Sozialkontakte von Frau Zschäpe Wiedergaben von Zeugenaussagen und es folgt am Ende des ersten Absatz auf Seite 18 die Feststellung: ‚Die Art,
wie Herrn Re. etwa die gemeinsam von Beate Zschäpe und ihrem Freund Ri. angeblich begangenen Einbrüche oder Zigarettendiebstähle bei Vietnamesen schildert, deutet auf beginnende dissoziale Tendenzen bei der Heranwachsenden zur damaligen Zeit.“ Dieser Formulierung ist an dieser Stelle wissenschaftlich nicht überprüfbar. Sie ist suggestiv. Wenn ich etwas als beginnend festhalte, nehme ich vorweg, dass etwas nachfolgend festgestellt wird. Des Weiteren ist der Begriff dissoziale Tendenz nicht operationalisiert, d.h. nicht abgegrenzt vom Begriff der Dissozialität oder von den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend, hier speziell den Störungen des Sozialverhaltens.

Anknüpfend folgt im nächsten Absatz der Hinweis, dass in ähnliche Richtungen die Beschreibung anderer Zeugen gehen, die sich in der Hauptverhandlung zu Eigenschaften und Verhalten von Frau Zschäpe geäußert haben: ‚So beschreibt der Zeuge sie als relativ heiter, in seinen Augen nicht besonders intelligent, aber mit einer gewissen Bauernschläue‘. Es ist nicht klar, was mit ‚in ähnliche Richtungen‘ gemeint ist, der konkrete Bezug ist nicht nachvollziehbar, und es ist auch nicht klar, um welche konkreten Beschreibungen anderer Zeugen es sich hier bzgl. der Eigenschaften und Verhaltensweisen von Frau Zschäpe handelt. Es ist auch nicht klar, ob und inwiefern die Beschreibung des Zeugen Christian Kapke im Hinblick auf eine gewisse Bauernschläue der Frau Zschäpe als Beleg für die zuvor benannten, beginnenden dissozialen Tendenzen verstanden werden soll.“ Götzl: „Machen wir fünf Minuten Pause.“

Um 10:59 Uhr geht es weiter. Faustmann setzt fort: „Es folgen ab Seite 19, Absatz Mitte, Ausführungen zu Zeugenaussagen im Hinblick auf die Partnerschaften der Frau Zschäpe sowie auch das Referat eigener Äußerungen der Frau Zschäpe zu Partnerschaften. Da ist methodenkritisch nicht klar und nachvollziehbar, in welchem gutachterlichen Kontext diese zuschreibende Wertung einer Erklärung und Äußerung als interessanterweise bzw. bemerkenswert erfolgt. Im vorletzten Absatz, Seite 21, heißt es in den beiden letzten Sätzen: ‚ein solches Verhalten kann für ihre starke Bindung an Uwe Böhnhardt sprechen. Möglich erscheint aber auch, dass es sich um eine
Kaschierung anderer Beweggründe durch die Konstruktion einer mehr oder weniger plausiblen Version gehandelt hat‘. Bei fehlenden sicheren Anknüpfungen ist dieser alternativ wertenden Einschätzung zu folgen.

Auf Seite 22 im letzten Absatz unten, letzte Zeile, findet sich der Satz: ‚wenn Frau Zschäpe formulierte, man könne sagen, ohne wären diese ganzen Untersuchungen [gemeint ist vermutlich Unternehmungen — NSU-Watch]nicht möglich gewesen, so findet sich hier erneut die Tendenz, auf eine Außenverursachung hinzuweisen‘. Methodenkritisch: Diese Formulierung ist im wissenschaftlichen Sinne nicht hypothesengeleitet, sondern für sich tendenziell, d.h., das Ergebnis vorwegnehmend. Sie knüpft inhaltlich an der Formulierung auf Seite 13, untere Hälfte an: ‚Hier sieht es für den psychiatrischen Beobachter so aus, als zeige sich zum ersten Mal eine gewisse Tendenz von Frau Zschäpe, die Verantwortlichkeit für auftretende Probleme und eigenes Verhalten, wie auch Fehlverhalten anderen Personen oder äußeren Umständen zuzuordnen.“ Es wird von Prof. Dr. Saß außer Acht gelassen, dass es faktisch so hätte sein können, dass ohne Tino Brandt diese ganzen Unternehmungen nicht möglich gewesen wären. Es ist zudem aus methodischer Sicht kritisch anzumerken, dass die Formulierungen auf Seite 13, ‚als zeige sich zum ersten Mal eine gewisse Tendenz‘ als vorwegnehmende Wertung suggestiv ist, und die Formulierung auf Seite 22, letzte Zeile, ’so findet sich hier erneut die Tendenz‘ bei fehlendem Hinweis auf eine Alternativmöglichkeit im Faktischen ebenfalls suggestiv ist. Der Begriff Tendenz ist nicht operationalisiert. Im statistischen Sinne kann bei einem nicht signifikanten Unterschied – Irrtumswahrscheinlichkeit nicht SV mit 12 Merkmalen, und mit welcher Begründung die 3 von 20 oder 3 von 12 genannten ‚psychopathischen Persönlichkeitsmerkmale‘ ausgewählt wurden. In der ursprünglichen Version von Robert Hare wird das Psychopathy-Konzept so beschrieben, dass es um einen chronisch-instabilen, antisozialen und sozial abweichenden Lebensstil geht. Es gibt aber eine ganze Reihe nachfolgender Publikationen, z. B. das Drei-Faktoren-Modell von Cooke und Mitchie: Arrogantes und auf Täuschung angelegtes menschliches Verhalten, gestörte Affektivität, impulsive und verantwortungslose Verhaltensmuster. Die Publikation von Habermeyer und Saß aus 2004 bezieht sich auf zwei Publikationen von Hare aus 1991 und 2000. Die 2001er-Arbeit von Cooke und Mitchie ist hier nicht referiert und wenn man sich die Lehrbuchliteratur von Nedopil anschaut, ist hier Weiteres aufgeführt, es werden neun Publikationen von Robert Hare gelistet, die letzten beiden aus 2008 und 2009.

Es ist nicht klar, auf welchen Stand der PCL das jetzige Gutachten Bezug nimmt. Das aktuellste Modell, was mir bekannt ist, ist ein Vier-Faktoren-Modell. Es ist aber auch anzumerken, dass der Gebrauch der PCL-R auf die Gruppen beschränkt ist, für die eine vollständige Validierung vorliegt. Das Verfahren ist nicht auf Jugendliche und Frauen anwendbar. Im Hinblick auf Frauen gibt es von Hare keine großen Studien, aber Übersichtsarbeiten mit dem Ergebnis, dass es sich von Männern unterscheidet. Das ist wieder das Problem der Bedingungskonstellationen, der Voraussetzungen, mit denen ich eine Fragestellung bearbeite. D.h.: Wie ist der Beziehungsrahmen meines eigenen Wissens in der Herangehensweise an diese Frage? Und da gehört eben die Betrachtung der Grundgesamtheit in besonderer Weise dazu. Man kann es an einem Beispiel verdeutlichen: Es gibt eine klassische Depressionsskala, die ist eben für die Beurteilung des Schweregrads auf der Selbstbeurteilungsebene für endogene Depressionen validiert. Wenn sie diesen Bogen Menschen mit Multipler Sklerose geben, werden sie auch einen erhöhten Depressivitätswert feststellen. Das liegt aber daran, dass die körperlichen Beeinträchtigungen, die auch für Depression sprechen, dort aufgrund körperlicher Erkrankung vorliegen und nicht aufgrund psychischer Beeinträchtigung. Das muss streng getrennt werden von den Effekten der körperlichen Einschränkungen. Sie müssen bereinigt werden, sie können nicht ohne weiteres übertragen werden.

Hinzu kommt, dass die Kriterienliste von Habermeyer und Saß nicht validiert ist. Es liegen keine Daten zur Objektivität und Reliabilität vor und auch die Gewichtung der einzelnen Kriterien ist nicht klar. Wir wissen nicht, ob Kriterium 1 stärker zu bewerten ist als Kriterium 3, es ist nicht klar, ob sie gleichermaßen bewertet werden. Und es liegt auch kein Cut-Off-Wert vor im Hinblick auf eine Summenbildung. Und es werden in der Beurteilung protektive Faktoren der Resilienz nicht genannt. Also: Welche Faktoren liegen vor, positive Aspekte im Lebensverhalten, die gegen Antisozialität und Dissozialität sprechen könnten. Als Hintergrundinformation verweise ich auf die große Arbeit, die im ‚Nervenarzt‘ veröffentlicht wurde, 2008, von Habermeyer und Kollegen in den ‚Fortschritten in der Neurologie und Psychiatrie‘. Es handelt sich um die Ergebnisse eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes mit empirischen Daten zu Untergebrachten in der Sicherungsverwahrung, Zeitfenster 1991 bis 2001. Also bevor die Hangkriterien 2004 im ‚Nervenarzt‘ publiziert wurden. Von den 224 Probanden waren 223 männlich und die Mehrzahl der Anlasstaten, die zur Sicherungsverwahrung führten, waren Sexualdelikte. Die Gutachten waren sehr heterogen, die zeigten bei 48 die sichere Feststellung einer dissozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung und bei 40, dass auf so eine Störung zu schließen wäre. Also 88 Personen. Es kamen weitere 30 dazu, die als narzisstische Persönlichkeitsstörung einzuschätzen waren.

Auf die Kriterien von Habermeyer und Saß wird in der Publikation, die 2008 erschien, im einzelnen nicht Bezug genommen. Es wird ausgeführt, dass sich die von Habermeyer und Saß als ‚psychiatrische Umschreibung von Hangtäterschaft‘ geforderte ‚zeitlich stabile persönlichkeitsgebundene Bereitschaft‘ zur Begehung erheblicher Straftaten an einer im Jugendalter bzw. bis zum 21. Lebensjahr beginnenden Delinquenz und einer hohen Anzahl von Vorstrafen gezeigt habe. Im Hinblick auf die aktuellen Diskussionen und Daten gibt es von Habermeyer selbst einen Diskussionsbeitrag zur Frage der Zuständigkeit der forensischen Psychiatrie für die Sicherungsverwahrung. Und von Habermeyer wird das Kontra vertreten. Es ist von ihm festgehalten, dass ‚beim weitaus überwiegenden Teil der Sicherungsverwahrten eine psychiatrische Diagnose gestellt werden kann. Dabei handelt es sich aber nahezu regelhaft um eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung und bislang existieren keine hinsichtlich ihrer Wirksamkeit empirisch belegte therapeutische Konzepte zur Behandlung dieser Störung.‘

Prof. Saß führt zu den Behandlungsaussichten aus, dass versucht werden müsste, ‚das biographische Material in gesprächstherapeutischen Aktivitäten mit der Probanden aufzuarbeiten, um nach und nach einen Verstehenshintergrund zu erarbeiten, der dann Ausgangspunkt für Veränderungen in Einstellungen und Verhalten werden kann.‘ Zur Methodenkritik: Bei fehlender psychiatrischer Diagnose wird keine Indikation für eine psychiatrische Psychotherapie gesehen. So viel zunächst zu den einzelnen methodenkritischen Punkten.“

Götzl: „Könnten Sie uns denn zu Ihrer Ausbildung im Hinblick auf Ihre Sachverständigentätigkeit Ausführungen machen?“ Faustmann: „Ich habe Medizin studiert an der Uni Essen und von 1978 bis 1985 mit Wahlfach Neurologie im Praktischen Jahr. Ich habe parallel Psychologie studiert, Hagen und Essen, bis zum Abschluss des Grundstudiums, wobei das nicht formal abgeschlossen werden konnte, weil es nicht möglich war in zwei NC-Fächern zu studieren, so dass es nicht gegeben war. Ich habe das dann über den Fachbereich Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkten Sozialpsychologie, Psychologie der Angst, Klausuren, Scheine etc. gemacht. So dass ich mich von der Seite her bereits während des Studiums mit Fragestellungen der Grundlagenforschung vertraut gemacht habe. Ich habe parallel dazu in der Neuroanatomie gearbeitet und dort auch promoviert. Ich habe dann zwei Jahre in einer neurologisch-psychiatrischen Klinik in Essen gearbeitet, die 1925 vom Vater meines Chefs gegründet worden ist. Mein damaliger Chef, Prof. Segerath, hat mich sehr geprägt und ich habe bereits 1995 die Gutachtertätigkeit aufgenommen. Ich habe ihn oft begleitet zu Gericht als junger Assistent und habe weiterhin immer noch persönlichen Kontakt zu Herrn Segerath.“

Faustmann macht weitere ausführliche Angaben zu seinem Werdegang. Er verweist u.a. darauf, dass er parallel zu seinen Tätigkeiten und Weiterbildungen weiterhin gutachterliche Tätigkeiten ausgeübt habe, überwiegend im Bereich der Versicherungs- und Sozialgerichtsbarkeit, aber auch im Bereich der forensische Psychiatrie mit der Frage der Schuldfähigkeit und Prognosebeurteilung. Er habe sich, so Faustmann u.a.auch neurologisch weiter qualifiziert, und im Hinblick auf die Methodenlehre die medizinische Sachverständigenausbildung gemacht, „die in Deutschlands umfassendste“. Schwerpunkt sei hier das methodische Trainieren im Kontext von Medizin und Recht. Faustmann schließt diese Ausführungen mit: „Was möchten Sie noch?“ Götzl fragt nach der Anzahl der Gutachten Faustmanns im Prognosebereich. Faustmann sagt, er habe ein sehr breites Spektrum, das sich über die Zeit verändert habe, er habe Schuldfähigkeitsgutachten erstellt und neurologisch-psychiatrische und Prognosegutachten. Insgesamt habe er ca. zweieinhalbtausend Gutachten erstellt. Faustmann führt auf, an welchen Gerichten er Gutachter ist. Er habe zwischen 30 und 40 Gutachten zur Prognose erstellt, die Zahl der Gutachten zur Schuldfähigkeit könne er nicht überblicken im Moment. Im Hinblick auf die Methodenlehre sei er seit über 20 Jahren trainiert. Faustmann führt im Weiteren u.a. aus: „Zur 66er-Maßregel habe ich bisher zu keinem Zeitpunkt die Fragestellung bearbeitet bei einer Frau, das kommt einfach zu selten vor.“

Götzl sagt, Faustmanns Anhörung werde für heute unterbrochen, als Zeitpunkt der Fortsetzung sei der 16. Mai, 09:30 Uhr, vorgesehen. Götzl: „Dann darf ich mich für heute bedanken.“ Zschäpe-Verteidiger RA Heer sagt, dass er und seine Kolleg_innen Sturm und Stahl beantragen, das Gericht möge anordnen, dass die gesetzliche Entschädigung aus der Staatskasse zu gewähren ist, wegen Sachdienlichkeit. Götzl: „Sollen Stellungnahmen erfolgen?“ Bundesanwalt Diemer: „Nicht sofort.“ Götzl: „Herr Rechtsanwalt Hoffmann, Sie hatten sich eine Stellungnahme vorbehalten zum Beweisantrag der Verteidigung Wohlleben. Soll die noch abgegeben werden?“ NK-Vertreter RA Hoffmann: „Nein.“ Götzl: „Wären denn ansonsten noch Stellungnahmen oder Anträge?“ Niemand meldet sich. Götzl: „Dann setzen wir fort am kommenden Mittwoch, 03. Mai, 09:30.“
Der Verhandlungstag endet um 11:49 Uhr.

Das Blog „NSU-Nebenklage„: „Der ganze Streit der letzten Tage um die Frage, ob der von den AltverteidigerInnen Zschäpes geladene Prof. Faustmann nun als Sachverständiger gehört wird oder nicht, ein Streit, der zu vielen Spekulationen geführt hatte, blieb ein bloßer Sturm im Wasserglas. Der Vorsitzende Richter Götzl sprach zu Beginn der heutigen Verhandlung den Streit nicht einmal an, sondern forderte Prof. Faustmann einfach auf, Platz zu nehmen, belehrte ihn als Sachverständigen und bat ihn, sein Gutachten vorzutragen. Im Anschluss las dieser zwei Stunden lang sein Gutachten vor, das bereits am Dienstag mit dem Antrag der AltverteidigerInnen an alle Prozessbeteiligten verteilt worden war. […] Der teilweise erwartete Showdown der Gutachter entfiel damit. […] Natürlich hat [Faustmann] einige […] Stellen im Gutachten des Sachverständigen Prof. Saß gefunden, die methodisch unklar erscheinen, und natürlich kann auch insgesamt die teilweise pseudowissenschaftliche Erstellung von Prognosegutachten – wie sie in anderen Verfahren auch Prof. Faustmann betreibt – kritisch hinterfragt werden. Aber nach den vor Gericht gängigen Maßstäben erscheint es eher zweifelhaft, dass es Faustmann gelingen wird, die Seriosität des Gutachtens von Prof. Saß zu erschüttern. Der relativ dröge Vortrag vom heutigen Tag hat dies jedenfalls schon einmal nicht geschafft. Vom inhaltlichen abgesehen, wirkt natürlich nach dem unspektakulären Eintritt in den Verhandlungstag heute das gestrige Schauspiel umso absurder. Natürlich hätte diese Sachverständigenanhörung bereits am gestrigen Verhandlungstag erfolgen können, hätte man tatsächlich die Beschleunigung des Verfahrens im Sinn gehabt.“
https://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/04/27/27-04-2017/

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