von Jan Schedler, Sozialwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und promoviert zum Rechtsterrorismus
Der NSU-Prozess zählt ohne Zweifel schon jetzt zu den bedeutendsten Strafprozessen in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Ziel dieses Beitrages ist es, anknüpfend an die Beobachtung eines konkreten Verhandlungstags einen Eindruck des Prozesses zu vermitteln und Kritikpunkte am bisherigen Verlauf zu formulieren. Im Zuge dessen wird das Spannungsfeld von juristischer Aufarbeitung und gesellschaftlichem Aufklärungsbedürfnis ausgelotet.
Mittwoch, 11. Februar 2015 – 185. Prozesstag
Die Hauptverhandlung ist für heute beendet. Morgen geht es 9.30 Uhr weiter, business as usual für diejenigen, die den Prozess vom ersten Tag an begleiten und dokumentieren, wie die zahlreichen Journalistinnen und Journalisten und die Initiative NSU-Watch. Deren detaillierte Protokolle der Verhandlungstage hatte ich gelesen, und als Sozialwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt extreme Rechte hatte ich gedacht, vorbereitet zu sein auf das, was am Münchner Oberlandesgericht ablaufen würde. Nicht zuletzt hatte ich auch mit einer ganzen Reihe von Bekannten gesprochen, die dort gewesen waren: Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern, Soziologinnen und Soziologen, Journalistinnen und Journalisten.
Doch jetzt sitze ich wieder im Zug und frage mich: Wie kann das sein? Auch wenn ich weiß, dass es den meisten ähnlich geht, ist es doch schwer zu fassen, was ich gerade gesehen und gehört habe. Ich wusste, dass die Zeugen aus der rechten Szene in aller Regel behaupten, sich „an nichts erinnern“ zu können; dass sie sich die Mühe sparen, auch nur den Anschein zu erwecken, dies treffe zu; dass sie grinsen und den Angeklagten oder den anwesenden „Kameraden“ aufmunternde Blicke zuwerfen. Trotzdem bin ich schockiert von der Dreistigkeit, mit der Neonazis in einem bedeutenden Strafprozess auftreten, aber auch von der Nachsichtigkeit, mit der ihnen der vorsitzende Richter begegnet. Ich bin schockiert, obwohl es nicht das erste Gerichtsverfahren ist, das ich gesehen habe, noch nicht einmal der erste Mordprozess, bei dem Neonazis Täter sind.
Rückblick: Am 185. Verhandlungstag sind ein Zeuge und zwei Sachverständige geladen. Während die Sachverständigen später Gutachten zum Sprengsatz in der Kölner Keupstraße und die durch ihn verursachten Verletzungen vorstellen, ist mein Eindruck geprägt durch die morgendliche Vernehmung des Neonazis Berndt Tödter. Während andere Rechte bei ihren Aussagen zivil gekleidet erschienen, macht der 40-Jährige – bekleidet mit einer olivgrünen und hoch über den Springerstiefeln abgeschnitten Armeehose, T-Shirt und schwarzer Bomberjacke, eine Nassglatze tragend – schon durch seine bloße Erscheinung deutlich, wo er politisch steht. Gegenüber der Polizei hatte er ausgesagt, er könne Angaben zu einem Treffen mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt machen, das 2006 kurz vor dem Mord an Halit Yozgat in Kassel stattgefunden habe. Der vorsitzende Richter Manfred Götzl beginnt damit, dass er sagt, es gehe um Erkenntnisse und Kontakte zu Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt. Tödter unterbricht ihn sofort: „Kann ich keine Angaben zu machen“ (NSU-Watch, 2015). Götzl fragt, was das bedeuten solle. Tödter: „Das bedeutet, man hat mir gesagt, gegen mich wird ermittelt und deswegen möchte ich da keine Angaben zu machen“ (ebd.). Götzl erwidert, davon sei ihm nichts bekannt, als Zeuge stehe ihm kein Auskunftsverweigerungsrecht zu. Tödter: „Dann kann ich mich an nichts erinnern“ (ebd.).
In den folgenden zwei Stunden bleibt er mit nur geringen Variationen bei dieser Version. Selbst als er mit seinen eigenen Aussagen aus der Vergangenheit konfrontiert wird, die wörtlich dokumentiert und von ihm selbst unterschrieben sind, bleibt seine Antwort dieselbe. Besonders ernst scheint er das Gericht nicht zu nehmen. Über die Frage beispielsweise, zu welchem Termin eine Geburtstagsparty stattgefunden habe, macht er sich lustig: „Am Geburtstag natürlich“, gibt er zur Antwort, denn das sei ja wohl der Tag am dem man feiere. Auf Nachfrage des vorsitzenden Richters, in welchem Jahr das gewesen sei, belehrt ihn der Zeuge, dass man in jedem Jahr Geburtstag habe. Als der Richter nachhakt, dass aber nicht jeder Geburtstag mit einer Party gefeiert werde, erklärt der Zeuge geradezu bockig, dass das bei ihnen anders sei.
Es gibt Momente, in denen der Zeuge so dreist auftritt und in denen er sich trotz der Spärlichkeit seiner Aussagen so sehr in Widersprüche verwickelt, dass Presse und Publikum verhalten lachen. Derweil fläzt sich der Zeuge selbstgefällig in seinem Stuhl; sein Begleiter, ein etwa 20-jähriger Mann, der sich in seiner äußeren Erscheinung ebenso unmissverständlich als Neonazi zu erkennen gibt und der schräg hinter mir Platz genommen hat, amüsiert sich köstlich. Doch der Richter verzichtet während der gesamten Anhörung darauf, den Zeugen zu einem gebührlichen Verhalten zu ermahnen. Er beschränkt sich auf Nachfragen, während die Staatsanwaltschaft sogar ganz ohne Rückfragen auskommt. Auch wenn dieser Zeuge schon mehrere Haftstrafen abgebüßt hat und sich offensichtlich fernab der geltenden Normen verortet, erschreckt diese Passivität.
Verfahrensführung
Man braucht kein intimer Kenner des deutschen Justizsystems zu sein, um zu wissen, dass Richter üblicherweise ausgesprochenen Wert auf die Einhaltung der geltenden Regeln legen. Dazu gehört, dass dem Gericht Achtung oder zumindest Respekt entgegengebracht wird. Wer das überprüfen möchte, braucht lediglich einen beliebigen Strafprozess gegen junge Erwachsene – angeklagt etwa wegen Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung oder Betäubungsmitteldelikten – zu besuchen. Natürlich kommt es vor, dass Angeklagte und Zeugen dem Gericht offen ihre Geringschätzung zeigen, dass sie die Situation nicht ernst nehmen, sich zu Verhandlungsbeginn nicht erheben oder ihre Basecaps erst nach Ermahnung durch den Richter abnehmen. Doch es ist nur eine Frage von Minuten, bis das Gericht ihnen ihre Grenzen aufgezeigt. Denn im Sinne einer ordnungsgemäßen Verfahrensdurchführung kann ungebührliches Verhalten geahndet werden. Dazu kann das Gericht auf verschiedene Mittel zurückgreifen, zum Beispiel auf Ordnungsgelder oder sogar Ordnungshaft gegen Prozessbeteiligte. Auch in Verfahren im Kontext von Terrorismus werden diese Mittel eingesetzt, beispielsweise gegen junge Islamisten.
Doch im NSU-Prozess ist das anders: Obwohl Zeugen aus der extremen Rechten zahlreiche Gründe für den Einsatz von Ordnungsmitteln liefern, wird ihnen Nachsicht zuteil. So drängt sich der Eindruck auf, dass dieses bedeutende Strafverfahren nicht ernst genommen, dass es – schlimmer noch – ad absurdum geführt wird. Würde der Richter nach den bisherigen fast 300 Verhandlungstagen und unzähligen „Erinnerungslücken“ von Zeugen – nicht nur aus der rechten Szene, sondern auch der Behörden – die Überzeugung verlieren, das Verfahren könne neue Erkenntnisse bringen, wäre das nicht überraschend, doch erklärte es nicht, warum er die Gestaltung der Verhandlung teilweise aus der Hand gibt, statt den Rahmen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln vorzugeben.
In Gerichtsverfahren werden Zeugen befragt, weil man sich von ihnen wichtige Hinweise und Aussagen verspricht. Doch wenn Zeugenauftritte wie der beschriebene, den regelmäßige Prozessbeobachter als Regelfall und nicht als Ausnahme bezeichnen, einfach toleriert werden, beschädigt das die Ernsthaftigkeit des Verfahrens, die Glaubwürdigkeit des Gerichts und damit letzten Endes den Rechtsstaat selbst.
Warum, so frage ich mich, lässt das Gericht seine eigene Demontage zu? Verweigern Zeugen die Aussage, gibt es unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit, sie in sogenannte Erzwingungshaft zu nehmen, mit der sie unter Druck gesetzt werden, ihre Aussage zu machen. Ein Blick in die bundesrepublikanische Rechtsgeschichte zeigt uns, dass in Terrorismusverfahren häufig von diesem Ordnungsmittel Gebrauch gemacht wurde, nicht nur in der Hochzeit des linken Terrorismus in den 1970er- und 1980er-Jahren, sondern auch in der jüngeren Vergangenheit. Erinnert sei hier an den Fall einer 59-jährigen Zeugin, die 2013 vor dem Frankfurter Landgericht in Erzwingungshaft genommen wurde, weil sie im Verfahren um den Anschlag auf die OPEC im Jahr 1975 in Wien die Aussage verweigert hatte. Auch für weniger schwere Straftaten wurde dieses Ordnungsmittel eingesetzt, zum Beispiel in einem Verfahren wegen Erpressung im Rocker-Milieu 2011 in Neumünster, in dem ein Zeuge wiederholt angab, sich an nichts erinnern zu können, ebenso bei einem anderen Rocker, der 2014 in Ulm die Aussage verweigerte. Im NSU-Prozess wurden in den vergangenen zwei Jahren weit mehr als 500 Zeugen gehört, über 50 von ihnen Neonazis. Bislang wurde nur einmal Erzwingungshaft angedroht, obwohl gerade die Auftritte der Zeugen aus dem extrem rechten Spektrum geprägt waren von mangelnder Aussagebereitschaft, Leugnung bisheriger Aussagen, offensichtlichen Lügen und vor allem von der Vortäuschung gravierender Erinnerungslücken, sobald es um brisante Fragen ging. Lediglich in fünf Fällen wurde wegen des Verdachts auf Meineid ermittelt.
Dass dem so ist, hat auch mit den rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun, schließlich kann das Gericht bei Sachverhalten die teilweise mehr als zehn Jahre zurückliegen kein genaues Erinnerungsvermögen voraussetzen. Hinzu kommt, dass ausgerechnet jene Zeugen aus der extremen Rechten, die dem NSU besonders nah gestanden haben dürften, selbst Beschuldigte in einem anderen Verfahren sind – und deshalb die Aussage verweigern dürfen. Trotzdem spricht vieles dafür, dass sich das Verfahren konstruktiver gestaltet hätte, wenn die Disziplin im Prozess mit mehr Nachdruck durchgesetzt worden wäre und wenn sich die Anklage stärker an den Zeugenbefragungen beteiligt hätte. Der ruhige Befragungsstil trug und trägt hier keinerlei Früchte.
Das gilt nicht nur für Neonazis, sondern ebenso für Vertreter der Behörden. Das NSU-Verfahren vor dem Münchner Oberlandesgericht ist in vieler Hinsicht mit anderen Verfahren unvergleichbar. Es ist das gegenwärtig bedeutendste Strafverfahren der Bundesrepublik und eines der größten ihrer Geschichte. Angeklagte und Zeugen sitzen acht Richterinnen und Richtern sowie auf Seiten der Anklage vier Bundesanwälten gegenüber, hinzu kommen mehr als fünfzig Nebenklagevertreter; auf der Galerie beobachten Medienvertreter und Zuschauer das Verfahren, für das höchste Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. Dass dieser Rahmen die Zeugen völlig unbeeindruckt lässt, ist nicht anzunehmen, zumal weder die Taten, noch das im Raum stehende Strafmaß Grund für die Trivialisierung von Zeugenaussagen liefern. Dass sich die geladenen Zeugen dennoch ermutigt fühlen dürfen, das Verfahren in der beschriebenen Art zu boykottieren, ist dem Umstand geschuldet, dass das Gericht offenbar unterschätzt hat, dass Neonazis für Schwäche halten, was nicht hart und disziplinierend daherkommt. Zwar wird ähnlich dem Rockermilieu auch im Neonazismus die Legitimation der Gerichte zumeist bestritten, auch sind Gefängnisaufenthalte hier nicht selten, so dass es fraglich ist, ob harte Maßnahmen erfolgversprechend wären. Offensichtlich ist hingegen, wie der milde Umgang mit ihnen auf Zeugen aus der extremen Rechten im Münchner Prozess wirkt. Neonazis sind wie Rocker in der Regel autoritäre Charaktere, es verwundert daher nicht, dass sie sich wenig beeindruckt zeigen, wenn man sie wie Berndt Tödter gewähren lässt. In einer gemeinsamen Erklärung kritisierten denn auch 28 Anwälte und Anwältinnen der Nebenklage dieses Vorgehen scharf. Bei der Befragung von Zeugen aus der extremen Rechten werde deutlich, dass es sich unter diesen offenbar herumgesprochen habe, dass sie beim Lügen oder dem Vortäuschen von Erinnerungslücken nicht mit Sanktionen rechnen müssen, sondern dass ihnen stattdessen die Bundesanwaltschaft zur Seite springe (vgl. Hoffmann & Elberling, 2014).
Unabhängig von der Frage, was ihr Einsatz gebracht hätte, kann man autoritärer Verfahrensführung und Erzwingungshaft zwar mit gutem Grund ablehnend gegenüberstehen, aber es sollte unstrittig sein, dass in einem demokratischen Rechtsstaat nicht nur dieselben Rechte für alle gelten müssen, sondern dass auch die Verfahren vergleichbar sein sollten. Gerade im Kontext des NSU, in dem schon die Ermittlungen der Polizei gegen Angehörige der Opfer kein gutes Licht auf die Arbeit der Behörden warfen, sollte das Gericht bestrebt sein, nicht den Eindruck zu erwecken, es werde hier mit zweierlei Maß gemessen.
Auch der Umgang mit dem Verhalten der Angeklagten wirft Fragen auf. Ich war vorbereitet, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten selbstbewusst und ohne Schuldgefühle auftreten würden und doch irritiert mich ihre ostentative Gleichgültigkeit gegenüber der Verhandlung. Es ist augenfällig, wie sehr sich das Gericht daran gewöhnt zu haben scheint, dass sich ein Angeklagter mit seinem Mobiltelefon oder Laptop beschäftigt, ohne auch nur den Eindruck zu erwecken zu wollen, er folge der Sitzung. Man könnte anmerken, dass es nichts am Verfahrensausgang ändern würde, wenn das Gericht dies bemängeln, wenn es von den Angeklagten fordern würde, sich mit den Folgen ihres Handelns auseinanderzusetzen, wie es in anderen Strafverfahren Gang und Gäbe ist; dass das Gericht keine Revisionsgründe liefern dürfe und dass sich nach so vielen Prozesstagen auch eine gewisse Gewöhnung einstellt.
Zwar dürfte der Hauptgrund sein, dass der vorsitzende Richter Manfred Götzl nach fast 300 Verhandlungstagen unbedingt ein formal nicht angreifbares Urteil erzielen will (vgl. Dömming & Pichl, 2014, S. 6). Die Strafprozessordnung setzt hier enge Grenzen, doch trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl; es stellt sich die Frage, ob diese Grenzen nicht enger interpretiert werden, als sie tatsächlich sind. Im Prozess sind auch Menschen anwesend, die Angehörige durch den NSU verloren haben oder die selbst zu Opfern hätten werden können. An besagtem 185. Prozesstag sind zwei Nebenklägerinnen anwesend, unter anderem die Mutter des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat (vgl. NSU-Watch, 2015). Wie wirkt auf sie ein Auftritt wie der des Berndt Tödter, wie wirkt auf sie, dass die Angeklagten André Eminger und Ralf Wohlleben zunächst mit Interesse den langatmigen Ausführungen des Waffenexperten zur Konstruktion der Nagelbombe aus der Kölner Keupstraße folgen, um dann demonstrativ die rechtsmedizinischen Darstellungen der durch diese hervorgerufenen Verletzungen zu ignorieren? Schwerer als diese auch emotional begründete Kritik an der Verfahrensführung wiegt ein anderer Punkt, der seinen Ursprung in den naturgemäß unterschiedlichen Interessen der Prozessbeteiligten hat, der aber in diesem Verfahren zentral für die politische Dimension ist, die das Verfahren gewinnt.
Aufklärungsbedürfnis versus Anklagenachweis
Dass die verschiedenen Akteure in einem Strafprozess unterschiedliche Interessen verfolgen, erklärt sich von selbst. Im NSU-Prozess jedoch kommt zu den Auseinandersetzungen um die Frage, wem der Angeklagten welche der ihnen zu Last gelegten Handlungen nachgewiesen werden können, der Deutungskampf um die Auslegung der Anklageschrift hinzu. Im Strafprozess geht es primär darum, den einzelnen Beschuldigten die angeklagten Handlungen nachzuweisen. Durch diese Fokussierung auf individuelle Taten trennt das Strafrecht einzelne Handlungen wie eben die Morde des NSU von ihrem gesellschaftlichen Kontext (vgl. Dömming & Pichl 2014, S. 6). Für die Nebenkläger und Nebenklägerinnen darf sich das Verfahren aber nicht in der Beantwortung etwa der Frage, ob Beate Zschäpe der Mittäterschaft bei den Morden des NSU schuldig ist, erschöpfen. Viele der Opfer des NSU und deren Angehörige fragen sich, ob die Gruppe größer war, ob sie lokale Unterstützer gehabt hat und ob V-Leute in die Taten verwickelt waren oder von ihnen Kenntnis hatten (vgl. Daimagüler & Pyka 2014, S. 143).
Dieser Hauptwiderspruch, welcher fast allen Konflikten zwischen den verschiedenen Verfahrensbeteiligten, vor allem aber jenen zwischen der Nebenklage auf der einen Seite und dem Gericht, der Bundesanwaltschaft und der Verteidigung auf der anderen Seite zugrunde liegt, betrifft vor allem die Frage, ob sich der Prozess auf die Taten und Tatbeiträge der einzelnen Angeklagten beschränken muss, oder ob darüber hinaus auch das Unterstützungsnetzwerk und die Strukturen, in die Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe und die weiteren vier Beschuldigten eingebunden waren, Gegenstand des Verfahrens zu sein haben. Im Prozess wird die schon in der Rechtsform angelegte Entpolitisierung noch verstärkt durch die Prozessstrategien einzelner Verfahrensbeteiligter. Es verwundert nicht, dass es häufig die Verteidiger und Verteidigerinnen Beate Zschäpes und Ralf Wohllebens sind, die kontinuierlich auf verfahrensrechtliche Fragen wie etwa die Zulässigkeit bestimmter Formulierungen abstellen und so vermeintliche Zwänge der Rechtsform so lange instrumentalisieren, dass größere politische Zusammenhänge kaum noch sinnvoll thematisiert werden können (vgl. Klinger et al., 2015, S. 88). Gravierender ist hingegen, dass die Generalbundesanwaltschaft auch nach bislang 283 Prozesstagen und den vielen neuen Erkenntnissen, die in der Zwischenzeit in Untersuchungsausschüssen, durch die Medien und im Münchner Prozess selbst gewonnen wurden, noch immer darauf beharrt, dass der NSU lediglich aus drei Personen und wenigen Helfern bestanden habe. Alle Fragen, die sich nicht direkt auf Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt und die vier weiteren Angeklagten beziehen, werden von ihr zurückgewiesen (vgl. Daimagüler & Pyka, 2014, S. 143). Interessiert sich die Nebenklage etwa für die Kontakte von rechten Zeugen oder Strukturen wie Blood & Honour, so interveniert Bundesanwalt Diemer und erklärt unter Verweis auf das Beschleunigungsgebot, das habe nichts mit den fünf Angeklagten zu tun (vgl. Hansen, 2014). Offenbar ist man bestrebt, sich im Strafprozess auf dessen Kern und den Nachweis der den fünf Angeklagten zur Last gelegten Taten zu beschränken und die hinter den Taten stehende Ideologie, das neonazistische Netzwerk, in dem sich die Täter bewegten, ebenso auszublenden wie die staatliche Verstrickung, etwa durch V-Leute der Verfassungsschutzbehörden oder das Vernichten von Akten.
Das Gericht folgt diesem Vorgehen, was sich vor allem in der Beschränkung auf die von der Anklageseite in das Verfahren eingebrachten Beweismittel zeigt. Von der Möglichkeit, eigenständig weitere Beweismittel in das Verfahren einzuführen, macht das Gericht keinen Gebrauch. Die Bundesanwaltschaft hat seit Prozessbeginn keine neuen Beweise eingebracht. Versuche der Nebenklage, weitere Akten, deren Existenz zum Teil erst durch die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse bekannt geworden ist, hinzuzuziehen, neue Zeugen zu laden oder weitere Gutachten einzubringen, werden von der Bundesanwaltschaft und mit zunehmender Verfahrensdauer auch durch den vorsitzenden Richter in der Regel abgelehnt. Zwar geht ein Teil dieser Anträge über das Strafverfahren hinaus, doch bleibt der Nebenklage nichts anderes übrig, als Hypothesen etwa in Hinblick auf weitere Unterstützerinnen und Unterstützer im Prozess zu überprüfen, da sich die Bundesanwaltschaft bislang zu entsprechenden Ermittlungen des BKA bedeckt hält. Dadurch bleiben Fragen zu den weiteren Unterstützern ungeklärt, aber auch so prozessrelevante Fragen wie die, auf welche Weise und aus welchen Gründen Mordopfer und Tatorte ausgewählt wurden. Der Nebenklage bliebe dann nur die vage Hoffnung, dass es zu einem späteren Zeitpunkt weitere Ermittlungsergebnisse und Verfahren gegen die noch unbekannten mutmaßlichen Unterstützer geben könnte.
Dieser Konflikt, der sich durch das gesamte Verfahren zieht, wurde besonders deutlich im April und Mai 2016 im Zusammenhang mit dem V-Mann Ralf Marschner. Dieser soll Medienberichten zufolge Mundlos und Zschäpe während ihrer Zeit im Untergrund in seinen Firmen beschäftigt haben. Zudem hatte seine Baufirma oft Mietwagen bei jenem Zwickauer Autovermieter geliehen, bei dem Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe unter Vorlage falscher Pässe Tatfahrzeuge für Banküberfälle und Morde angemietet hatten. Unter anderem hatte Marschner-Bau sowohl am Tag der Ermordung von Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg 2001 als auch am Tag Ermordung von Habil Kılıç in München 2001 dort Fahrzeuge gemietet. Trotzdem lehnte Bundesanwalt Herbert Diemer die Ladung des V-Manns mit dem Argument ab, selbst wenn Marschner die Angeklagten gekannt und beschäftigt habe, sei dies ohne Einfluss auf die Frage, ob diese die ihnen in München zur Last gelegten Taten begangen hätten. Eine mögliche Mithilfe des V-Manns zu klären, zähle nicht zu den Aufgaben des NSU-Prozesses (vgl. Ramelsberger, 2016a). Einzelne Vertreter der Nebenkläger und Nebenklägerinnen sprechen angesichts dessen bereits von der „Aufkündigung des Aufklärungsversprechens“ (Hoffmann & Elberling, 2016).
Gericht und Bundesanwaltschaft begründen ihre Position in der Regel damit, das Verfahren nicht unnötig in die Länge ziehen zu wollen. Sie beziehen sich dabei auf das Beschleunigungsgebot, das Beschuldigte davor schützen soll, dass ihre Verfahren in unzulässiger Weise verschleppt werden. Im NSU-Prozess wird es jedoch nicht nur durch die Verteidigerinnen und Verteidiger, sondern auch durch die Bundesanwaltschaft und die Richter als Vorwand genutzt, die Legitimation des Aufklärungsinteresses der Nebenklage in Zweifel zu ziehen. Dabei darf durch den Vorwurf einer Verfahrensverzögerung nicht eine vollständige Wahrheitsfindung verdrängt werden (vgl. Daimagüler & Pyka, 2014, S. 144). Tatsächlich sind Beweisanträge, die Licht in noch ungeklärte Sachverhalte bringen könnten, von der Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts abgedeckt, doch wenn das Gericht allein die möglichst effiziente Abarbeitung der bereits bekannten Sachverhalte als Ziel des Verfahrens interpretiert, kommt die Wahrheitssuche ins Stocken (ebd., S. 143). Dabei lässt sich durchaus auch rechtlich begründen, dass sich das Strafverfahren nicht in einer technokratischen Anwendung und Umsetzung des materiellen Strafrechts – der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs – erschöpfen darf und die Herstellung von Rechtsfrieden nicht allein durch einen rechtskräftigen Verfahrensabschluss erreicht werden kann, sondern im Sinne einer umfassenden Gerechtigkeit durch Wiederherstellung des Rechts (ebd.). Das Wahrheitserforschungsinteresse im Strafverfahren ist auch ein Interesse der Allgemeinheit, richtet sich doch der Strafprozess nicht nur an die einzelnen Prozessbeteiligten, sondern auch an die Allgemeinheit: Zu den zentralen Funktionen des Strafrechts gehört es, dass die Rechtssprechung in die Rechtsgemeinschaft der Bürger hineinwirkt, weswegen die Strafverfahren auch öffentlich sind (ebd., S. 144).
Fazit
Nicht zufällig wird der NSU-Prozess von manchem Beobachter mit den Frankfurter Auschwitzprozessen verglichen. In diesen gelang es dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zwar nicht, seinen Anspruch auf eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung einzulösen, aber doch das öffentliche Bewusstsein der Bundesrepublik nachhaltig zu verändern. Im NSU-Prozess hingegen ist die Herstellung des Rechtsfriedens durch das Wirken in die Öffentlichkeit bedroht, wenn es nicht gelingt, die weitverbreiteten Zweifel auszuräumen und die zahlreichen Unklarheiten zu erhellen (vgl. Daimagüler & Pyka, 2014, S. 144). Bereits jetzt erklären einzelne Angehörige der NSU-Opfer, sie glauben nicht mehr daran, dass in diesem Prozess nach der Wahrheit gesucht werde (vgl. Ramelsberger, 2016b). Während Bauer betonte, dass der Nationalsozialismus kein Betriebsunfall gewesen sei und die juristische Bearbeitung von Verbrechen deren politische Dimension nicht ausblenden dürfe (vgl. Pendas, 2013), versucht die heutige Bundesanwaltschaft kontinuierlich, das Verfahren zu entpolitisieren.
Damit wird die Chance vertan, die juristische Aufarbeitung des NSU über ihre rein strafrechtliche Dimension hinaus zu nutzen, um eine breite gesellschaftliche Debatte über die politischen Ursachen des NSU und deren politische und rechtsstaatliche Konsequenzen anzustoßen. Die aktuelle Diskussion um Flucht und Migration, die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder die Debatten um eine Verschärfung der Asylgesetzgebung weisen deutliche Parallelen zur Situation in den 1990er-Jahren auf, also zu der Zeit, in der Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt und viele ihrer Unterstützer ihre politische Sozialisation durchliefen. Verstrickungen von V-Leuten in rechtsterroristische Strukturen finden sich auch heute, verwiesen sei hier beispielsweise auf den Neonazi Sebastian Seemann (vgl. NSU-Watch NRW, 2016). Doch diese Zusammenhänge werden in der Öffentlichkeit nicht diskutiert – die Verbrechen des NSU werden vielmehr als Vergangenes thematisiert.
Ralph Giordano prägte – bezogen auf die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere des Holocaust – den Begriff der „zweiten Schuld“ (Giordano, 2000). Nach dem ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages zum NSU waren sich Vertreter aller beteiligten Parteien einig, dass angesichts des Versagens der Behörden, die Verbrechen des NSU zu verhindern, von Staatsversagen zu sprechen sei. In Hinblick auf die Aufarbeitung des NSU müssen wir achtgeben, uns nicht eines „zweiten Staatsversagens“ schuldig zu machen.
Literatur
Daimagüler, M. G. & Pyka, A. (2014). Politisierung im NSU-Prozess. Unnötige Verfahrensverzögerung oder umfassende Aufklärung?, Zeitschrift für Rechtspolitik, 5/2014, 143–145.
Dömming, E. v. & Pichl, M. (2014). Der Prozess gegen den NSU. Ein Verfahren ohne Aufklärung, In Forum Recht, 1/2014, 5–9.
Giordano, R. (2000). Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Hansen, F. (2014). Nicht das „jüngste Gericht“. NSU-Prozess-Update: Bundesanwaltschaft verhindert Aufklärung, Lotta, 55, online unter: https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/55/nicht-das-j-ngste-gericht (11.05.2016).
Hoffmann, A. & Elberling, B. (2014). Presseerklärung von einigen VertreterInnen der Nebenklage im NSU-Prozess – „Wir sind hier nicht vor dem Jüngsten Gericht!“, Die Bundesanwaltschaft verhindert erneut kritische Befragung von Nazizeugen, 20.03.2014, online unter: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2014/03/20/20-03-2014-presseerklaerung/ (21.03.2014).
Hoffmann, A. & Elberling, B. (2016). Aufkündigung des Aufklärungsversprechens durch die Bundesanwaltschaft, 20.04.2016, online unter: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2016/04/20/20-04-2016/#more-1484 (25.04.2016).
Klinger, L., Schoenes, K. & Sperling, M. (2015). „Das ist strafprozessual nicht in Ordnung!“ Der NSU-Prozess zwischen Beschleunigungsgebot und Aufklärungsinteresse, In Friedrich, S., Wamper, R. & Zimmermann, J. (Hrsg.), Der NSU in bester Gesellschaft. Zischen Neonazismus, Rassismus und Staat (S. 82–92). Münster: Unrast.
NSU-Watch (2015). Protokoll 185. Verhandlungstag – 11. Februar 2015, online unter: https://www.nsu-watch.info/2015/02/protokoll-185-verhandlungstag-11-februar-2015/ (08.11.2015).
NSU-Watch NRW (2016). Der Skandal um den V-Mann Sebastian Seemann, 21.01.2016, online unter: http://nrw.nsu-watch.info/der-skandal-um-den-v-mann-sebastian-seemann/ (12.04.2016).
Pendas, D. O. (2013). Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht. München: Siedler.
Pinar, G. (2014). Zschäpe ist keine naive Nazibraut. Die Welt, 01.04.2014, online unter: http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article126420340/Zschaepe-ist-keine-naive-Nazi-Braut.html (08.11.2015).
Ramelsberger, A. (2016a). Richter im NSU-Prozess machen Tempo. Sueddeutsche.de, 11.05.2016, online unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-richter-im-nsu-prozess-machen-tempo-1.2990465 (11.05.2016).
Ramelsberger, A. (2016b). Streit im NSU-Prozess: „Was wollen Sie schützen?“ Sueddeutsche.de, 20.04.2016, online unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/muenchen-streit-im-nsu-prozess-was-wollen-sie-schuetzen-1.2958468 (20.04.2016).
Stolle, P. (2014). So ist es auf jeden Fall nicht gewesen. Eine Zwischenbilanz des NSU-Prozesses aus Sicht der Nebenklage. Analyse und Kritik, 600, online unter: https://www.akweb.de/ak_s/ak600/21.htm (8.11.2015).
Erstveröffentlicht in: O. Decker, J. Kiess, E. Brähler (Hrsg.). Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger »Mitte«-Studie 2016 (S. 223–234). Gießen: Psychosozial-Verlag © Psychosozial-Verlag, Gießen 2016.