Reihe: Ortstermin von Katrin Viezens aus dem Erzgebirge
Ich wollte Zeugin eines historischen Prozesses sein, die Gesichter aus TV und Zeitungen sehen und – vielleicht – verstehen. Es sind der 24. und 25.04.2017, an denen ich den NSU Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München besuche.
Viele Projekttage habe ich als NDC-Teamerin über die Strategien und Gefahren, die von Neonazis ausgehen und über den NSU-Komplex in Chemnitz und im Umland gehalten. Ich habe viel gelesen, die einschlägigen TV-Dokumentationen geschaut und mich auf Fachtagungen darüber ausgetauscht. Der Besuch in München hat mir noch einmal andere Perspektiven auf den NSU-Komplex eröffnet.
Dass es am OLG ernsthaft zugeht, zeigt sich schon am Einlass. Wer die strikten Vorschriften nicht kennt, lernt sehr schnell die resolute Art der Vollzugsbeamt*innen und der Polizist*innen kennen: im leeren Zelt vor dem Haupteingang zum Strafjustizzentrum in der Nymphenburgerstraße warten, bis mensch zum Einlass gebeten wird, Perso gescannt, Personenkontrolle mit Leibesvisitation (Ist es üblich dabei, dass frau in den Schritt gefasst wird von der ausführenden Beamtin?), Tasche und Jacke abgeben, ein Block mit Stift und ein Brötchen sind ok, und auf geht’s zur Empore des Gerichtssaals.
Der Gerichtssaal ist ein Kosmos für sich, klein und abstrakt ohne natürliches Licht, die Luft wird schnell sehr dünn. Rechts sitzen die Besucher*innen, es sind viele Plätze frei. Links die Pressevertreter*innen, die mit ihren Tastaturen klackern. Hinter uns die Beamt*innen, die uns beobachten und auch schon mal dabei einschlafen.
Der Gerichtssaal und auch die Prozesstage haben etwas von einem Schauspiel, wo die einzelnen Akteur*innen versuchen, Aufmerksamkeit und Beachtung zu finden. Skurrile Diskussionen werden zu Beginn geführt: Nein, das FBI oder CIA waren nicht zusammen mit einem türkischen Doppelagenten beim Mord an Kiesewetter beteiligt, die vielen Zeug*innenaussagen von Wohlleben, er sei ein gewaltablehnender Mensch werden als „Schall und Rauch“ von der Bundesanwaltschaft bewertet. Diskussionen um die Form einer Stellungnahme strecken sich über den Vormittag und es werden einige Pausen gemacht. (Wer braucht für wenige A4 Seiten mehr als 2 Stunden, um diese abzutippen und zu kopieren?)
Was ist hier nur los?
Heute ist der 10.Todestag der Polizistin Michèle Kiesewetter, die am 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese erschossen wurden. Ihr Kollege Martin A. sollte auch sterben: Er überlebte den Kopfdurchschuss wie durch ein Wunder. Was sagt das über eine Gesellschaft aus, dass wir im 4. Jahr des Prozesses solche belanglosen Fragen diskutieren? Es sind 10 Menschen gestorben, viele verletzt und traumatisiert worden durch den NSU und: Was wissen wir denn schon wirklich, was da passiert ist? Es fällt schwer, während in Amtssprache seitenlang Paragraphen vorgelesen werden, nicht wütend aufzustehen und genau dies zu fragen.
Das Böse ist banal, es ist wie du und ich
Das ist mein Eindruck von den Angeklagten, die neben ihren Verteidiger*innen Gummitierchen essen, mit ihrem Tablet spielen oder kurzfristig einschlafen, während verhandelt wird, und wenig berührt sind von dem, was im Gerichtssaal passiert. Reden müssen sie nicht, dass macht die Verteidigung.
Routiniert erscheinen alle Beteiligten, ob Presse, Beamt*innen, Verteidigung, Nebenklage oder Angeklagte. Es ist wirklich ein Kosmos, in dem die Grenzen unserer Gesellschaft mit Amtssprache diskutiert werden. Der Prozess hat wenig mit einer adäquaten Aufklärung der Morde, einem angemessenen Täter-Opferausgleich oder dem Schutz demokratischer Grundrechte zu tun. Das zeigt sich u.a. darin, dass tiefergehende Fragen nach weiteren Akteur*innen im NSU-Komplex kaum zugelassen werden.
Mit gemischten Gefühlen verlasse ich das Gericht, es erscheint mir makaber, ich fahre eine Station mit der U-Bahn und bin in einer Shopping-Mall, wo mir Menschen mit vielen Einkauftüten entgegenkommen. In meinem Kopf kommen Fragen aus meinen Projekttagen hoch: „NSU? Kenne ich nicht“; „Die sind doch alle gestorben, außer die Frau mit den langen Haaren!“; „Was soll denn der NSU mit mir zu tun haben?“; „Der NSU ist doch nicht mehr aktuell, erzählen Sie doch mal was zur aktuellen Nazi-Szene oder zu Geflüchteten in Sachsen.“
Mit dem Prozessbesuch habe ich eine so sehr abgegrenzte, hermetische Welt betreten, dass ich mich frage, inwieweit dieser Prozess eine Außenwirkung haben und gesellschaftlich nachhaltig etwas verändern und Bewegung bewirken kann, die sich gegen Neonazis, strukturellen Rassismus und menschenverachtende Einstellungen innerhalb der Gesellschaft richtet. Das Potential hätte der Prozess doch. Denn er verdeutlicht sehr gut, dass es eben kein Hufeisenmodell der Gesellschaft gibt, an dem abgetrennte „extremistische“ Randgebiete existieren. sondern vielmehr, dass unsere Gesellschaft aus ihrer Mitte heraus erst die Möglichkeit schafft, dass sich der NSU bilden und handeln konnte.
Was können wir dagegen tun? Die Antwort ist simpel und nicht neu. Es liegt an uns, also engagiert euch! Raus aus den Shopping-Malls und zieht euch nicht in die subkulturellen Komfortzonen alternativer Großstadtteile zurück, sondern bildet neue Mehrheiten in Regionen, wo es bisher nur wenige einzelne Personen gibt, die Menschen wie etwa den Angeklagten André Eminger entgegenstehen. Skandalisiert Alltägliches und schafft öffentliche Transparenz, auch wenn es nur scheinbare „Kleinigkeiten“ sind wie sexistische Kommentare von Arbeitskolleg*innen. Die Angeklagten vom NSU fallen nicht einfach vom Himmel, sondern sie kommen aus unserer Gesellschaft.