Kurz-Protokoll 377. Verhandlungstag – 27. Juli 2017

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Am heutigen dritten Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft trug Oberstaatsanwältin Anette Greger in sechs wieder etwa dreiviertelstündigen Blöcken die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der obersten Verfolgungsbehörde vor. Dabei ging es um die politischen Hintergründe der Gruppe und die Bedeutung des Bekennervideos, dann vollzog sie im Plädoyer die Mordanschläge des NSU und dessen Bombenanschläge nach und ging auch auf die Zerstörung des letzten Unterschlupfs des NSU in der Zwickauer Frühlingsstraße ein.

Doch zunächst ging es um den Slogan „Taten statt Worte“, dem der NSU bis zu seiner „Auflösung“ konsequent folgte. Erst mit dem Bekennervideo sollte die Öffentlichkeit über die Urheberschaft der Verbrechen informiert werden. Dass Beate Zschäpe von den aufwändigen Videoarbeiten nichts mitbekommen haben will sei, so Greger, fernliegend. Sie sei mit der Archivierung von Zeitungsausschnitten und der Dokumentation des Terrors betraut gewesen. Einzelne Zeitungsschnipsel trügen Fingerspuren der Angeklagten. Dass sie am Ende gedacht haben will, die Bekennervideos würden sich auf die Banküberfälle des NSU beziehen, sei noch abwegiger, so Greger. Ebenso Zschäpes Behauptung sie habe von den Taten immer erst im Nachhinein erfahren und Artikel nur zur Information gelesen: Allein die TV-Berichte zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße seien nicht mobil von den Tätern mitgeschnitten worden, sondern seien live und manuell in der Zwickauer Polenzstraße von der Angeklagten aufgenommen worden. Auch gebe es eine in einer Datei auf Zschäpes Rechner dokumentierte Wette der drei, in welcher es um Gewichtsabnahme gegangen sei und „Liese“ (Zschäpe), „Killer“ und „Cleaner“ (Mundlos und Böhnhardt) wetten, dass sie bis zu einem bestimmten Datum ein bestimmtes Gewicht erreicht haben wollen, widrigenfalls sie 200 Videoschnitte zu tätigen hätten. Die Beweisaufnahme und Asservatenauswertung habe eindeutig ergeben, dass es sich dabei nicht etwa um das Herausschneiden von Werbeblöcken aus TV-Serien gegangen sei, wie Zschäpe behauptet, sondern um den Schnitt des Paulchen-Panther-Bekennervideos. Diese Erwägungen sind der BAW nur durch die akribische Recherchearbeit einzelner Nebenklagevertreter zu technischen Voraussetzungen und zur Entschlüsselung der Wette überhaupt möglich.

Greger beschrieb ausführlich das erhaltene Drehbuch zum Video und die verschiedenen Schnittfassungen des Bekennervideos und zitierte daraus die Passage „Der NSU ist ein Netzwerk von Kameraden…“ – ohne dass ihr der offensichtliche Widerspruch zur Kernthese der BAW aufgefallen wäre, der NSU sei im Wesentlichen ein „isoliertes Trio“ gewesen. Die Videos seien für den Tag des Endes des NSU in der Wohnung und im letzten Wohnmobil der beiden Männer verpackt, adressiert und frankiert bereitgehalten worden, um dann am 04.11. von Beate Zschäpe – wie vereinbart – versandt bzw. im ausgebrannten Wohnmobil gefunden zu werden.
Zschäpe sei eines der drei Gründungsmitglieder der terroristischen Vereinigung NSU und keine bloße Mitläuferin; sie sei auch nicht durch staatlichen Verfolgungsdruck zum Leben im Untergrund gezwungen gewesen, sie hätte sich jederzeit stellen können, da bis September 1998 noch keine Straftaten begangen waren. Sie habe den Entschluss zu einem Leben im Untergrund und für den Weg in den Terror freiwillig und ganz bewusst getroffen, so Greger. Bei ihrer Festnahme stellte Zschäpe selbst fest, sie sei zu nichts gezwungen worden. Bei ihrer Aufgabe der Verschleierung und Legendierung der Gruppe sei sie weit über das Notwendige hinausgegangen. Immer und immer wieder arbeitete Greger die angeblich exklusive Dreierkonstellation des NSU heraus, um stoisch die fragwürdige Grundthese der BAW zu unterstützen.

„Meine Überschrift lautet ‚Verblendung’“, so führte die Oberstaatsanwältin in den Komplex der Mordanschläge des NSU ein. Sie gab den einzelnen Hinrichtungen der Ceska-Mordserie viel Raum und referierte ausführlich ihre Sicht auf die prozessuale Beweisaufnahme. Zwar ging sie chronologisch und quälend detailliert auf die Tötung und tödlichen Verletzungen von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat ein, zumindest an diesem Tag jedoch kaum auf die Folgen der Morde für die Familien der Opfer, geschweige denn auf die rassistische Ermittlungsarbeit der Behörden. Aus Sicht der BAW war Andreas Temme, Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, bei der Hinrichtung Yozgats natürlich nur „zufällig anwesend“ und, wie es der Zufall will, war er auch der einzige der anwesenden fünf Kund_innen, der auch keine Schüsse oder überhaupt irgendetwas wahrgenommen haben will. An dieser Stelle leistete sich die Plädierende für diesen Tag den heftigsten Ausfall, indem sie Nebenklageverteter_innen beleidigende und haltlose Vorwürfe machte: „Eine Existenz von rechten Hintermännern an den Tatorten, die einige Rechtsanwälte ihren Mandanten offensichtlich versprochen hatten, hat sich bislang weder in den seit sechs Jahren laufenden Ermittlungen und der Hinweisbearbeitung, noch in der 360-tägigen Beweisaufnahme, wo wieder jedem Hinweise darauf nachgegangen wurde – und ich erinnere an die dramaturgische Inszenierung der Zeugin von A. –, noch in den breit angelegten Beweiserhebungen der zahlreichen Untersuchungsausschüsse bewahrheitet.“ Dieser Affront trug ihr zeitnah eine geharnischte Replik von Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer ein (siehe Link unten), zumal der Hinweis auf die Untersuchungsausschüsse schlicht unrichtig ist: Der Bundestagsuntersuchungsausschuss hatte hier mangelnde Ermittlungen ausdrücklich moniert und geht selbst von einem Unterstützungsnetzwerk des NSU aus.

Im nächsten Block erörterte Greger detailliert und umfassend die Sprengstoffanschläge des NSU in der Nürnberger Scheuerlstraße 1999, der nicht Teil der Anklage ist, in der Kölner Probsteigasse 2001, bei dem die 19-jährige Tochter der Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes sich lebensgefährliche Verletzungen bei der Explosion der Stollendosenbombe zuzog und den brutale Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004. Auch hier, insbesondere im Kontext der Probsteigasse, vermied es Greger stur, mögliche Helfer des NSU an den Anschlagsorten überhaupt in Erwägung zu ziehen. Dass Vater und Schwester des Attentatsopfers einen Mann als Täter beschrieben hatten, der einem V-Mann des dortigen Verfassungsschutzes zum Verwechseln ähnlich sah, war Greger aus nachvollziehbaren Gründen keine Erwähnung wert. Beeindruckend waren ihre Beschreibungen der in der Keupstraße zur Explosion gebrachten Nagelbombe mit etwa 800 zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln und der potentiell tödlichen Sprengwirkung und Wucht, bei deren Explosion 23 Menschen zum Teil sehr schwer verletzt wurden. Die Zuordnung der Höllenmaschine zu den Verbrechen des NSU erfolgte ebenfalls ohne die Erwägung ortskundiger Unterstützer_innen der Täter.

Auch die bedrückende Beschreibung der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter und des Mordanschlags auf ihren Kollegen Martin A. folgte im Wesentlichen der Version der Anklageschrift und weist einmal mehr jede Beteiligung weiterer Helfer_innen vor Ort zurück, obwohl gerade im Heilbronner Fall – trotz der eindeutigen Täterschaft Mundlos‘ und Böhnhardts – viele offene Fragen nach wie vor in Richtung weiterer Mittäter weisen. Greger lapidar: „Anhaltspunkte, dass weitere Mittäter und Mitwisser vor Ort beteiligt waren, ergab die Beweisaufnahme nicht.“

Der lange Prozesstag ging mit einer ausführlichen Beschreibung und Bewertung der Zerstörung des letzten Unterschlupfs des NSU in Zwickau zu Ende. Beate Zschäpe sei bei der Brandstiftung ruhig und geordnet zu Werke gegangen und habe dabei den Tod anderer Menschen im Haus oder der Umgebung der mit einkalkulierten Explosion der Wohnung billigend in Kauf genommen, so etwa den Tod der in ihrer Mobilität eingeschränkten 89-jährigen Nachbarin. Ihre Katzen und die Bekennervideos habe sie gerettet, auf die Rettung potentiell Gefährdeter habe sie nach Meinung der BAW nicht allzu viel Energie verwendet.

Presseerklärung von Sebastian Scharmer.

Blog „NSU-Nebenklage“ zum 377. Verhandlungstag

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