Reihe: Ortstermin von Johannes Müller-Viezens
Der NSU-Prozess in München wird wahrscheinlich zu denjenigen Ereignissen zählen, an denen die Geschichte unsere Gesellschaft messen wird. Vor allem liegt das darin begründet, dass es wahrscheinlich niemanden in Deutschland geben dürfte, den die Vorgänge in München nicht in irgendeiner Weise angehen. Hinter jedem Prozessbeteiligten steht eine Geschichte. Manche dieser Geschichten sind traurig und machen betroffen, wie die von Halit Yozgat. Andere machen wütend. Hierzu zählen vor allem die nicht erzählten Geschichten der Angeklagten, die man lediglich aus den Beweisanträgen zusammenpuzzlen kann. Wiederum andere reichen hin, Alpträume zu verursachen. Jedoch gibt es auch solche, die Hoffnung machen – vor allem die durch den unermüdlichen Einsatz des aktiven Teils der Nebenklage in den Prozess eingebrachte und eingeforderte gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen. Mein eigenes Interesse am Prozess rührt vor allem aus dieser gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Prozesses. Ich halte es für ein Privileg, in einem Staat zu leben, der es der Zivilgesellschaft ermöglicht, sich vor Ort ein Bild von den Vorgängen zu machen. Besonders absonderlich und zwiespältig erscheint mir indes bis heute die Geschichte um die sogenannte Initialverteidigung Zschäpe. Dazu aber später mehr.
Hat man die Sicherheitskontrollen im Strafjustizzentrum München hinter sich gelassen, steigt man eine Treppe zur Beobachterempore hinauf. Hier hat man das erste Mal den Eindruck, in eine entrückte Welt aufzusteigen, die irgendwie außerhalb des Alltäglichen liegt. Danach betritt man die Besucherempore, die in gewisser Weise über dem Prozess schwebt. Wer hier sitzt, kann den Beteiligten buchstäblich auf die Finger schauen. Neben mir sitzen Pressevertreter_innen, ehrenamtliche Beobachter_innen, Interessierte, Studierende, aber auch Künstler_innen und Kulturschaffende. Allerdings besteht auch durchaus die Möglichkeit, mich neben absonderlichen Erscheinungen oder unverkennbaren Neonazis zu finden. Die Angeklagten geben sich ungeniert: Wohlleben betritt den Saal – in der Hand hält er einen Stoffbeutel im hipsteresken Stil. Darauf zu sehen ist die „Skyline“ der Weltstadt Jena. Die Verhandlungen selbst erwecken den Eindruck einer durchgetakteten Inszenierung, bei der selbst das Zuspätkommen einzelner Beteiligter zum Text gehört. Heute: Aufzug 362: Auftritt Dr. Faustmann. Kein Text. Stattdessen wird es einen Streit zwischen Verteidigung, Bundesanwaltschaft und Senat zu sehen geben.
Nun, tatsächlich scheint das Sich-Streiten gängiger Bestandteil des NSU-Prozesses zu sein, wie Beobachter_innen im Pausenraum zur Genüge berichten können. Vor allem in letzter Zeit, da die geplante Prozessdauer schon längst überschritten ist, aber noch immer kein offizielles Prozessende festgesetzt wurde. Gerade eben im Gerichtssaal wurden wir Zeug_innen, wie der Zschäpe-Anwalt Heer sich minutenlang darüber echauffiert, dass die Bundesanwaltschaft ihre Stellungnahmen nicht sofort und schon im Voraus verschriftlicht einreicht. Dies zieht wiederum eine mehrstündige Verzögerung nach sich. Natürlich ist sich Wolfgang Heer dabei nicht zu fein, dem Senat unfaire Behandlung vorzuwerfen. Das Ganze wirkt ein wenig weinerlich. Letztendlich fallen sich die Beteiligten gegenseitig ins Wort. Aus Andeutungen werden Vorwürfe. Die Gesprächslautstärke nimmt signifikant zu. Der Streit springt wie ein Ping-Pong-Ball durch den Saal bis der Vorsitzende Richter Götzl die Geduld verliert. Dabei wirkt sein Auftreten alles andere als souverän. Richter Götzl möchte gern die strenge Vaterfigur sein, ist jedoch zu wütend und aufbrausend, um seinen Kindern Manieren beizubringen. Er ist kein donnernder Zeus, der mit seiner gewaltigen Stimme Ordnung schafft. Ein Schelm, wer den Verteidiger_innen – auf deren Gequengel hin der Streit überhaupt erst losbrach – hier Kalkül unterstellt. Jedenfalls wird all das wohl, sollte es zu einer Revision kommen, in irgendeiner Art und Weise eine Rolle spielen. In der Rhetorik würde man hier von Eristik oder „eristischen Strukturen“ sprechen.
Eris, das ist die griechische Göttin des Streits. Sie taucht überall da auf, wo es gilt, eine Position mit allen Mitteln durchzusetzen, auch dann noch, wenn die eigentliche Debatte längst verloren ist. Bei Platon, welcher das Ideal der Wahrheit über alles stellt, ist die Eristik unbeliebt, da er ihr keine Aussagekraft über die Wahrheit zugesteht. Andere sehen in ihr ein notwendiges Übel oder beschreiben sie mit einem gewissen ironischen Augenzwinkern. Dass Eris häufig in Gerichtssäle einzieht, scheint wenig verwunderlich, denn es ist die rechtsstaatliche Aufgabe von Anwält_innen, den Standpunkt ihrer Mandant_innen unabhängig von Tat und Schuld zu verteidigen. Auch dann, wenn eine erfolgreiche Verteidigung eigentlich unmöglich erscheint. Dafür gilt es dennoch alle Mittel aufzubieten, die die Prozessordung zulässt. So wird aus einer offenen Debatte schnell eine Auseinandersetzung. Dass ein Streit nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt, ist im engeren Sinne sicher richtig, aus einem weiteren Blickwinkel scheint er jedoch manchmal etwas zu offenbaren, was zuvor noch unsichtbar blieb.
Dass die Verteidigung der Anwälte Heer, Stahl und Sturm als gescheitert bezeichnet werden kann, sollte seit dem misslungenen Versuch Zschäpes, ihnen ihr Mandat zu entziehen, offensichtlich sein. Schon in einem Artikel von 2013 erkannte Georg M. Oswald in der „Welt“ eine gewisse, wenn auch nicht ganz eindeutige Instrumentalisierung der Anwälte durch Zschäpe. Nun bangen eben jene Anwälte nicht nur um den Ausgang eines Prozesses, den sie mit offensichtlich opportunistischem Interesse angetreten haben, sondern auch um ihre Karrieren, die zwangsläufig mit dem Ausgang des Prozesses verbunden sind. Am Ende wird es relevant sein, wie ihre Verteidigungsstrategie – im Gegensatz zur Strategie von Beate Zschäpes zwei neuen Verteidigern – gewertet werden wird. Allzu viele Möglichkeiten, die Zügel noch herumzureißen, bleiben den Dreien wohl nicht mehr. In der Zwischenzeit ist die Initialverteidigung Zschäpes gezwungen, zu einem gewissen Teil mit bekannten Szeneanwält_innen der rechtsradikalen Szene zusammenzuarbeiten oder zumindest die Anklagebank mit ihnen zu drücken. Details zu der rechten oder gar neonazistischen Vergangenheit der Verteidiger von Wohlleben haben mittlerweile sogar Eingang in Wikipedia gefunden. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass es eben jene Anwälte waren, die ernsthaft einen Antrag stellten, einen Demographen zum Thema „Volkstod“ zu befragen. Der Spiegel berichtete darüber. Allerdings gehören auch Verschwörungstheorien zum Repertoire der gängigen Beweisanträge der Anwälte Wohllebens. Bei der unverhohlen propagandistischen Absicht dieser Anträge muss die Frage erlaubt sein, inwieweit eine rechtsstaatliche Instanz dies tolerieren kann.
Es offenbart sich ein tiefschürfender zivilgesellschaftlicher und rechtsstaatlicher Konflikt: Wie soll der Staat und seine Bürger unter der Prämisse, den eigenen Prinzipien des Rechtsstaats treu zu bleiben, mit Neonazis und deren Drang zur Instrumentalisierung von Institutionen umgehen? Wie kann verhindert werden, dass ein rechtsstaatliches Instrument für Propaganda missbraucht wird? Vier der fünf Angeklagten jedenfalls schweigen zu den gegen sie vorgebrachten Anklagen. Dies ist nach deutschem Recht auch ihr Recht und ein Privileg im Rechtsstaat. Von daher darf wegen ihres Schweigens kein Schluss auf ihre Schuld gezogen werden. Doch wie sehen die Konsequenzen eines Schuldspruchs aus und ist ihr Schweigen ein Zeichen für mangelnde Kooperationsbereitschaft mit dem Rechtsstaat? Eines ist mir in München jedenfalls bewusst geworden: Es ist naiv zu glauben, ein Urteil könne hier einen Abschluss bilden. Viel eher bildet ein Urteil erst einmal den Anfang für die Aufarbeitung des Prozesses. Vielleicht ist es auch ebenso naiv, einen solchen Abschluss überhaupt von einem Gericht zu erwarten. Letztendlich muss man sich doch fragen: Wie konnte es überhaupt erst so weit kommen? Und zur Beantwortung dieser Frage braucht es vor allem zivilgesellschaftliches Engagement.
Jene Gedanken sind es, die mich den Saal mit einem mulmigen Gefühl verlassen lassen. Nur zwei der fünf Angeklagten sind in Untersuchungshaft. Den anderen dreien könnte man in der U-Bahn auf dem Weg zum Gerichtsgebäude oder zurück begegnen. Auch der wenig souverän wirkende Eindruck, den die Vertreter_innen der Justiz im Umgang mit mutmaßlichen rechtsradikalen Terrorist_innen machen, wirkte in mir nach. Die Einsicht, dass es eben eine Zivilgesellschaft braucht und brauchen wird, die hinsieht und aktiv an der Aufarbeitung des Prozesses mitwirkt, bringt meine Motivation, die mich dazu brachte, in die Nymphenburgerstraße zu gehen, wieder hervor. Eine Frage bleibt mir allerdings stets unbeantwortet, eine Frage, die sich jede_r stellen sollte: Was hat der NSU-Prozess im Münchener Justizzentrum eigentlich mit mir selbst zu tun? Wie betrifft mich, was in München verhandelt wird? Die Zivilgesellschaft, dass sind wir alle. Der NSU-Prozess wird auch nach seinem (bisher noch nicht absehbaren) Ende nachwirken. Es liegt an uns, zu gestalten, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Soll es also eine sein, die ignoriert, was in ihrer Mitte geschieht, oder eine, die sich dem stellt?
Links zu den Artikeln:
https://www.welt.de/kultur/article115910804/Der-martialische-Klang-von-Heer-Sturm-und-Stahl.html
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-verteidiger-von-ralf-wohlleben-sorgt-fuer-eklat-a-1131729.html